- Im Gespräch
Die vergessene andere Schweiz
Ihr Buch heisst «Die andere Schweiz – Asyl und Aktivismus 1973-2000». Wer war die andere Schweiz?
Jonathan Pärli: Die «andere Schweiz» war eine Bewegung, die in Reaktion auf die zunehmend restriktive Asylpolitik der offiziellen Schweiz entstanden ist. Von einer «anderen Schweiz» zu sprechen, bedeutete ein politisches Subjekt zu behaupten, das im etablierten gesellschaftlichen Gefüge und Spiel nicht vorgesehen war, das nicht zu existieren schien. In der damals herrschenden Volksstimmungsrhetorik reagierten Herr und Frau Schweizer in quasi natürlicher Weise negativ auf die «neuen Flüchtlinge» aus dem Globalen Süden. «Wir fühlen uns nicht bedroht vor ein paar tausend Tamilen und Türken, sondern vor einer Politik, die die Demokratie aushöhlt und die Menschenrechte missachtet», hiess es hiergegen beispielsweise in der Charta 86, einem wichtigen Bewegungsmanifest. Die Asylbewegung war so gesehen ein kollektives Sprechsubjekt, das sich Anerkennung und Gehör erst erstreiten musste. Ihre Wortmeldungen und Handlungen stellten ‹ungehörige› Einmischungen in die offizielle Asylpolitik dar. Soziologisch gesehen setzte sich die «andere Schweiz» vorwiegend aus linken und sozial engagierten christlichen Kreisen zusammen, war aber auch offen für Geflüchtete und strahlte teilweise bis in liberale bürgerliche Kreise aus. Sie war ein Sammelbecken für all jene, die glaubten, Abwehr und Abschreckung könne nicht die Lösung des globalen Fluchtproblems sein.
Wie erlebten Asylsuchende die Diskrepanz zwischen dem traditionellen Selbstbild der Schweiz und der Realität ihrer Asylpraxis?
Viele Asylsuchende, die seit den 1970er-Jahren in die Schweiz kamen, hatten die Vorstellung, dass sie in einem Land Zuflucht finden, das für Humanität und Grosszügigkeit steht – das «Land des Roten Kreuzes». Und diejenigen, die sich in der Schweiz zu Wort meldeten, behafteten die Schweiz auf ihren Ruf, als sie die repressive Realität erlebten. Ironischerweise war es oft das besonders behördennahe Rote Kreuz, das den «neuen Flüchtlingen» im Auftrag des Bunds und der Kantone einen frostigen Empfang bereitete. Die Asylunterkünfte wurden von vielen Asylsuchenden als Orte der Erniedrigung und der Entrechtung erlebt, und es kam zu Protestaktionen wie Essens- oder Arbeitsboykotten. Diese wurden in der Öffentlichkeit rasch als «Aufstände» oder «Meuterei» dargestellt, ohne auf die Anliegen der Geflüchteten einzugehen. Dieser Protest brachte die «andere Schweiz» mit hervor. Bei der Asylbewegung fanden aufbegehrende Geflüchtete Gehör, das ihnen institutionell und medial verwehrt blieb.
Die Asylbewegung setzte auf zivilen Ungehorsam. Welche Wirkung hatte er, und wie wurde er von der Öffentlichkeit und den Institutionen aufgenommen?
Aktionen wie das Kirchenasyl oder das Verstecken von abgewiesenen Asylsuchenden, auch Privatasyl genannt, hatten oft eine starke symbolische Wirkung. Zum Beispiel gab es das Kirchenasyl für die Berner Tamilen Mitte der 1980er-Jahre, bei dem die Berner Kantonsregierung am Ende die Ausschaffung verweigerte – ein direkter Erfolg der Bewegung. Dieses «Asyl von unten» stiess auf heftige Reaktionen von Seiten der Behörden, die auf Ruhe und Ordnung bestanden. Doch gerade diese Machtworte der offiziellen Stellen gaben der Bewegung die Möglichkeit, ihre Kritik zu verstärken. Im Buch nenne ich das die «Dialektik des Dissenses»: Jedes von der Bewegung provozierte Machtwort der Behörden eröffnete dieser im Prinzip eine neue Gelegenheit, ihre Kritik an den Missständen im Asylsystem öffentlich zu machen und Gehör zu finden. Der Staat versuchte, Ordnung durchzusetzen, musste sich hierfür aber öffentlich äussern, wo er ansonsten im Stillen agieren konnte. Dadurch bekam die Bewegung immer wieder Raum für neuen Widerspruch.
Auf diese Weise konnte die Asylbewegung Ende der 1980er-Jahre juristische Errungenschaften wie die Gewaltentrennung im Asylrecht durchsetzen. Welche Bedeutung hatte dieser Erfolg?
