Die Schweiz arrangiert sich mit Indigenen

Das Musée d’ethnographie de Genève hat Vertretern einer wichtigen indigenen Volksgruppe aus Kanada zwei heilige Objekte zurückerstattet. Der Anlass hat mit der unrühmlichen Vergangenheit zu tun. 2023 jährt sich zum hundertsten Mal der erfolglose Besuch eines Vertreters der Haudenosaunee beim Völkerbund in der Rhonestadt.

Früher hätte man ihn ohne Zaudern Medizinmann genannt. Als ob wir seine Rolle in der Kultur der Indigenen so genau verstehen würden. Clayton Logan ist ein Hüter alten Wissens der Houdenosaunee, wie sie sich selber nennen. Er stammt aus der Six-Nations-Gruppe der Seneca und ist hergereist aus dem Gebiet seines Volkes in Kanada, im Westen von Toronto. Mit dem Westernhut und der kleinen Adlerfeder im Hutband, die ihn auszeichnet, spricht er monoton, mehr in sich hinein als zum Publikum. Vor ihm sitzen an diesem 7. Februar 2023 wohl hundertfünfzig Personen im Auditorium des Musée d’ethnographie de Genève und schweigen. 

Logan preist die Mutter Erde. Er erweist dem Wasser die Ehre als Strom des Lebens. Er nennt «drei Schwestern» auf der Erde: Mais, Kürbis, Bohne. Er preist die Luft, die Bäume und erläutert ihre Hervorbringungen. Er wendet sich an Mond und Sterne. 

Rückgabe heiliger Objekte

Dann folgt der Hauptakt. In zwei Kartonschachteln werden sie gebracht. Zwei Objekte, die seit fast zweihundert Jahren im Museum lagern und die bis vor Kurzem noch in den Vi­trinen der Sammlung ausgestellt waren. Jetzt werden sie den Haudenosaunee zurückgegeben. Calvinistisch formlos. In festlichem Gewand und mit feierlichem Zeremoniell dagegen begehen die drei Delegierten der Six Nations die Übernahme der Schachteln. Der Inhalt wird nicht vorgezeigt, es sind heilige Objekte. Eine Maske und eine Rassel, die traditionell für medizinische Zwecke genutzt werden. 

Ein Mitglied der Stadtregierung hat soeben formell erklärt, dass die Haudenosaunee rechtmässige Besitzer der beiden Objekte seien. 1825 hat sie ein Mitglied der Genfer Bourgeoisie dem Vorläufer des heutigen Museums geschenkt: Jules Pictet – genannt Pictet de Sergy –, ein Historiker, Politiker und damals Staatsrat. Der übrigens als Verantwortlicher der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft den Ankauf der Rütliwiese fürs Schweizervolk betrieben und verhandelt hatte. Man darf bezweifeln, dass er glücklich gewesen wäre, wenn ein Pfeil aus Tells Armbrust in einem Langhaus der «Rothäute», wie sie damals hiessen, aufbewahrt worden wäre. Woher er die Objekte hatte, kann das Museum noch nicht sagen. Man forsche noch. Denn zur Entkolonialisierung gehört, möglichst viel über die Entstehung der Kolonialisierung zu wissen.

Die «Urvölker» und «die höher Entwickelten»

Nun, man kann vermuten. In Genf gab es eine Tradition der Beschäftigung mit «Urvölkern». Im Geist dieses philanthropischen Kolonialismus schrieb etwa der Ethnologe und Naturwissenschafter Henri-Alexandre Junod: «Wenn wir uns also zu diesen Primitiven hi­nunterbeugen, um ihre Vorstellung von der Welt und vom Leben zu entschlüsseln, scheint es, als würde unsere eigene alte Geschichte vor unseren Augen auftauchen. Einige Pro­bleme unserer zivilisierten Seelen, die vergrösserte Töchter dieser primitiven Seelen sind, lassen sich erklären. Wir werden uns unserer selbst und der Geheimnisse unserer Evolution besser bewusst.» (Junod, Ba-Ronga,1898)

Man sammelte Kulturobjekte dieser Völker, um etwas vom angeblich früheren Zustand der Menschheit zu erahnen. Und versuchte, deren «Kultur» zu erklären und zu schützen. Junod wurde leitendes Mitglied des «Bureau International pour la Défense des Indigènes» und empfing in dieser Eigenschaft vor genau hundert Jahren zum ersten Mal einen Vertreter der Six Nations in der Schweiz: Deskaheh – der Name ist ein Ehrentitel, mit bürgerlichem Namen hiess er Levi General – kam Ende August 1923 nach Genf. Er wollte vorsprechen beim Völkerbund, der neu gegründeten Vernetzung der Nationen: Dieser solle die Unabhängigkeit der Six Nations vom sich immer machtvoller herausbildenden staatlichen Gebilde namens Kanada anerkennen. Die Indigenen beriefen sich auf alte Verträge mit Grossbritannien, dem einstigen Mutterland Kanadas, die ihre Autonomie garantiert hatten.

