Die Welt spinnt – einmal mehr

Es gibt zwei Diskussionen, die ich in der Regel vermeide, insbesondere online, weil sie entweder sehr unterkomplex oder sehr toxisch geführt werden, oder im schlimmsten Fall beides zusammen. Zum einen sind dies Genderfragen, wenn die althergebrachten scheinbaren biologischen Gewissheiten infrage gestellt werden, und zum anderen der Nahostkonflikt. Manchmal kommt sogar beides zusammen wie beim Eurovision Song Contest ESC. Ich werde nun aber dennoch etwas dazu schreiben. Und zwar weil ich irgendwie – wohl zum ersten Mal – das Gefühl habe, zu einer schweigenden Mehrheit zu gehören, deren Position im Diskurs überhaupt nicht stattfindet.

Zuerst zum Einfachen, nämlich dem Eurovision Song Contest. Den die Schweiz gewonnen hat, was eigentlich ein Grund zum Feiern wäre. Zumal Nemo gezeigt hat, dass man mit einem originellen Song und einer eindrücklichen Performance, sprich einer guten Leistung, den ESC gewinnen kann. Der ja eigentlich ein Musikwettbewerb ist. Nur mögen sich darüber einige nicht freuen und zwar nicht wegen der Leistung, sondern weil Nemo nonbinär ist, sich also weder als Frau noch als Mann definieren will. Das bringt die Gemüter einiger (mehrheitlich) Herren so fest in Wallung, dass sie ein wenig die Contenance verlieren. An vorderster Front: Der Berner Regierungsrat Philippe Müller (FDP). Ja, das ist der, der trotz einer grosszügigen Spesenpauschale auch Brötli und Bananen als Spesen verrechnet. Philippe Müller schreibt also auf X (vormals Twitter): «Schweizer gewinnt den seit Jahren durch und durch korrupten ESC. Dieses Jahr auch noch antisemitisch geprägt und von schlimmen Gewaltereignissen mit Polizeieinsätzen begleitet. Und die sonst ach so ‹kritischen› Tamedia-Blätter? Spüren sich nicht mehr. ESC: Bleib fern von Bern!» Warum der ESC korrupt sein soll, erläutert er nicht. Ich dachte ja immer – ein wenig frei nach Trump –, dass Wahlen vor allem dann korrupt sind, wenn man nicht gewinnt. Aber über den Schweizer Sieg scheint sich Müller ja auch nicht zu freuen. Sehr zum Leidwesen des Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr (SP), der den ESC gerne in die Heimatstadt von Nemo bringen würde. Ansonsten ist Nemos Sieg natürlich auch eine gute Nachricht für nonbinäre Menschen, deren Anliegen der rechtlichen Anerkennung dank Nemo wieder an die Öffentlichkeit gelangt. Ein Treffen mit Bundesrat Beat Jans dazu ist geplant.

Vor zwei Jahren trat die unbürokratische Änderung des Geschlechts im Zivilstandsregister in Kraft. Diese Gesetzesänderung war mit bemerkenswert wenig Widerstand beschlossen worden. Ein Referendum dagegen wurde nicht ergriffen, und es kam auch ganz offensichtlich nicht zu Problemen. Dennoch kann man sich schwer vorstellen, dass diese unaufgeregte Diskussion heute – nur wenige Jahre später – überhaupt noch möglich ist. 

In den letzten Tagen wurden – wohl inspiriert durch die Proteste an amerikanischen Universitäten – einige Schweizer Universitäten von propalästinensischen Aktivist:innen besetzt. Bei den einen wurden die Besetzungen schnell polizeilich geräumt, anderswo wird verhandelt. Nun sind das beileibe nicht die ersten Besetzungen und Protestaktionen, die an Universitäten stattfinden. Und sie sind auch zahlenmässig verhältnismässig klein. Das könnte man allerdings nicht meinen, wenn man die mediale Berichterstattung und die Kommentare betrachtet, die sich wohl auch durch Übersee inspirieren lassen.

Im Unterschied zu den USA ist allerdings die Diskussion rund um den Nahostkonflikt in der Schweiz bemerkenswert undifferenziert. Es scheint zuweilen, als kämen die Positionen direkt aus Bibi Netanyahus Kriegskabinett oder dem Hamas-Propaganda-Arm. Dass es dabei auch einiges an Zwischentönen gäbe, bleibt irgendwie auf der Strecke. Es scheint also kein Wunder zu sein, dass es keinen Frieden gibt, wenn man auch in der Schweiz vom bequemen Sofa aus keine versöhnlichen Töne findet.

So finde ich es absolut legitim, mit Protesten auf die desolate humanitäre Lage in Gaza aufmerksam zu machen, die israelische Kriegsführung zu kritisieren und die vielen zivilen Opfer, darunter viele Kinder, zu beklagen. Nur, warum muss man dies ums Verrecken mit «From the river to the sea»-Sprüchen untermauern? Denn das ist nicht nur inhaltlich problematisch, es ist vor allem auch kontraproduktiv, weil es vom Anliegen ablenkt. Auf der anderen Seite ist es falsch und zynisch, humanitäre Hilfe für die leidende Zivilbevölkerung abzulehnen, weil ja schliesslich die Hamas schuld sei am Krieg.

Nun hätte die israelische Armee Gaza wohl ohne die Gräuel vom 7. Oktober nicht angegriffen, aber die Schuldfrage ist, wenn es um den Schutz der Zivilbevölkerung geht, irrelevant. Dieser gilt völlig unabhängig davon, welche Regierung sie haben und ob diese sympathisch ist oder nicht. Denn gerade dieser Schutz der Zivilbevölkerung ist eine der grossen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, die man wie viele im Moment wieder zu vergessen scheint. Und man mag die UNRWA gut finden oder nicht, Fakt ist, dass sie als einzige die Kapazitäten hat, vor Ort effektiv zu helfen. Das könnte man durchaus dereinst korrigieren, aber doch bitte erst dann, wenn die Hungersnot überstanden ist. 

Das bringt uns zurück zu den Universitätsprotesten. Und gleich wie beim humanitären Völkerrecht gilt der Grundsatz, dass Grundrechte und Menschenrechte absolut sind und für alle gelten, auch wenn einem die Position nicht sympathisch ist. Die Meinungsfreiheit gilt nicht absolut. Für Hassrede gibt es strafrechtliche Grenzen, die man meines Erachtens dringend auch noch mit Geschlecht oder Geschlechtsidentität ergänzen müsste. Und man kann sich auch als Organisation auf gewisse Umgangsformen verständigen. Aber ansonsten gilt es, dass man auch mal Meinungen aushalten muss, die man selber blöd findet. Es ist nicht von ungefähr, dass genau jene Leute, die noch vor Kurzem sich beklagten, dass man an Universitäten wegen der Cancel Culture und dem Wokewahnsinn nichts mehr sagen dürfe, jetzt die sind, die besonders heftig fordern, dass die Universitäten sofort geräumt werden müssen. 

Man erinnert sich dabei auch daran, dass im letzten Jahr in mehreren Städten verboten wurde, Kundgebungen zum Nahen Osten durchzuführen. Im Visier waren dabei aber in erster Linie propalästinensische Demonstrationen. Nun finde ich klar, dass sich Leute, die sich progressiv nennen, sich auch klar von Antisemitismus und von Islamisten distanzieren sollten. Nur: Wie ich eingangs und anderorts geschrieben habe, ist ein ständiger Bekenntniszwang auch recht fragwürdig. Und zudem: Meine Meinung ist nicht massgebend dafür, welche Meinung andere Leute zu vertreten haben. Das scheinen einige immer mehr vergessen zu haben.