Die Rückseite verzaubern

Im Mai 2006 ertönte erstmals Chorgesang in Zürcher Hinterhöfen. Zehn Jahre später steht die nunmehr 6. Ausgabe des «Zürcher Hofgesangs» in den Startlöchern.

 

 

Zürich wird verdichtet, und wo die Menschen dicht an dicht leben, wissen sie es zu schätzen, wenn ihre Umgebung einigermassen menschenfreundlich gestaltet ist. Das kann ein Innenhof sein, in dem man friedlich sitzen und mit der Nachbarin plaudern oder die Kleinen im Sandkasten beobachten kann. Oder gar einer, in dem sich die Nachbarschaft trifft und gemeinsam etwas veranstaltet.

Wer jedoch aus den Fenstern seiner Wohnung oder vom Balkon runter in den Innenhof blickt, sieht häufig nur eines, nämlich parkierte Autos. Freiraum, Ruhe, Duft nach frisch gemähtem Rasen? Fehlanzeige.

 

Platz für Menschen statt Autos

Einer, der das ganz und gar nicht okay findet, ist der Biologe und Umweltberater Andreas Diethelm. Also gibt er Gegensteuer, und das bereits zum sechsten Mal seit dem Start vor zehn Jahren: Nächsten Mittwoch startet die Ausgabe 2016 des «Hofgesangs zur Rückeroberung der Höfe».

Das Rezept für diese «Rückeroberung» ist zwar organisatorisch anspruchsvoll, von der Idee und Durchführbarkeit her jedoch so einfach wie effektiv: Wo Chöre singen, halten sich die Menschen gern auf – und die Autos fern. Also gilt es, Chöre dafür zu gewinnen, für einmal nicht in einem Saal oder einer Kirche aufzutreten, sondern unter freiem Himmel und mitten in der Stadt Zürich. Diethelm, der selber beim Chor «Kultur und Volk» mitsingt, berichtete anlässlich der Medienorientierung zur dritten Ausgabe des «Hofgesangs», wie er auf die Idee kam (vgl. P.S. vom 6. Mai 2010): Es war ein Bewohner des «Dreieck» im Zürcher Kreis 4, der ihn darauf brachte – indem er die Frage, ob es dort eigentlich ein spezielles Lebensgefühl gebe, bejahte und sogleich präzisierte, er spüre dieses Lebensgefühl genau seit dem Zeitpunkt, als die Parkplätze im Hof aufgehoben worden seien und die BewohnerInnen sich den gewonnenen Freiraum zur gemeinsamen Nutzung eingerichtet hätten.

 

Gute Nachbarschaft braucht gute Höfe

In der Pressemitteilung zum 6. Hofgesang stellt Diethelm denn auch den Hofgesang und dessen Auswirkungen in einen grösseren Zusammenhang: «Wir streiten über Sportstadien, Kongresshäuser, Museen, Polizei- und Justizzentren, auch mal über die Überbauung eines ganzen Stadtquartiers. Sehr zu Recht. Wir reden auch mal über die Gestaltung der Zwischenräume – eines Viertels des gesamten Stadtraums. Wir schweigen aber zum Nutzungswandel der Höfe von Altliegenschaften. Der Hof mutierte in den vergangenen Jahrzehnten schleichend vom Werkplatz zum Parkplatz.» Und dadurch, das steht für Diethelm fest, «wurde der guten Nachbarschaft der Boden entzogen».

Wie das Projekt Hofgesang hier Gegensteuer geben kann, umschreibt er so: «Wir singen in diesen Höfen, um das Schweigen zu brechen, um den Chorgesang mitten ins Leben zu tragen, an den Wohnort, unter die Fenster und Balkone – frei Hof. Wir küssen die zweckentfremdeten Höfe wach und feiern die einladenden. Wir lassen mit jedem Mal, wenn ein Hof erklingt, die Frage anklingen: Welche Bedeutung wollen wir der Rückseite unserer Stadt geben, den Höfen? Die von Abstellplätzen oder die von Lebensräumen?» So gefragt, gibt es eigentlich nur eine Antwort. Also nichts wie los – es gibt noch viele Höfe wachzuküssen…

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