«Die Zukunft gehört der sanften Mobilität»

Mit dem Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Zur Förderung der Velo-, Fuss- und Wanderwege», dem «Bundesbeschluss Velo», soll das Velo in die Bundesverfassung aufgenommen werden. Weshalb er das eine gute Sache findet, erklärt SP-Nationalrat Thomas Hardegger im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Sie sind SP-Nationalrat und Präsident von Fussverkehr Schweiz: Weshalb setzt sich der «oberste Fussgänger» an vorderster Front für den Bundesbeschluss Velo ein?

Thomas Hardegger: Dass ich als Präsident von Fussverkehr Schweiz bereits im Initiativkomitee der Velo-Initiative war und nun im Komitee «Bundesbeschluss Velo Ja» mitmache, ist ein bewusster Entscheid: Wie der Veloverkehr organisiert wird und wem er allenfalls Raum wegnimmt, tangiert auch die Interessen der FussgängerInnen. Fussverkehr Schweiz und Pro Velo Schweiz haben bereits vor einigen Jahren ein gemeinsames Positionspapier erarbeitet, in dem unter anderem festgehalten ist, dass Fussgängerinnen und Velofahrer einander nicht konkurrenzieren sollen, sondern je ihre eigenen Flächen brauchen, damit es nicht zu Konflikten kommt.

 

Ihre Mitglieder sind demnach allesamt auch Velofans und für den Bundesbeschluss?

(lacht) Ich muss zugeben, dass es im Verband und an Mitgliederversammlungen starke Diskussionen gab. Gerade ältere Mitglieder, die darunter besonders leiden, dass sich Fussgängerinnen und Velofahrer immer öfter das Trottoir teilen müssen, zeigten wenig Verständnis. Doch dieser Mischverkehr ist ja nicht von den VelofahrerInnen so gewollt, sondern von den PlanerInnen. Wir mussten also Überzeugungsarbeit leisten, doch nun steht unser Verband voll hinter dem Bundesbeschluss Velo. Indem VertreterInnen von Fuss- und Veloverkehr im Komitee mitmachen, können wir unsere Positionen gemeinsam darlegen – gerade auch in der Abstimmungskampagne –, und davon profitieren beide Seiten.

 

Sagen die Stimmberechtigten am 23. September Ja, dann kommt das Velo in die Bundesverfassung – und zwar in den Artikel 88, der bis anhin den Fuss- und Wanderwegen vorbehalten war. Ganz freiwillig ist die Kooperation also nicht…

Genau aus diesem Grund hat sich Pro Velo von Anfang an für ein gemeinsames Vorgehen ausgesprochen: Die Veloinitiative – die dann zugunsten des Bundesbeschlusses zurückgezogen wurde – ist erst lanciert worden, als Fussverkehr Schweiz mit dem Inititiativtext einverstanden war. Die Fussgängerinnen und Fussgänger sind immerhin die grösste Gruppe aller VerkehrsteilnehmerInnen. Und, auch wenn es bisweilen vergessen geht: Zu dieser Gruppe gehören auch alle AutofahrerInnen und öV-NutzerInnen.

 

Während die Veloinitiative unter anderem «attraktive und sichere» Velowegnetze forderte, ist der Bundesbeschluss neutral formuliert: Der Bund soll lediglich «Grundsätze» über Fuss-, Wander- und Velowegnetze festlegen, und weitere Massnahmen «kann» er unterstützen – muss aber nicht. Was bringt es uns konkret, wenn wir Ja stimmen?

Dass der Bund neu nicht nur Grundsätze über Fuss- und Wanderwegnetze, sondern auch über Velowegnetze festlegen soll, ist ein wichtiger Schritt: Grundsätze, die der Bund festlegt, bedeuten Verbindlichkeit. Heute haben wir, gerade im urbanen Raum, einen gewaltigen Nachholbedarf, was Velowegnetze betrifft. Ich staune immer wieder, wie einfach es sich die Planer machen: Wird der Platz knapp, leiten sie den Veloweg aufs Trottoir oder schicken die VelofahrerInnen auf die Strasse zurück. Deshalb wäre es sinnvoll gewesen, den Bund zu verpflichten, für Velowegnetze nicht nur gewisse Grundsätze zu fordern, sondern sich auch finanziell an deren Umsetzung zu beteiligen. Doch das ist zurzeit politisch nicht machbar. Aber seit die Grundsätze über die Fuss- und Wanderwege vor gut 20 Jahren als Artikel 88 in die Bundesverfassung kamen, hat sich einiges geändert, und ein vergleichbarer Effekt dürfte nun die Aufnahme des Velowegnetzes haben.

 

Was hat sich geändert?

Der Bund hat seither beispielsweise die Möglichkeit, konzeptionelle Arbeiten zu fördern, zum Beispiel die Massnahmenplanung Fussverkehr für Kantone und Gemeinden sowie für kantonsübergreifende Wanderrouten. Künftig könnte er demnach auch regionale Velowegnetze fordern, Vorgaben für die Entflechtung von Fuss- und Veloverkehr erarbeiten lassen oder neue Streckenführungen innerhalb bestehender Routen fördern. Die Federführung haben aber nach wie vor die Kantone, denn sie sind auch in Zukunft für die Velowegnetze auf ihrem Gebiet zuständig.

