Die wahre unsichtbare Hand

Wenn der Tessiner FDP-Nationalrat Ignazio Cassis als Bundesrat gewählt würde, seien dort die Kinderlosen im Bundesrat in der Mehrheit. Ein Pro­blem? Das fragt sich jedenfalls der ‹Tages-Anzeiger› am Mittwoch. Und die Leserin fragt sich ein wenig, ob beim ‹Tages-Anzeiger› schon das Sommerloch ausgebrochen ist.
Wir wissen zum einen nicht, ob die Betreffenden nun freiwillig oder unfreiwillig kinderlos sind, und es geht uns zweitens auch nichts an. Zum dritten wusste ich vor der Lektüre dieses Artikels gar nicht, dass Burkhalter Kinder hat, genausowenig wie ich wusste, dass Guy Parmelin und Ignazio Cassis keine Kinder haben. Es war bis anhin schlicht nie ein Thema. Und das scheint mir richtig so. Klatsch, Tratsch und Homestories mögen lustig sein, aber ich bin eigentlich froh, dass wir hierzulande keine perfekten Familien inszenieren und ansehen müssen. Ich möchte auch keine PolitikerInnen im Schaumbad sehen. Nicht einmal in der Badehose. Und offenbar wollen das auch viele andere nicht, wie der deutsche Kanzlerkandidat Rudolf Scharping erleben musste, nachdem er sich in der Gala im Whirlpool ablichten liess. Ich bin auch überzeugt, dass direkte Betroffenheit für gute Politik nicht nötig ist: Es können sich Kinderlose für Familien einsetzen, Reiche für Arme und Arme für Reiche. Lehrer sind nicht unbedingt bessere Bildungspolitiker als Schreinerinnen, Treuhänderinnen nicht die besseren Steuerpolitikerinnen als Sozialarbeiter.

 

Die Frage, ob es nun ein Problem ist, wird vom ‹Tages-Anzeiger› nicht wirklich beantwortet. Aber eines scheint klar: Man und insbesondere frau kann es einfach nicht recht machen. So scheint es für einige ein Problem – oder mindestens bemerkenswert – wenn Kinderlose im Bundesrat sind. Aber gleichzei­tig wäre es ja genauso ein Problem, wenn man deren Kinder real bemerken würde. Wenn Alain Berset ankündigen würde, dass er neu nur noch 80 Prozent arbeiten möchte. Wenn Doris Leuthard in den Mutterschaftsurlaub gehen würde. Oder Guy Parmelin eine Auszeit bräuchte, um seine kranke Frau zu pflegen. All dies ist nicht vorgesehen.
Laut einer Studie, die von der ‹Sonntagszeitung› veröffentlicht wurde, werden Teilzeitarbeitende nur selten befördert, selbst bei einem Pensum von 80 oder 90 Prozent. Weil die Mehrheit der Teilzeitarbeitenden Frauen sind, betrifft dies vor allem Frauen. Auch hier gilt: Frau kann es nicht recht machen. Wenn Frauen Vollzeit arbeiten, gelten sie schnell als Rabenmütter. Man hat doch keine Kinder, wenn man keine Zeit hat, sich um sie zu kümmern. Arbeiten sie aber Teilzeit, dann verschwenden sie ihr Potenzial. Und müssten dem Staat noch das Geld für die Ausbildung zurückgeben.
 

Dazu verdienen sie auch noch weniger, wie das Büro für Gleichstellung festgestellt hat. Unverheiratete Frauen verdienen im Schnitt 9,4 Prozent weniger als Männer. Verheiratete Frauen verdienen hingegen 31 Prozent weniger als Männer. Bei Männern spielt der Zivilstand keine Rolle. Aber verheiratete Frauen sind Mütter oder werden es vielleicht, denken sich mindestens die Arbeitgeber. Die Moral aus der Geschichte: Liebe Frauen, heiratet doch erst gar nicht. Aber eben: Keine Kinder zu haben ist ja offenbar auch suspekt.
 

