Die Rückkehr der Religion

Die Linke sollte sich auf ihr religionskritisches Fundament zurückbesinnen. Statt einer «Islam-Debatte» braucht es eine ergebnisoffene Diskussion über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft.

 

 

Stephanie Siegrist

 

 

 

Die grosse Rückkehr des Glaubens in die öffentliche Sphäre. So könnte man die aktuellen Entwicklungen zusammenfassen, sind die Religionen in den Medien doch omnipräsent: Die Reformierte Kirche ist in einem fundamentalen Strukturwandel begriffen, die evangelikalen Gemeinschaften boomen, die katholische Basis befindet sich im Dauerzwist mit einem Papst, der den Kapitalismus genauso ablehnt wie die Gleichberechtigung der Geschlechter, und dann sind da noch all jene Religionen, die in unseren Breitengraden relativ neu sind. So der Islam, der wegen fundamentalistischer Agitation regelmässig für negative Schlagzeilen sorgt. Gleichzeitig belegen Statistiken, dass sowohl die Zahl der ‹Kulturgläubigen› als auch der Konfessionslosen massiv zugenommen hat. Angesichts dieser Ausgangslage sind verschiedene Problemkreise ersichtlich, welche das friedliche Zusammenleben aller BürgerInnen in diesem Land strapazieren.

 

Keine Kollektivierung von Menschen

Eines der historischen Fundamente der politischen Linken ist, dass sie eine religiöse Lesart der Gesellschaft ablehnt und sie stattdessen anhand  von sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten analysiert. Umso erstaunlicher ist, dass die progressiven Kreise gegenwärtig religiöse Kategorien bemühen. So hielt die SP Schweiz eine spezifische Islam-Tagung ab, statt eine gesamtgesellschaftliche Debatte über das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften zu führen. Damit trat sie in einen von der politischen Rechten diktierten Diskurs ein, gemäss dem weder der Islam noch die MuslimInnen in die schweizerische Mehrheitsgesellschaft integrierbar sind. Genauso wie die politische Rechte kategorisch gegen ‹den› Islam und gegen ‹die› MuslimInnen ist, schicken sich Teile der politischen Linken nun an für ‹den› Islam und ‹die› MuslimInnen Position zu beziehen. Eine gefährliche Reduktion, die zum einen verhindert, dass eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Islamverständnissen stattfindet und eine Unterscheidung zwischen einem liberalen, verfassungskonformen und einem gesellschaftsunverträglichen politischen Islam vorgenommen werden kann. Zum anderen werden alle friedliebenden und gut integrierten MuslimInnen in einen Topf mit einer kleinen, aber umso lauteren konservativ-reaktionären Minderheit und islamistischen ExtremistInnen geworfen.

 

Deshalb hat sich die interkantonale Gruppe von divers-religiösen und areligiösen SP-Mitgliedern namens integraUNIVERSELL gegründet. Wir sind der Überzeugung, dass auch Schweizer BürgerInnen muslimischen Glaubens zuallererst Frauen und Männer mit ihren jeweils persönlichen Lebensgeschichten, Bedürfnissen und im Falle eines Migrationshintergrunds auch ethnisch-kulturell vielfältig sind. Eine Kollektivierung von Menschen anhand der Religion lehnen wir genauso ab wie eine anhand des Geschlechts, der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung. Vielmehr setzen wir uns dafür ein, dass in einer sorgfältigen Dekonstruktion der polarisierten Debatte auf religiösen Überzeugungen beruhende Praktiken und Forderungen strikt politisch bewertet werden. Dabei steht im Zentrum, ob diese mit unseren gesellschaftlichen Prinzipien und den Menschen- und Verfassungsrechten vereinbar sind. Wir üben folglich klassische Religions- und Patriarchatskritik, ganz gleich, ob es im islamischen Kontext die Verhüllung minderjähriger Mädchen, im evangelikalen die Abtreibung, im katholischen die Diskriminierung der Homosexuellen oder bei den Zeugen Jehovas die Bluttransfusion betrifft.

 

Wir sind der Ansicht, dass ein Verzicht auf Kritik oder Infragestellung mancher Glaubensmanifestationen einer Infantilisierung der Gläubigen gleichkommt, da es suggeriert, dass sie einerseits nicht in der Lage sind zu verstehen, dass Kritik an einer Glaubenspraktik weder Kritik an der ganzen Religion noch Kritik an allen Gläubigen ist. Andererseits wird unterstellt, dass sie nicht zwischen den zwei Sphären zu unterscheiden vermögen: Zwischen jener des unantastbaren Inneren, Privaten und einer öffentlichen, die sich nach den gesellschaftlichen Normen und dem Wohl der Gesellschaft ausrichtet. Indem wir dies feststellen, bestreiten wir weder, dass religiös motivierte Diskriminierung existieren, noch verneinen wir, dass  Religionen und Weltanschauungen sinnstiftend wirken, einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten und der religiös-soziale Flügel innerhalb der Sozialdemokratie eine lange Tradition hat. Wir richten uns aber gegen die Reduzierung und Instrumentalisierung von Menschen anhand von Identitätsmerkmalen.

 

Wir von integraUNIVERSELL lehnen die öffentlich-rechtliche Anerkennung der islamischen Dachverbände zum jetzigen Zeitpunkt ab. Stattdessen setzen wir uns angesichts der von der SP Schweiz lancierten «Islam-Debatte» dafür ein, dass eine ergebnisoffene Diskussion zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften geführt wird, da sich in Bezug auf Frauen-, Kinder- und LGTBI-Rechte Fragestellung in diversen religiösen und weltanschaulichen Kontexten ergeben. Mit Blick auf die jetzige «Islam-Debatte» ist uns wichtig, dass Herausforderungen, die mit dem sogenannten politischen Islam einhergehen, vernünftig und sachlich diskutiert werden. In diesem Zusammenhang befürworten wir eine Diskussion, in der auch bereits anerkannte Religionsgemeinschaften sowie andere Anwärterinnen daraufhin überprüft werden, wie sie es mit dem Gleichstellungsgebot von Frau und Mann sowie mit dem Diskriminierungsverbot halten und in der auch eine mögliche Aberkennung des Status zur Disposition steht. Da alles, was mit dem Thema Religion und (Nicht-)Glauben zu tun hat, die Menschen ihn ihrem Innersten berührt und entsprechendes Verletzungspotenzial besitzt, setzen wir uns dafür ein, dass die Diskussion mit Empathie, Wertschätzung und gegenseitigem Respekt geführt wird. Deshalb möchten wir auch, dass  SozialdemokratInnen mit einem aufgeklärt-emanzipativen Ansatz nicht wie in der Vergangenheit geschehen mit Rassismus- und Islamophobievorwürfen konfrontiert oder in die rechte Ecke gestellt werden. Vielmehr möchten wir die GenossInnen mit unterschiedlichen Haltungen wieder einbinden und eine echte basisdemokratische Diskussion zu den spannenden Fragen unserer Zeit ermöglichen.

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