 

Was bringt der ums Velo ergänzte Artikel sonst noch?

Wichtig ist der neue dritte Absatz von Artikel 88. Dort heisst es, dass der Bund «bei der Erfüllung seiner Aufgaben» auf Velowegnetze Rücksicht zu nehmen hat; muss er aus irgendeinem Grund Velowege aufheben, dann hat er sie zu ersetzen – und dabei muss er sich logischerweise an seine eigenen Grundsätze halten. Das gibt Auftrieb. Zudem kann der Bund auch Verbände einbeziehen, wenn es darum geht, Wege neu zu planen, zu bauen oder zu ersetzen. Damit gewinnen die Verbände an Einfluss und können mitreden.

 

Aber zuständig dafür, ob überhaupt und was genau gemacht wird, sind nach wie vor die Kantone.

Gerade eine kantonale Velonetzplanung haben aber noch nicht alle Kantone. Mit den Grundsätzen, die der Bund festlegt, sind zudem auch Ansprüche verbunden: Es braucht einen gewissen Prozentsatz an Eigentrassees für Velos, und mögliche Konflikte zwischen Velos und FussgängerInnen sowie zwischen Velos und Autos können nicht mehr einfach in Kauf genommen werden. Dies und die Tatsache, dass die Verbände besser einbezogen werden, führt automatisch zu besseren Lösungen und weniger Fehlplanungen.

 

Drehen wir den Spiess mal um: Zum Bundesbeschluss Velo sagt sogar der TCS Ja. Allzuviel Biss kann diese Vorlage nicht haben…

Wir haben, den ACS ausgenommen, die Autolobby nicht gegen uns, das ist auf jeden Fall ein Vorteil. Dass der TCS mit uns am selben Strick zieht, ist seiner Einsicht geschuldet, dass es für die AutofahrerInnen besser ist, wenn Autos und Velos getrennte Wege haben. Dann kommt es unter anderem zu weniger Konflikten und Unfällen, und davon profitieren beide.

 

Welches sind aus Ihrer Sicht die stärksten Argumente ihres Komitees? Wie holen Sie die Stimmberechtigten auf Ihre Seite?

Für mich stehen klar die Sicherheit und die Gesundheit an erster Stelle. Velofahren ist gesund, doch viele Menschen scheuen sich davor, weil sie sich unsicher fühlen, wenn sie sich, eingeklemmt zwischen dem Offroader links und der Trottoirkante rechts, im Verkehr behaupten müssen. Auf sicheren Wegen hingegen würden sie Velo fahren, kommen schneller vorwärts und tun etwas für ihre Gesundheit.

 

Weshalb gewichten Sie den Gesundheitsaspekt so hoch?

Eine dieses Jahr aktualisierte Studie des Amts für Raumentwicklung des Bundes rechnet vor, dass das Autofahren externe Kosten für beispielsweise Lärmschutz, lufthygienische Massnahmen, Raumbeanspruchung oder auch Gesundheitskosten verursacht, die Jahr für Jahr mit über 11 Milliarden Franken zu Buche schlagen. Diese Kosten trägt die Allgemeinheit. Die Fussgänger und die Velofahrerinnen zusammen generieren hingegen mehr externen Nutzen als externe Kosten. Die FussgängerInnen allein müssten pro zurückgelegtem Kilometer gar sechs Rappen erhalten, denn um diesen Betrag übersteigt der Nutzen des Zu-Fuss-Gehens die Kosten des Fussverkehrs. Betrachtet man die Velofaher­Innen allein, sind die Kosten leicht höher als der Nutzen – wegen der hohen Unfallkosten.

 

Ein oft gehörtes Argument gegen Massnahmen für Velos setzt genau hier an: Die VelofahrerInnen missachteten doch allesamt Regeln und seien deshalb selber schuld, wenn sie verunfallten…

Im Autoverkehr nehmen sowohl die Unfälle als auch die Zahl der Schwerverletzten und Getöteten stetig ab, im Veloverkehr jedoch steigen sie immer noch an. Das hat unter anderem damit zu tun, dass die Autos immer stärker, breiter, ‹gepanzerter› werden. Umso wichtiger ist es, ihnen nicht noch mehr Raum zu geben, sondern im Gegenteil dafür zu sorgen, dass die VelofahrerInnen und die FussgängerInnen ihre je eigenen, sicheren Wege erhalten. Was das Einhalten der Regeln betrifft, so gibt es sowohl AutofahrerInnen wie auch VelofahrerInnen und FussgängerInnen, die gedankenlos unterwegs sind und damit sich selbst und andere gefährden. Manchmal müssen sie sich auch einfach schlicht aus lebensgefährlichen Situationen retten, indem sie etwa der Kolonne vorfahren oder aufs Trottoir ausweichen. Ein Argument dagegen, für bessere und sicherere Wege für alle VerkehrsteilnehmerInnen zu sorgen, sind sie aber sicher nicht. Stattdessen sollten wir das Potenzial des Velos nutzen, zur Enflechtung des Strassenraums beizutragen.