Mit der Einführung der Gewaltentrennung im Asylrecht erfolgte ein Paradigmenwechsel. Seit dem 19. Jahrhundert wurden Asylentscheide exklusiv von der Exekutive, also der Verwaltung, gefällt, ohne eine unabhängige Instanz, die diese Entscheide überprüfen konnte. Die Asylbewegung hat durch ihre ungehörige Einmischung erreicht, dass eine öffentliche Debatte darüber entbrannte, wie der Staat mit Asylsuchenden umgeht, wenn es keine effektiven institutionellen Kontrollen gibt. Hannah Arendt schrieb einst, dass die Situation von Flüchtlingen durch den radikalen Ausschluss vom Recht gekennzeichnet sei, was unmittelbare Polizeiherrschaft bedeute. So gesehen war die Einführung der Gewaltentrennung und die damit einhergehende prinzipielle Anerkennung von Asylsuchenden als Rechtssubjekte ein enormer Erfolg. Wer es heute schafft, in der Schweiz ins Asylverfahren aufgenommen zu werden, hat es immer noch schwer, aber gemessen an den haltlosen Zuständen in den 1980er-Jahren ist ihre juristische Situation allen restriktiven Revisionen zum Trotz wohl besser. Die heute viel höhere Schutzquote ist jedenfalls ein starkes Indiz hierfür. Gegenwärtig liegt die entscheidendste und einschneidendste Hürde an den europäischen Aussengrenzen.
Ein Begriff, der zu dieser Zeit aufkommt und dem Sie im Buch besonders viel Gewicht verleihen, ist die Ausweitungsthese. Worum geht es dabei?
Die Ausweitungsthese war in den 1980er-Jahren eine wichtige Argumentationslinie der Asylbewegung. Sie besagt, dass restriktive Massnahmen und Logiken, die zunächst in der Asylpolitik zum Zug kommen sich von dort mit der Zeit auf andere Felder und soziale Gruppen ausweiten respektive die Gesellschaft als solche verändern. Die Bewegung ging davon aus, dass das Asylwesen ein Experimentierfeld für autoritäre Entwicklungen darstelle. Ein Geflüchteter in der Bewegung formulierte es damals so: «Wir Ausländer haben eine Funktion als Katastrophenalarm.» Wenn man ohne Widerstand gegen Fremde vorgehen könne, dann stünden bald die demokratischen Errungenschaften auf dem Spiel. Das Interessante an dieser Art, die Asylfrage zu artikulieren, war, dass sie sich nicht in humanitärer Hilfs- und Rettungsrhetorik erschöpfte. Die Ausweitungsthese lief darauf hinaus, die scheinbar scharfe Trennlinie zwischen denen, die dazugehören und denen, die das nicht tun, argumentativ zu überbrücken. Sie erlaubte es, zwischen Geflüchteten und Solidarischen eine gemeinsame politische Sache zu artikulieren. Die Asylbewegten sahen ihre Prophezeiung ab den 1990er-Jahren und vor allem in den 2000er-Jahren bestätigt. Sie argumentierten, die aggressive Missbrauchsrhetorik sei vom Asylbereich in die Angriffe auf den Sozialstaat und die soziale Sicherheit übergesprungen.
Sie schreiben, dass sich die Asylbewegung im Laufe der 1990er- und 2000er-Jahre vom basisgetragenen Aktivismus hin zu einer stärker institutionalisierten Bewegung entwickelt. Hat diese Veränderung der Bewegung den Wind aus den Segeln genommen?
Die Institutionalisierung war wohl fast unvermeidlich. Das Phänomen ist in der Forschung zu sozialen Bewegungen bekannt. Viele einstige Basisinitiativen und Komitees gingen im Zug der Krise der Asylbewegung im Lauf der 1990er-Jahre entweder ein oder professionalisierten sich und nahmen dabei den Charakter von NGOs an, bei denen es Spender:innen auf der einen und bezahlte Angestellte auf der anderen Seite gibt. Diese Professionalisierung hat geholfen, um Kontinuität und Struktur zu schaffen, vor allem bei langfristigen Projekten und in der internationalen Vernetzung. Doch mit dieser Entwicklung gingen auch einige Nachteile einher. Gegenüber den 1980er-Jahren nahm die Protestdynamik deutlich ab. Aber das hatte auch mit der zunehmenden Vereinnahmung durch Einzelfallarbeit zu tun, die es wiederum logisch erscheinen liess, hierfür professionelle Rechtsberatungsangebote zu schaffen. Es stellte für die Bewegung stets ein schwieriger Balanceakt dar, die für das Wissen um die Behördenpraxis unerlässliche Einzelfallarbeit zu leisten und gleichzeitig auch Zeit und Ressourcen für Analyse, Reflexion, öffentliche Wortmeldungen und Protestaktionen zu haben.
