Draussen wächst der Efeu, drinnen blüht die Friedensarbeit
Heute Freitag lädt der Schweizerische Friedensrat zur Vernissage eines Buches über sein Domizil, die Gartenhofstrasse 7 in Zürich. Es handelt von Leonhard und Clara Ragaz-Nadig, die dort lebten und wirkten, und von der Bedeutung des Gartenhofs für die friedenspolitische Arbeit in der Schweiz. Einer der Autoren, Friedensrats-Geschäftsleiter Peter Weishaupt, erklärt im Gespräch mit Nicole Soland, wie das Buch entstanden ist.
Das Buch «Haus Gartenhof in Zürich» haben Ina Boesch, Ruedi Brassel, Ruedi Epple und Sie gemeinsam verfasst. Weshalb gerade diese vier AutorInnen?
Peter Weishaupt: Zur Geschichte des Gartenhofs und seiner Bewohnerinnen und Besucher existierten bereits seit längerem zwei, drei Projektideen. In den 1980er-Jahren beispielsweise planten Mitglieder der religiös-sozialistischen Vereinigung, die sich bei deren Zeitschrift ‹Neue Wege› und beim Escherbund engagierten, eine «Oral History» des Gartenhofs: Sie wollten Menschen, die einst im Gartenhof ein- und ausgegangen oder dem Haus beziehungsweise seinen BewohnerInnen sonstwie verbunden waren, erzählen lassen und diese Geschichten in einem Buch festhalten. Es gab recht umfangreiche Vorabklärungen und viele Diskussionen, doch das Projekt kam damals nicht zustande.
Die AutorInnen des aktuellen Buchs haben es demnach ausgegraben und fertiggestellt?
Nein, dafür wären heute wohl nicht mehr genügend Zeitzeugen da. Als Friedensaktivist wie auch als Redaktor der ‹Friedenszeitung› sowie als Geschäftsleiter des Schweizerischen Friedensrats bin ich seit vielen Jahren im Gartenhof tätig, und so bin ich eines Tages auf die Vorarbeiten zum Oral-History-Projekt gestossen. Ich habe ausserdem bedeutende Arbeiten von Clara Ragaz-Nadig gefunden. Während es über ihren Ehemann Leonhard Ragaz und die ‹Neuen Wege› eine seriöse und umfangreiche Arbeit von Willy Spieler gibt, lässt sich dasselbe über Leben und Wirken von Clara Ragaz nicht sagen. Als ich merkte, welch wichtige Rolle sie in der Friedensarbeit im Gartenhof innehatte, wollte ich eine politische Biographie über sie in die Wege leiten.
Welche Rolle meinen Sie?
Ihr Mann Leonhard Ragaz war vor allem in der Zwischenkriegszeit berühmt und wichtig für den religiösen Sozialismus, er schrieb in den ‹Neuen Wegen› und verfasste viele Bücher. Clara Ragaz hingegen war weniger die «Schreiberin» und deshalb auch weniger bekannt, doch sie hatte andere Fähigkeiten, namentlich politisches Talent – und vor allem war sie eine grosse Netzwerkerin. Das wollte ich in einer politischen Biographie aufgezeigt und gewürdigt haben.
Wie zeigten sich diese Begabungen konkret?
Sie war beispielsweise bei der sozialen Käuferliga aktiv, einer Vorläuferin der späteren Konsumgenossenschaften, die dafür sorgten, dass die Arbeiterfamilien gute und günstige Lebensmittel kaufen konnten. Sie zeigte in ihrer politischen Arbeit aber keine Berührungsängste: Fürs Frauenstimmrecht setzte sie sich zusammen mit bürgerlichen Frauenrechtlerinnen ein. Sie lancierte auch einmal eine Petition, in der sie verlangte, dass die Frauen bei einer bestimmten, besonders wichtigen Abstimmung ausnahmsweise an die Urnen zuzulassen seien. Gemeint war die Volksabstimmung von 1920 darüber, ob die Schweiz dem Völkerbund beitreten sollte.
Nun liegt allerdings ein Buch über das Haus Gartenhof vor und wieder keine Biographie von Clara Ragaz-Nadig: Wie ist das passiert?
