Die Stadt und die Stadt

Der Bahnhof Stettbach ist unterirdisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch er steht wie kaum ein anderer Ort für die Grenzenlosigkeit der Stadt.

 

Das Myzel, also das feingliedrige Wurzelnetzwerk, dass die Pilze verbindet, erstreckt sich je nach Pilzart über mehrere Kilometer, obwohl wir auf der Oberfläche nur kleine braune Hüte sehen. In diesem Sinn ist auch der Bahnhof Stettbach ein Pilz – unter der Oberfläche liegt die Wahrheit begraben. Über 300 Meter ist der unterirdische Perron lang. 

 

In einem anderen Sinn hat der Bahnhof Stettbach aber mehr Ähnlichkeiten mit dem Himmelskörper Pluto – oder ist der jetzt doch ein Planet? Wie Pluto steht auch der Bahnhof Stettbach am äussersten Ende des stadtzürcher Eisenbahnuniversums, hier bohrt sich die S-Bahn entweder aus der oder in die Dunkelheit des Zürichbergtunnels. Hier endet auch das 7i-Tram, das sich hier nach der 40-minütiger Fahrt von Wollishofen nach Stettbach kurz erholen kann, bevor es sich wieder auf die mühsame Reise zu einer anderen Stadtgrenze macht.

 

Was also kann der Bahnhof Stettbach uns über die Grenzen einer Stadt – oder ihre Grenzenlosigkeit – erzählen?

 

Im Schlund

Wer im Bahnhof Stettbach ankommt, hat zuerst das Gefühl, mitten in einem Tunnel gestrandet zu sein. Was gar nicht so falsch ist: Der Bahnhof Stettbach liegt am Portalbereich des Zürichbergtunnels. Er wurde bereits in den 1980er-Jahren, noch vor dem Ausbruch des Tunnels, gebaut, weil dieser von Dübendorfer Seite mit einer Tunnelbaumaschine aufgebrochen werden musste. Weil die Betonröhre aber nicht sehr einladend ist, verzierte der Künstler Gottfried Honegger im Auftrag der Stadt Dübendorf die Wände mit farbigen Blechpaneelen. Eine schöne Idee, von der aber nur noch die graffitiverschmierten Überreste zu bestaunen sind. 

 

Will man nach der Ankunft im Schlund mit der Rolltreppe hinauffahren und den Bahnhof Stettbach überblicken, muss man dort stehen, wo die Dübendorferstrasse, die als Allee Schwamendingen fast in der Mitte teilt, zur Zürichstrasse in Dübendorf wird. Das Bahnhofsgebäude ist unscheinbar, der Platz wurde 2008 neugestaltet und ist geprägt von einem Kiosk, der Tram- und Bushaltestelle und viel Beton. Wer sich umdreht, sieht grasende Kühe und Einfamilienhäuser im satten Grün. 

 

Gebaut wurde der Bahnhof Stettbach eigens für die S-Bahn, das damals grösste Investitionsprojekt im Schweizer Schienenverkehr seit dem Bau der Lötschberglinie 1913. Der Kanton Zürich vernetzte sich so stärker mit den umliegenden Regionen. Wobei ein SBB-Funktionär bei der Eröffnung der S-Bahn sogar noch einen Schritt weiterging: Die S-Bahn werde nicht nur verkehrspolitische, sondern auch gesellschafts- und siedlungspolitische Auswirkungen nach sich ziehen, wird er damals von der SDA zitiert.

 

Er sollte recht behalten, und wohl kein Ort zeigt das besser als der Bahnhof Stettbach. 

 

Dübendorf hoch hinaus

Die erste Bushaltestelle in Dübendorf nach dem Bahnhof Stettbach heisst Hoffnung. Im Hintergrund türmen sich drei Hochhäuser auf und wer möchte, kann darin ein Sinnbild sehen. Denn: In Dübendorf herrscht seit der Inbetriebnahme des Bahnhofs Stettbach ein Bau- und Populationsboom: Lebten 1973 noch 20 000 Menschen in Dübendorf, waren es letztes Jahr rund 30 000. 

 

Der Grund: Mit dem S-Bahn-Anschluss ist die Kleinstadt näher an Zürich herangerückt. Dübendorf ist attraktiv geworden für Menschen, die in Zürich arbeiten, aber dort nicht leben können oder wollen. Und was sind schon acht Minuten mit der S-Bahn? 

 

Das ist ein zentrales Verkaufsargument für Immobilieninvestoren: Wer die Homepage des Jabee-Towers besucht – das 100 Meter hohe Hochhaus in Dübendorf, das seit seiner Fertigstellung 2019 der höchste Wohnturm der Schweiz ist –, bekommt zuerst einen Werbefilm gezeigt, der mit Aufnahmen des Bahnhofs Stettbach beginnt. Die Botschaft ist klar: Keine Angst, von hier bist du schnell weg. Wenig überraschend steigen die Mieten dank des Baubooms in Dübendorf seit Jahren. 

 

Wo also hört eine Stadt auf? Politisch ist die Antwort einfach – an ihren Stadtgrenzen. Wenn man sie aber als Mischung aus urbanem Selbstverständnis, vielfältigen Lebensrealitäten und hohen Mieten versteht, sind ihr kaum Grenzen gesetzt. Manchmal braucht es nur einen unscheinbaren Bahnhof mit düsterem Perron und verschmierten Wänden, und die Stadt schwappt über ihre Grenzen hinaus.

 

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