Ein indigener Diplomat

Deskaheh, sein Anwalt und seine Freunde und Freundinnen organisierten eine öffentliche Kampagne zur Unterstützung dieses Anliegens. Viele, namentlich auch Frauen, sympathisierten mit dem Anliegen der Indigenen. Von der grossen Politik dagegen wurde Deskaheh abgelehnt. Während Monaten weibelte der indigene Diplomat unermüdlich, hielt Vorträge in der ganzen Schweiz. Ein Dokument im Archiv der ETH berichtet vom Auftritt Deskahehs im Schwurgerichtssaal der Stadt Zürich am 19. Oktober 1923. «Er erscheint also im Indianercostüm, das macht natürlich schon an und für sich eine grosse Attraction!», schrieb der berühmte Geologe Prof. Arnold Heim im Brief an einen Freund: «Er spricht ein ungebildetes Englisch, aber mit klarer und lauter Sprache, so dass man ihn bis zuhinterst versteht, und ganz frei, wie es ihm aus dem Herzen kommt – ein hochintelligenter Mensch.» Der Saal ist zum Bersten voll, so dass der Raum noch ein zweites Mal reserviert werden muss. Frau Bodmer-von Muralt, die im Publikum sitzt, eine Verwandte des berühmten Malers von Indigenen Karl Bodmer, spendet 200 Franken für die Kampagne.

Im «Indianerkostüm» also tourt Deskaheh durch die Schweiz. Ein Foto aus privatem Familienbesitz zeigt es. Da sitzt ein Mann mit mächtiger Federhaube in einer bürgerlichen Stube, umgeben von Personen aus der Gastgeberfamilie und Bekannten. Deskaheh logiert bei der Unternehmerfamilie Haug, deren Familienalbum mich vor Jahren schon auf das Thema gebracht hatte. Doch das ist nicht das traditionelle Outfit der Haudenosaunee. Es wirkt wie ein Kostüm aus der Unterhaltungsindustrie jener Zeit. Tatsächlich scheinen die Indigenen sich genau überlegt zu haben, wie ihr Delegierter den Staatschefs und womöglich sogar gekrönten Häuptern gegenüberzutreten habe. Mit der traditionellen Haube ihrer Völker macht man wenig Staat. Es muss mächtiger aussehen, einer Krone ähnlicher.

Bittgang von Tür zu Tür

Obwohl zeitweise schwer erkältet, kämpft Deskaheh mit höchstem Pflichtbewusstsein. Schreibt Briefe, diktiert einer Helferin Texte in die Maschine, die sie dann übersetzt. Trotz aller Unterstützung wird Deskaheh vom Völkerbund nicht einmal empfangen. Er darf den Saal nicht betreten. Kann nicht vor der Versammlung reden. Muss sich mit der Versendung eines Manifestes an die Delegationen begnügen; der «Appell der Rothäute» erklärt eindringlich die Ursache des Konfliktes mit Kanada und begründet die alten Rechte der Indigenen. 

Auf Anregung des Genfer Indigenenbüros kontaktiert Deskaheh selbst den Schweizer Bundesrat. Bundespräsident Karl Scheurer notiert in seinem Tagebuch am 12. November 1923 von oben herab: «Ein Indianer kommt, Häuptling der Sioux-Nation.» – eine Verwechslung wie Schweiz und Schweden – «Er wird beim Völkerbund gegen die englische und kanadische Regierung vorstellig, die eine alte Vereinbarung nicht halten wollen. Die Leute werden auch modern.» Also: Heutzutage treten «Indianer» nicht mehr nur im Zirkus, sondern im Bundeshaus auf. 

Aber der Bundesrat handelt auch nicht. In zunehmender Verzweiflung plant Deskaheh, nach Italien zu reisen und den Papst zu besuchen. Er hat auch an den italienischen Ministerpräsidenten «Sig. Mussulini» geschrieben, wie aus seinen Briefen hervorgeht, die in grosser Zahl in Rochester im Norden des US-Bundesstaates New York lagern. Dahin sollte Deskaheh zurückkehren; die kanadischen Behörden liessen ihn nicht mehr ins Land. Ich durfte diese Briefe studieren, als ich ein Buch über Deskahehs Mission schrieb. («Ein Irokese am Genfersee», Bilgerverlag 2016, Unionsverlag 2018). Es entstand die einzige Darstellung von Deskahehs Mission aus Schweizer Sicht.

