«Die Rentenhöhe der AHV soll existenzsichernd sein»

Roxane Steiger

 

Am 25. September stimmen wir über einen erneuten Reformversuch der AHV ab. Wieso die AHV 21-Vorlage für linke Parteien und die Gewerkschaften nicht akzeptabel ist, erklärt die neue Generalsekretärin des VPOD Natascha Wey im Gespräch mit Roxane Steiger.

 

Ich höre in der öffentlichen Debatte zur AHV 21-Reform Frauenstimmen, die die Erhöhung des Rentenalters als wichtigen Schritt in Richtung Gleichstellung sehen. Sie möchten gleich lange arbeiten wie die Männer. Weshalb leuchtet Ihnen das nicht ein?

 

Natascha Wey: Es sind vor allem bürgerliche Frauen, die versuchen, diese Reform als Gleichstellungsprojekt zu verkaufen. Zur Ansicht, dass das Rentenalter 65 ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung sei,  kann man eine wichtige Gegenfrage stellen: Was hat es mit Gleichstellung zu tun, wenn man länger arbeiten und mehr zahlen muss und am Schluss weniger Leistung erhält? Diese Reform trifft in erster Linie Frauen, die in der Altersvorsorge heute schon schlechter gestellt sind. Deshalb ist das Gleichstellungsargument bei dieser Reform jenes, das mir am wenigsten einleuchtet. Zudem: Wenn Frauen gleich lange arbeiten wollen, dann ist das heute schon möglich. Wenn jemand nicht will, dann sind es die Arbeitgeber. Nicht die AHV-Gesetzgebung.

 

Laut dem Referendumskomitee aus Gewerkschaften und linken Parteien wird die AHV 21-Reform «auf dem Buckel der Frauen» getragen. Wo sind die Frauen bei der Altersvorsorge konkret benachteiligt?

 

Es gibt verschiedene Punkte, die man bei dieser Frage berücksichtigen muss. Einerseits erhalten Frauen heute noch um einen Drittel tiefere Altersrenten als Männer, weil sie weniger verdienen und mehr unbezahlte Arbeit übernehmen. Viele Frauen erhalten bis heute keine Rente aus der Pensionskasse, sondern nur aus der AHV. Und sofern Frauen eine Pensionskasse haben, ist diese nur etwa halb so hoch wie die Pensionskassenrente von Männern. Vor allem die ältere Generation Frauen hat weniger von den heutigen Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit für Frauen profitiert und somit auch weniger von der Möglichkeit, sich eine gute Rente zu erarbeiten. Schliesslich arbeiten viele Frauen wie auch Männer in körperlich extrem anspruchsvollen Berufen, wie zum Beispiel im Pflegebereich, der Reinigung oder der Kinderbetreuung. Einer Erwerbstätigkeit in diesen Bereichen bis 65 nachzugehen, ist fast nicht möglich. Somit ist diese AHV-Reform insbesondere für Frauen, bei denen es eine Rolle spielt, ob sie ein Jahr länger arbeiten oder nicht, ein Schlag ins Gesicht. 

 

Als wir 2017 über die AHV-Reform 2020 abgestimmt haben, war die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 für die Mehrheit der linken Parteien und Gewerkschaften ein akzeptabler Kompromiss. Wie erklären Sie das?

 

Wenn man in die Geschichte der Altersvorsorge zurückschaut, hat die Erhöhung des Rentenalters in der Linken nur eine Mehrheit gefunden, wenn im Gegenzug strukturelle Verbesserungen in der AHV beschlossen wurden. Das war zum Beispiel bei der 10. AHV-Revision so: D as Rentenalter der Frauen wurde von 62 auf 64 Jahre erhöht, man hat mit den Betreuungs- und Erziehungsgutschriften aber einen wichtigen Fortschritt gemacht. Bei der AHV-2020-Vorlage wäre ebenfalls eine strukturelle Verbesserung der AHV vorgesehen gewesen, indem die AHV-Rente um 70 Franken erhöht worden wäre. Es hätte sich somit um eine Stärkung der 1. Säule gehandelt. Mit der aktuell vorliegenden Reform haben wir eine völlig andere Ausgangslage. Es ist die erste Revision in der Geschichte der AVH, bei der man keinen Schritt in Richtung existenzsichernde AHV-Renten gehen will, so wie seit 50 Jahren in der Verfassung vorgesehen. Sondern einen Schritt zurück. 