Ich bin nicht Historiker und hätte das Projekt nicht allein stemmen können. Mit Ruedi Epple, einem Historiker und Friedensaktivist aus dem Kanton Baselland, hatte ich früher schon Kontakt gehabt in Sachen Haus Gartenhof. Dass seine Arbeit zum Schwerpunkt des Buches wurde, war nur logisch: Er beschreibt die Entwicklung des Gartenhofs bis 1945, vom «Settlement»-Gedanken bis zur Auskunftsstelle für Menschen auf der Flucht. In Epples Text ist viel von Clara Ragaz und ihrer Arbeit die Rede, aber eine ausschliessliche Biographie ist es tatsächlich nicht. «Schuld» daran ist die grosse Bedeutung des Gartenhofs als Symbol und als wichtigstes Friedenszentrum der Deutschschweiz. Nach Epples Teil knüpft Ruedi Brassel dort an und beschreibt den Gartenhof in der Nachkriegszeit, die gleichzeitig die Zeit nach Leonhard Ragaz ist – er starb 1945. Dem Gartenhof als Raum für vielfältige Friedensarbeit nach dem Aufbruch von 1968 ist schliesslich der letzte Teil des Buches gewidmet, den ich verfasst habe. Und last, but not least hat die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Ina Boesch dem «Familienunternehmen» Ragaz einen Essay gewidmet und reflektiert darin, «was ein Haus und seine Räume erzählen».
Der Friedensrat feiert 2020 sein 75-Jahre-Jubiläum: Ist das Buch auch als Festschrift gedacht?
Es ist natürlich schön, dass es jetzt fertig wurde, aber es ging uns nie nur um eine Geschichte des Friedensrats oder um eine Festschrift, sondern um die vielen verschiedenen Netzwerke, die im und um den Gartenhof aktiv waren. So wurde etwa die Friedensarbeit der Kinder von Clara und Leonhard, Christine und Jakob Ragaz, noch nirgends so ausführlich beschrieben und gewürdigt wie in unserem Buch. Ob Clara im Mittelpunkt des Buches stehen müsste oder die ganze Familie Ragaz, ist rückblickend nicht der Punkt: Wichtig ist, dass das ganze Netzwerk, das von den Ragaz’ ausging oder zusammen mit ihnen entstanden ist, zum ersten Mal aufgearbeitet und in Buchform erschienen ist.
Was genau haben «Settlement»-Bewegung und Gartenhof miteinander zu tun?
Das «Settlement» bildete einen Ausgangspunkt für das Buch und war insbesondere für Historiker Epple interessant. Der «Settlement»-Bewegung gehörten meist gut gestellte und gut gebildete Menschen an, die sich bewusst in Armenvierteln niederliessen und sich dort für eine bessere Bildung für die Armen sowie für die Gemeinschaft im Quartier engagierten. In England und Amerika entstanden mit der «Toynbee Hall» in London oder dem «Hull House» in Chicago Treffpunkte für Arbeiter und ihre Frauen, wo sie vielfältige Unterstützung erhielten und sich, auch politisch, weiterbilden konnten. Die Amerikanerin Jane Addams, die sich in der «Settlement»-Bewegung engagierte und 1935 den Friedensnobelpreis erhielt, gilt als eine der Begründerinnen der modernen Sozialarbeit.
Und die Ragaz’ brachten die Bewegung nach Zürich?
Clara Ragaz lernte Jane Addams nach dem Ersten Weltkrieg an einem internationalen Frauenkongress kennen. Beide waren Mitglieder des Internationalen Frauenkomitees für dauernden Frieden (IFDF). 1919 organisierten sie gemeinsam eine grosse Frauenfriedenskonferenz in Zürich. Damals war der Theologe Leonhard Ragaz noch Professor an der Uni Zürich, und das Paar wohnte an der Gloriastrasse. Schon ein Jahr zuvor hatte Leonhard seiner Frau Clara in einem Brief mitgeteilt, er wolle seinem Leben eine neue Richtung geben. Er hatte sich der Kirche entfremdet, bildete aber an der Uni deren Pfarrer aus. Nun wollte er sich in der Nähe der Armen niederlassen und «geistigen Dienst am Proletariat und dessen seelischer Erweckung» leisten, also den «Settlement»-Gedanken in Zürich umsetzen.
Wie kamen die beiden zum passenden Objekt für ihr Projekt?
Durch Vermittlung von Freunden fand das Paar das Haus an der Gartenhofstrasse 7 und zog 1922 ein. Ganz in der Nähe, an der Gartenhofstrasse 1, waren bereits Gertrud Rüegg und Mily Grob tätig, die Mitgründerinnen des Vereins Frauenarbeit Gartenhof. Dieser Verein hatte zum Ziel, die Notlage der Arbeiterfrauen zu lindern und Lücken in der Ausbildung junger Frauen zu schliessen. Man organisierte unter anderem einen Kinderhort und bot Nachhilfestunden, hauswirtschaftliche Kurse und Nähkurse an. Gleich gegenüber des Gartenhofs wohnte damals übrigens der Pfarrer und SP-Natonalrat, u.a. Initiant des Schweizerischen Sozialarchivs Paul Pflüger, und auch sein Kollege, der Arzt und Schriftsteller Fritz Brupbacher war ganz in der Nähe an der Badenerstrasse daheim. Einen weiteren solchen Ort mit Unterstützung und Bildungsangeboten für ArbeiterInnen gab es in Basel.
Wie erfolgreich war das Zürcher «Settlement»?