Nach langen 16 Monaten in der Schweiz reist Deskaheh, ausgelaugt, erfolglos, krank zurück in seine Heimat. Wo er bald danach, am 27. Juni 1925, starb. Den Überlieferungen nach mit dem Gesicht gegen Kanada gerichtet.

Feiern zum 100-Jahr-Jubiläum

2023 jährt sich Deskahehs Ankunft in Genf zum hundertsten Mal. Nun findet eine ganze Perlenkette von Gedächtnisanlässen zur Erinnerung an diese historische Mission statt. Nach der Rückgabe von Maske und Rassel und der Pflanzung eines Friedensbaums folgen eine Ausstellung, eine Konferenz, ein Marsch durch die Stadt. Denn der antikolonialistische Diskurs hat mittlerweile Politik und Öffentlichkeit erreicht.

Brennen Ferguson aus der Gruppe der Tuscarora, eines der drei Delegationsmitglieder im Musée d’ethnographie, erzählt, wie traurig ihm geworden sei, als er die Maske zum ersten Mal in ihrer Vitrine gefangen gesehen habe. Von nun an aber werde sie mit den notwendigen Zeremonien für die Rückkehr bereitgemacht, damit sie wieder ihren Zweck erfülle. Einer dieser Zeremonien darf das Pu­blikum beiwohnen. Die Delegierten entzünden ein Feuer in einer Schale. Clayton Logan, der alte Hüter der Traditionen, spricht Worte in seiner Sprache, während er Tabak ins Feuer wirft, um es zu nähren. So würden die Worte vom Feuer aufgenommen und mit dem Rauch weiterverbreitet, hat er erklärt. Als Dank für die Restitution übergibt die Delegation zwei traditionell geflochtene und bekleidete Maispuppen ans Museum. 

Hüter der Biodiversität

Das sind zwar symbolische Handlungen. Doch solche können Konsequenzen haben. Denn die Indigenen wollen nicht nur in ihrer kulturellen Autonomie respektiert werden. Sie wollen die Gesellschaft und die Umwelt mitgestalten. 

Im Dezember 2022 endete in Montreal, Kanada, eine Konferenz über Biodiversität, die «Cop 15». Sie verabschiedete eine Resolution, die einen neuen Ton anschlägt. Der Text verpflichtet die Regierungen, bis 2030 fast einen Drittel der Erde in natürlichem Zustand zu erhalten. Indigene Völker werden im Dokument 18 Mal erwähnt, wenn es um die Zielvorgaben geht, die biologische Vielfalt zu erhalten und wiederherzustellen. Erwähnt werden wissenschaftliche Studien, die zeigten, dass indigene Völker die besten Hüter der Natur seien. Die Formulierung des Textes ist eindeutig, wie etwa die Zeitschrift «Guardian» rühmt. «Von Indigenen geleitete Naturschutzmodelle müssen in diesem Jahrzehnt zur Norm werden, wenn wir wirklich etwas für die biologische Vielfalt tun wollen.

Auch das sind erst Versprechen. Aber sie sickern in die Praxis ein. Nachdem in den letzten Jahren eine Reihe erbitterter Kämpfe um Pipelines stattgefunden hatte, bei denen die Gemeinschaften der First Nations scheinbar ohnmächtig gegen Grossunternehmen antraten, unterzeichneten Indigene vor Kurzem eine beispiellose Vereinbarung. Die «Tobacco Plains Indian Band» (Eigenbezeichnung: Ya’qit?a-knuq‡i ‘it), eine Gruppe im Südosten von British Columbia, konnte dem Bergbauunternehmen NWP Coal Canada ein Zugeständnis abringen, das der indigenen Führung ein Veto gegen geplante Projekte einräumt und damit die Souveränität der Indigenen über ihr Territorium deutlich verstärkt. Weitere derartige Projekte sind in Vorbereitung.

Der Planet, das ist heute vielen klar, braucht eine andere Ausrichtung im Naturschutz. «Wir achten alle Wesen gleich wie den Menschen, die kleinsten, die mittelgrossen und die grössten», sagte sinngemäss Clayton Logan, der Hüter der Traditionen der Six Nations in Genf. Indigene sind uns da um Jahrhunderte voraus.

Buch und Veranstaltungen

Willi Wottreng: Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte. Bilgerverlag 2016, Unionsverlag 2018.

Öffentliche Jubiläumsanlässe 2023 in Genf:

21. Juli, Marsch von der UNO zum Palais Wilson als Empfang durch die Genfer Bevölkerung. 

Im Juli: Ausstellung entlang des Sees vor dem Palais Wilson mit Bildtafeln zur Geschichte von Deskaheh und der Haudenosaunee .

Mitte Juli (genaues Datum unbestimmt): Begleitveranstaltung zu Deskaheh während der Tagung des UNO-Expertenmechanismus für die Rechte indigener Völker (EMRIP).

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