 

Wie meinen Sie das? 

 

Für die Frauen der neun Übergangsjahrgänge sind Ausgleichsmassnahmen in Form von Rentenzuschlägen sowie reduzierten Kürzungssätzen bei Rentenvorbezug vorgesehen. Doch es erhalten nur zwei Jahrgänge die Rentenzuschläge in voller Höhe, da diese abgestuft ausgezahlt werden. Die Hälfte der halben Million Frauen, die im nächsten Jahrzehnt in Rente geht, erleidet direkt Renteneinbussen. Um es in Zahlen zu fassen: Die Erhöhung des Rentenalters soll zehn Milliarden Franken einbringen. Davon fliessen drei Milliarden zurück in die Kompensationen für die Übergangsjahrgänge. Somit werden die Frauenrenten mit der Erhöhung des Rentenalters um sieben Milliarden Franken gekürzt. 

 

Die Bürgerlichen sehen die AHV kurz vor dem Bankrott, was auf Kosten der jungen Generation gehe. Die linken Parteien und die Gewerkschaften scheinen die Lage der AHV anders zu beurteilen. Wieso?

 

Ich glaube, die Bürgerlichen reden das Problem gross. Das ist eine jahrzehntelange Strategie. Damit wollen sie erreichen, dass das Geld in der privaten Altersvorsorge, also der zweiten und dritten Säule, angelegt wird. Trotz schwarzmalerischen Prognosen hatte die AHV in den letzten Jahren positive Ergebnisse. Die AHV hat von der wachsenden Produktivität, Frauenerwerbstätigkeit und der Migration profitiert. Wir haben aber auch nie bestritten, dass es für die Babyboomer-Generation, die jetzt in Rente geht, eine temporäre Zusatzfinanzierung braucht. Man kann darüber diskutieren, ob das über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder der Lohnbeiträge erreicht werden soll. 

 

Persönlich glaube ich, dass eine Erhöhung der Lohnbeiträge gerechter ausgelegt wäre. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass man bei den Frauen im Namen der Gleichstellung das Rentenalter erhöhen möchte. Wenn aber die Lohnsumme in der AHV stimmen soll, könnte man auch die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen beheben. Wenn Frauen mehr verdienen würden, hätten wir auch eine höhere Lohnsumme, die zur Finanzierung der AHV beitragen würde. Mit dieser Vorlage ist es aber definitiv nicht der Weg, den wir einschlagen würden.

 

Neben der Reform der AHV steht auch eine Reform der 2. Säule an, die im Parlament hängig ist. Was muss dort geschehen und was hat diese Reform mit der AHV zu tun?

 

Die AHV ist die einzige Säule, die für die Frauen – und letztlich für alle Personen mit tieferen Einkommen – funktioniert. Dank den Erziehungs- und Betreuungsgutschriften wird zudem der Unterschied zwischen Männern und Frauen zumindest in der AHV ausgeglichen. Das BVG läuft nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Man zahlt ein, was man am Schluss wieder erhält. Das benachteiligt Menschen mit tiefen Löhnen. Hinzu kommen systemische Diskriminierungen wie der Koordinationsabzug. Diesen muss man sicherlich senken, aber es ist eine Frage der Höhe. Ab einem gewissen Punkt ist es für die unteren Einkommen nicht mehr attraktiv, weil die Lohnbeiträge so hoch sind, dass sie hohe Nettolohnverluste erleiden. Ohne eine gute Rente erreichen zu können. Die Art und Weise wie die Bürgerlichen präsentieren, dass die Senkung des Koordinationsabzugs die Probleme der Altersvorsorge löse, ist nicht richtig. Frauen erhalten so eine leicht höhere Rente, aber schliesslich ist das BVG ein Abbild der Löhne. Dein schlechter Lohn von gestern ist deine schlechte Rente von morgen. Die Reform der 2. Säule muss Lösungen beinhalten, wie sie der SGB vorgeschlagen hat. Der SGB hat mit den Arbeitgebern einen Kompromiss ausgehandelt, der Umlagekomponenten enthält und zum ersten Mal in der Geschichte dazu führen würde, dass die tieferen Einkommen profitieren. Wenn wir also im BVG etwas verändern, muss es für mich in diese Richtung gehen. Der Zusammenhang mit der AHV ist, dass die Rentenhöhe in der AHV existenzsichernd sein soll. Deshalb muss man das Gewicht von der 2. Säule hin in die 1. Säule verschieben. 