Dass Vorsorge- und Betreuungsarbeit unsichtbar ist, ist gewollt. Und ein wesentlicher Bestandteil unseres Wirtschaftssystems: «Im Zuge liberaler Wirtschaftstheorien rückten produktive Tätigkeiten in den Fokus des ökonomischen Denkens, während reproduktive Tätigkeiten wie Schwangerschaft, Geburt, Kinderbetreuung, Pflege von Alten und Kranken sowie Hauswirtschaft unsichtbar blieben», schreibt die Genderforscherin Franziska Schutzbach in einem Artikel auf dem Blog ‹Geschichte der Gegenwart›. Die wahre unsichtbare Hand des Marktes ist die, die putzt, kocht und Windeln wechselt. Wirtschaft und Gesellschaft profitieren davon, dass diese Arbeit oft gratis erledigt wird. Und wenn sie nicht gratis ist, so ist sie schlecht bezahlt: «Ein Tierpfleger im Zürcher Zoo verdient deutlich mehr als eine Kleinkindererzieherin. Auch Autolackierer verdienen mehr», schreibt Schutzbach weiter. Die Sorgearbeit – sei es Kinderbetreuung oder Altenpflege – wird in unserer Gesellschaft in erster Linie als Kostenfaktor betrachtet.
 

Die typische politische Diskussion rund um ausserfamiliäre Kinderbetreuung: Sie ist zu teuer. Das Einkommen der Frau geht ja vollkommen für die Kinderbetreuung drauf. Die Erwerbsarbeit lohnt sich also gar nicht. Was tun: Kosten senken und Steueranreize schaffen.
 

Das Problem: Man tut stets so, als ob Betreuungsarbeit eigentlich nur eine Aufgabe der Frau wäre. Die Milchbüechli-Rechnung: Einkommen der Frau minus Kinderbetreuungskosten. Diese Rechnung ist aber falsch: Denn die Kinder sind nicht allein die Aufgabe und die Verantwortung der Frau. Und darum muss sie sie auch nicht allein bezahlen. Und auch nicht allein gratis machen. Dasselbe gilt auch für die Lohngleichheit. Sie ist nicht nur eine Frauensache und eine Frage der Gerechtigkeit. Sie würde die Kaufkraft und das Einkommen von Familien massiv verbessern. Lohngleichheit ist also auch Wirtschaftspolitik. Das zweite Problem: Die Diskussion ist stets wahnsinnig moralisch aufgeladen. Wer seine pflegebedürftige Mutter ins Pflegeheim tut, ist ein schlechter Mensch. Wer sie selber pflegt und dann überfordert ist, auch. Wer deswegen die Arbeit vernachlässigt, sowieso. Auch die feministische Diskussion kommt nicht ohne aus. Die Emanzipation der Frauen passiere auf dem Buckel der Migrantinnen, heisst es da. Denn sie erledigen die Care-Arbeit (für wenig Geld), damit die westlichen Frauen arbeiten gehen können. Noch mehr schlechtes Gewissen für die Frauen also. Die Überlegung ist zwar richtig. Aber globale Arbeitsteilung betrifft nicht nur die Sorgearbeit, sondern die ganze Wirtschaft. Das Kleid, das ich trage, wurde nicht in der Schweiz produziert. Der Computer, auf dem ich diese Zeilen tippe, sowieso nicht. Wenn ich im Restaurant esse, werden die Teller selten von SchweizerInnen gewaschen. Das Problem ist nicht in der ersten Linie die Arbeitsteilung, sondern dass diese Arbeit uns so wenig wert ist.
 

Man könnte es als Fortschritt zählen, dass bei Ignazio Cassis nun offenbar die Kinderfrage auch für Männer zum Problem wird. Aber Emanzipation ist nicht eine Gleichstellung der Misere. Sondern, dass jeder und jede seinen/ihren Lebensentwurf möglichst frei und selbstbestimmt wählen kann. Und dass die Sorge für diejenigen, die sie benötigen, eine Aufgabe und Verantwortung der ganzen Gesellschaft – von uns allen – ist. Das gilt auch für Bundesräte.

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