Apropos Einzelfallarbeit: Während der Arbeit an Ihrer Dissertation, aus der schliesslich dieses Buch entstanden ist, haben Sie 2022 erfolgreich vor dem Bundesgericht geklagt, um Einsicht in die Asylakten des kongolesischen Philosophen Mathieu Musey zu erhalten. Wer war Mathieu Musey, und warum waren seine Asylakten für Ihre Forschung so wichtig?
Mathieu Musey war ein kongolesischer Philosoph, der in den 1970er-Jahren über ein katholisches Bildungsnetzwerk in die Schweiz kam, um an den Universitäten Freiburg und Bern zu forschen. Er war keine anonyme Figur, sondern ein Intellektueller, der sich sowohl im akademischen Bereich als auch exilpolitisch gegen das Mobutu-Regime engagierte. Musey und seine Familie wurden nach 16 Jahren in der Schweiz trotz breiter Solidarität abgeschoben. Musey galt oft als Spezialfall, aber in der Affäre verdichtete sich doch die asylpolitische Auseinandersetzung der Zeit. Der Zugang zu den entsprechenden Akten schien mir deshalb zentral, um die Asylgeschichte jener Zeit zu verstehen.
Von so zentraler Bedeutung, dass Sie einen fünfjährigen Rechtsstreit in Kauf nahmen.
Natürlich geht es nicht nur um den Fall von Mathieu Musey, sondern darum, wie der Staat mit historischen Dokumenten umgeht und ob er solche Informationen zurückhalten darf. Das Staatssekretariat für Migration hat sich auf den Daten- und Persönlichkeitsschutz – der Familie Musey! – berufen, aber mir schien klar, dass es dabei vor allem darum ging, unangenehme Informationen unter Verschluss zu halten. Der Staat hat auf Zeit gespielt, um die Aufarbeitung zu behindern.
Das erinnert an die Fichenaffäre.
Ja, und zur Fichenaffäre gibt es auch inhaltliche Parallelen: In seinem autobiografischen Buch, das er bei einer mennonitischen Bauernfamilie im jurassischen Versteck geschrieben hat, prophezeit Musey gewissermassen den Kopp- und Fichenskandal. Er schrieb 1987, das EJPD wirke wie ein «Staat im Staat». Das perfide ist, dass der «Schnüffelstaat» von einst noch die Staatsräson und das Amtsgeheimnis anrufen musste, um sich nicht in die Karten blicken lassen zu müssen. Heute dient hierzu ein instrumentalisiertes Datenschutzargument, das unschuldig daherkommt: Es geht scheinbar nicht um Staatsschutz, wenn Einsicht in Akten und Archive verweigert wird, sondern um die Rechte und Interessen von privaten Dritten. Ich aber glaube, dass ein falsch verstandener Datenschutz droht, den Mächtigen mehr zu nützen, als die ‹kleinen Leute› vor echten Problemen zu schützen.
Am Ende kam die Akteneinsicht aber zu spät, um noch in Ihr Buch einzufliessen. Wie war das für Sie?
Frustrierend. Besonders das Gefühl, am kürzeren Hebel zu sein, obwohl man im Recht ist. Vor Kurzem habe ich die umfangreichen Akten aber endlich erhalten. Ich habe sie noch nicht anschauen können, gedenke aber, sie in einem neuen, auf der Disseration aufbauenden, aber nicht denselben akademischen Vorgaben unterliegenden Buch bei einem Publikumsverlag auszuwerten.
Was wünschen Sie sich für die zukünftige Forschung zur Geschichte des Asyls in der Schweiz?
Mit entsprechenden Sprachkenntnissen und Kontakten wäre es möglich, die Perspektiven und Erfahrungen jener Menschen einbeziehen, die selbst geflüchtet sind und hier im Exil gelebt haben. Es gibt noch viele ungehörte Geschichten, die durch Oral-History und die Arbeit mit Archiven von Diaspora- und Exilgemeinschaften erschlossen werden könnten. Gleichzeitig sollten die rechtlichen Hürden für den Zugang zu Akten aus asyl- und ausländerrechtlichen Fällen reduziert werden. Es wäre wichtig, dass Forschende die Möglichkeit erhalten, diese Akten sorgfältig und verantwortungsvoll auszuwerten, um ein umfassenderes Bild der Asylpolitik und ihrer Auswirkungen zu gewinnen. Nur so kann die historische Forschung fundierte, tiefenscharfe Beiträge zur öffentlichen Debatte in der Asylpolitik leisten.