 

Wie meinen Sie das?

Viele Wege, die hierzulande mit dem Auto zurückgelegt werden, sind weniger als fünf Kilometer lang. Diese Distanzen lassen sich mit dem Velo bestens bewältigen, mit dem E-Bike auch längere. Ich bin überzeugt, dass viel mehr Menschen solch kurze Wege mit dem Velo zurücklegen würden, wenn sie auf guten, sicheren Velowegen fahren könnten. Das würde zudem die Strasse und den öV entlasten – wobei ich diesen Effekt nicht überbewerten möchte.

Der Tourismus wird ebenfalls als Profiteur des Bundesbeschlusses Velo angeführt: Wenn es gute und sichere Velowegnetze gibt, können sich Hotels oder Pensionen in Berg- und Wandergebieten als speziell velofreundlich positionieren, ihr Angebot um Leihvelos ergänzen, Aufladestationen für E-Bikes anbieten und so weiter. Fussverkehr Schweiz setzt sich im Übrigen auch hier für eine Entflechtung ein, denn Mountainbiker auf Wanderwege zu leiten, bietet ähnlich viel Konflktpotenzial wie Velospuren auf Trottoirs.

 

Wie werben Sie bei jenen, die sich nichts aus dem Velofahren machen?

Gerade Stadtquartiere, aber auch Dorfzentren, in denen viel Velo gefahren wird, gewinnen dadurch an Siedlungsqualität. Es ist etwas anderes, ob man den Feierabend auf einem Balkon an einer vielbefahrenen Strasse oder an einer ruhigen, grünen Begegnungszone verbringt. Die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum steigt massiv, wenn man mehr auf sanfte Mobilität setzt und weniger Auto gefahren wird. Die Stadt Zürich verhält sich diesbezüglich widersprüchlich: Einerseits setzt sie sich für autoarme Siedlungen ein, anderseits leitet sie Velospuren kurzerhand aufs Trottoir, statt den nötigen Platz fürs Velo von den Autospuren zu beanspruchen.

 

Die GegnerInnen befürchten, dass die Kantone und Gemeinden bei einem Ja künftig zum Bau teuer Velomassnahmen verpflichtet würden. Sind die Sorgen berechtigt?

Im Artikel 88 steht, dass der Bund die Zuständigkeiten der Kantone wahrt. Aber wer noch nicht gemerkt hat, dass die Zukunft der sanften Mobilität gehört, den muss man halt dazu mit Anreizen motivieren. Angesichts des volkswirtschaftlichen Nutzens des Velo- und Fussverkehrs sind direkte, sichere Infrastrukturen gut investiertes Geld. Die Sorge um zusätzliche Ausgaben scheint mir eher vorgeschoben, denn die Möglichkeit, Geld aus dem Agglomerationsfonds zu bekommen, bleibt ja bestehen. Schon heute erhalten die Gemeinden nur noch Mittel aus diesem Fonds, wenn ihr Strassenprojekt auch Massnahmen für Velos, FussgängerInnen und den öV vorsieht. Im Kanton Zürich ist der Strassenfonds zudem prall gefüllt – auch mit Beträgen für Velomassnahmen, die nie ausgeschöpft werden.

 

Verglichen mit der «Fair Food»- und der Ernährungssouveränitäts-Initiative war der Bundesbeschluss Velo bisher eher wenig im Gespräch – dabei ist er doch einiges konkreter: Ist eine Ergänzung eines bestehenden Artikels in der Bundesverfassung einfach nicht so sexy?

Ich finde, dass der Bundesbeschluss Velo schon gut bekannt ist. Einen unterschiedlichen Konkretheitsgrad der drei Vorlagen auf eidgenössischer Ebene sehe ich jedoch nicht – bei der Fair-Food-Initiative steht das Versprechen, das sie macht, schon im Titel, und dasselbe gilt auch für die Initiative zur Ernährungssouveränität. Anders als bei diesen beiden Initativen ist beim Bundesbeschluss Velo hingegen die Art, wie die GegnerInnen damit umgehen: Ihre Taktik besteht offenbar darin, ihn möglichst totzuschweigen.

 

Also müssen Sie noch mehr dafür ‹weibeln›?

Man kann immer mehr machen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Leute keine Haltung zum Velo haben. Auch SVPlerInnen haben Kinder, die gefährliche Schulwege haben, und glauben, ihnen Elterntaxis anbieten zu müssen. Wer schlechte Erfahrungen mit VelofahrerInnen gemacht hat, lehnt vielleicht ab, aber grundsätzlich bin ich zuversichtlich, dass es gut kommt. Das genügt aber nicht. Ganz wichtig ist, dass wir die Abstimmung nicht nur knapp gewinnen: Es braucht ein möglichst deutliches Resultat. Denn bei den jetzigen Mehrheitsverhältnissen in den Parlamenten ist es wichtig, dass man bei Debatten, Budgets und Projekten immer wieder ein gutes Resultat als Willen des Volkes anführen kann, das zeige, dass die Bevölkerung schnell zusätzliche sichere Velowege will.

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