 

Die AHV 21-Reform soll die AHV für die nächsten zehn Jahre stabilisieren. Wie können wir die AHV langfristig finanzieren? 

 

Wir haben einen Verfassungsgrundsatz in dem drinsteht, dass die AHV bis zu 50 Prozent über den Bund finanziert werden kann. Dieser Betrag ist längst nicht ausgeschöpft. Auch die Lohnbeiträge könnte man erhöhen und es gibt durchaus weitere Finanzierungsquellen. Ich erinnere mich an die Debatte zu dieser Reform im Ständerat. Im Laufe der Debatte hat Ständerat Alex Kuprecht (SVP) gesagt: «Wir wissen ja alle, die AHV wird nicht bankrott gehen.» Das wissen sogar die Bürgerlichen. Sie wissen genau, dass die AHV zu wichtig ist, als dass man sie sterben lassen würde. Denn die AHV ist eine Staatsaufgabe, gleich wie beispielsweise die Schulen. Ob man sie nachhaltiger finanzieren möchte, ist eine Frage des politischen Willens. 

 

Laut Wahlbefragungen stimmen viele linke WählerInnen für die Vorlage. Können Sie sich erklären wieso? Wie nehmen Sie das innerhalb der Gewerkschaft wahr?

 

Umfragen sind mit Vorsicht zu geniessen. Ich habe derzeit das Gefühl, dass es in die andere Richtung kippt. Die Kampagne der Bürgerlichen hat eher dazu geführt, dass die Menschen in meinem Umfeld viel wütender werden. Unabhängig von der inhaltlichen Frage der AHV ist es eine Sauerei, dass die Frauen in diesem Land immer in Vorleistung gehen müssen. So argumentieren auch die Bürgerlichen: Es gehe um Pflichten und nicht nur um Rechte. Doch in der Gleichstellung geht es, insbesondere bei ökonomischen Fragen, nirgends vorwärts, weder in der Kinderbetreuung, noch bei der Lohngleichheit, noch bei sexueller Gewalt. Und jetzt kommt die Politik und das erste was sie macht, ist das Frauenrentenalter zu erhöhen, weil sie das Gefühl hat, sie könne es dort holen. Das stösst auf grossen Widerstand. Welche Frau soll verstehen, dass die sieben Milliarden, die dadurch eingespart werden, etwas mit Gleichstellung zu tun haben? 

 

Geht es nicht auch um die Dringlichkeit dieser AHV-Reform? Etliche Sanierungsversuche sind schon an der Urne gescheitert.

 

Bei diesem Punkt finde ich die Darstellung der Medien krass. Immerhin sagt selbst der Bundesrat, dass die AHV bis 2029 schwarze Zahlen schreibt. Die Linke hat die letzte AHV-Reform gestützt. Die GLP war zwar nach vorne dafür, hat diese aber immer wieder torpediert. Die FDP und die SVP waren dagegen. Es war nicht die Linke, die die letzte Reform versenkt hat. Wir waren zu Kompromissen bereit. Darum finde ich das Argument, dass keine bessere Reform funktionieren würde, nicht plausibel. Wenn die Bürgerlichen nur noch Abbauvorlagen bringen und bei den wenigen Kompromissen dagegen stimmen, müssen wir etwas unternehmen.  

 

Sie sind seit zwei Monaten neue Generalsekretärin des VPOD. Wofür wird sich der VPOD in Zukunft bei der Altersvorsorge einsetzen?

 

Als Gewerkschaft organisieren wir viele typische Frauenbranchen. Dort brauchen wir höhere Löhne und höhere Renten. In gewissen Branchen müssen wir auch darüber sprechen, was ein frühzeitiger Arbeitsrücktritt bedeutet. Diese Frage stellt sich insbesondere in körperlich sehr anstrengenden Branchen. In typischen Männerbranchen wie im Bau hat man zum Beispiel bereits einen frühzeitigen Arbeitsrücktritt. In der Pflege nicht. Gewerkschaftlich sollten wir gerade auch in anstrengenden Frauenbranchen, wo es Frühpensionierungsmodelle derzeit nicht gibt, Lösungen suchen.

 

Natascha Wey ist seit Juni Generalsekretärin des VPOD, wo sie zuvor seit 2015 als Zentralsekretärin arbeitete. Sie folgt auf Stefan Giger.

 

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