Es entwickelte sich nicht so, wie Leonhard Ragaz es sich vorgestellt hatte; ein «richtiges Settlement» wurde aus der 1924 offiziell gegründeten Trägerorganisation Arbeit und Bildung nie. Es war ideologisch bei Leonhard zuhause, und Clara trug die Idee mit. Sie war jedoch zurückhaltender bezüglich der Idee, dass ein «Settlement» auch eine Lebensgemeinschaft aller Beteiligten umfassen sollte – und Leonhard wäre wohl in der Praxis damit überfordert gewesen. Im Gartenhof wurden trotzdem diverse Kurse und Sitzungen von Vereinen abgehalten, und im grossen Saal im Erdgeschoss gab es Vorträge. Zudem liess Clara Ragaz eine der ersten elektrischen Waschmaschinen ins Waschhäuschen im Hinterhof stellen. Die Frauen im Quartier durften dort waschen und kamen so in Kontakt und ins Gespräch. Ein weiteres Angebot, die soziale Musikschule, habe ich selber noch erlebt: Kinder aus ärmeren Verhältnissen durften gratis ein Instrument spielen lernen. Wenn sie Klavier übten, ging es ja noch, aber gewisse schräge Töne aus Saxofonen konnten mich während meiner Arbeit als Redaktor der ‹Friedenszeitung› schon ziemlich ablenken… (lacht).
S
ie haben von den verschiedenen Netzwerken im und um den Gartenhof gesprochen: Erinnert heute noch etwas an die Zeit von Clara und Leonhard Ragaz?
Vor allem Claras Engagement hat die radikal pazifistische Friedensarbeit der jüngeren Vergangenheit geprägt. Sie hat bis zum Zweiten Weltkrieg Konferenzen in ganz Europa besucht und war in verschiedenen Gruppen, insbesondere der wichtigen «Zentralstelle für Friedensarbeit». Erstmals wird in unserem Buch zudem die Geschichte der Flüchtlingsauskunftsstelle aufgearbeitet, die Clara Ragaz aufgezogen hat. Auch die Pazifistische Bücherstube der Familie Ragaz war über viele Jahre ein wichtiges Element des Gartenhofs. 1966 entstand daraus die Buchhandlung Buch 2000 in Obfelden, mitgegründet von Hans Steiger.
Die 1874 geborene Clara Ragaz starb 1957: War sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr politisch aktiv?
Doch, als Flüchtlingshelferin und Pazifistin meldete sie sich natürlich in den Diskussionen um eine Öffnung der Schweiz zu Wort: Die Schweiz war nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Alliierten ziemlich isoliert, weil sie sich nicht am Kampf gegen den Faschismus beteiligt hatte. Deshalb war die Schweiz auch nicht zur Gründung der UNO eingeladen. Das war übrigens einer der Gründe für die Gründung des Schweizerischen Friedensrats im Dezember 1945.
Eine «Renaissance als Ort und Zentrum schweizerischer Friedensarbeit» habe der Gartenhof im Gefolge der weltweiten Jugendunruhen erhalten, konkret nach dem «Globus-Krawall», ist im Buch nachzulesen.
Drei Faktoren, die zur Bildung neuer Friedensbewegungen und damit verbundener Friedensarbeit weltweit führten, spielten in den 1960er-Jahren eine zentrale Rolle: die Anti-Atom-Bewegung, der Widerstand gegen den Vietnamkrieg und in der Schweiz das Aufdecken des Bührle-Waffenskandals. Der Gartenhof ist zudem ein Symbol der Militärdienstverweigerungs-Bewegung. Bereits 1924/25 befand sich das Sekretariat des «Service civil international» im Gartenhof. Nach 1968 wurde dort die erste Beratungsstelle für Militärdienstverweigerer eröffnet. Wie wir heute wissen, war die Einführung eines Zivildienstes in der Schweiz jedoch erst nach dem Fall der Berliner Mauer möglich.
Wie geht es weiter mit dem Gartenhof?
Bis heute bietet er Raum für Veranstaltungen und Sitzungen verschiedener Gruppierungen, beheimatet das Büro des Schweizerischen Friedensrats und eines Rechtsanwalts, und auch ein Ragaz-Enkel wohnt noch dort. Um das Haus langfristig zu erhalten, wäre es wünschbar, dass sich eine Stiftung mit diesem Zweck einrichten liesse, doch das ist Zukunftsmusik.
Ina Boesch, Ruedi Brassel, Ruedi Epple, Peter Weishaupt: Haus Gartenhof in Zürich. Raum für vernetzte Friedensarbeit. Chronos Verlag, Zürich 2019, 190 Seiten, 40 Abbildungen, 38 Franken.
Buchvernissage heute Freitag,
1. November, um 19 Uhr an der Gartenhofstrasse 7, 8004 Zürich. Eintritt frei.