- Gedanken zur Woche
Die Outlaws
Vor Kurzem an der Lesung aus Christina Hugs Roman «Unser Haus», die das P.S. veranstaltet hat, äusserte unser Kolumnist Markus Ernst die These, dass heute die Rechten die Rebellen seien. Während früher an Punkkonzerten die Anarchie gefeiert und propagiert wurde, sind es heute die Rechten, die aus dem Staat Gurkensalat machen wollen. Und: Corona habe gezeigt, dass die Mehrheit der Linken ganz staatstreu und -gläubig die Vorschriften erfüllt habe. Diese These hat durchaus etwas für sich. Es sind die Trumps, die Steve Bannons, die Javier Mileis, die eine Revolution versprechen, die das Bewährte infrage stellen und das System sprengen – oder mit der Kettensäge massakrieren wollen. Und es sind tatsächlich die Linken, die heute traditionell bürgerliche Werte wie die Institutionen und den Rechtsstaat verteidigen. Sogar den Westen an und für sich, wenn man an die Diskussionen rund um den Krieg in der Ukraine denkt.
Daran musste ich denken, als ich am Dienstagabend las, wie die Rechtskommission des Ständerats eine Erklärung verabschiedet hat, die der Schweiz rät, das Urteil von Strassburg über die Klage der Klimaseniorinnen einfach zu ignorieren. Anarchy in the Ständerat, sozusagen. Nun ist die Rechtskommission des Ständerats eine Gruppe, der man kaum viel Rock’n’Roll attestieren würde. Eindrücke können täuschen: Schliesslich hat sich auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter als Punk-Fan geoutet.
Der Hintergrund: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat der Klage der Klimaseniorinnen zu einem Teil recht gegeben (P.S. berichtete). Die Klimaseniorinnen hatten mit der Begründung, dass ältere Frauen besonders vom Klimawandel betroffen sind, gegen die Schweiz geklagt. Der EGMR hat der Klage insofern Recht gegeben, als dass er festgehalten hat, dass der Schutz vor dem Klimawandel ein Menschenrecht sei, das die Schweiz verletzt hat, weil sie zu wenig für den Klimaschutz unternimmt. Konkret bezieht sich der EGMR dabei auf Artikel 8, der das Recht auf Privatleben beinhaltet. Das wirkt auf den ersten Blick etwas befremdlich, aber dieser Artikel wurde schon in früheren Fällen so ausgelegt, dass Risiken für die Gesundheit darunter fallen. Zudem wurde auch in bereits früherer Rechtsprechung in umweltrechtlichen Fällen die Unterlassung von Handlungen als gleichbedeutend mit einer aktiven Verletzung behandelt. Stefan Schlegel, Leiter der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution (SMRI) klassiert das Urteil in einem Interview mit der WOZ als «eigentlich recht konservatives Kompromissurteil». Dies weil der EGMR «die Schwelle für die Betroffenheit des Einzelnen sehr hoch angesetzt und eine faktische Notwendigkeit geschaffen (hat), als Verband, also als Zusammenschluss Einzelner, Beschwerde zu führen.» Zudem bleibe der Gerichtshof «stark in einer territorialen Logik verhaftet, obwohl diese in einer globalisierten Welt an ihre Grenzen stösst – erst recht, wenn es ums Klima geht.»
Die Rechtskommission des Ständerats tut sich schwer mit diesem Entscheid und beantragt dem Ständerat, dass dieser eine Erklärung abgeben soll, wonach der Ständerat zwar die historische Bedeutung der Menschenrechtskonvention und des EGMR würdigt, aber gleichzeitig festhält, dass «das Urteil als Ergebnis der Auslegungsmethode der Konvention als «instrument vivant» die Grenzen der dynamischen Auslegung überschreitet». Der Gerichtshof setzte sich damit «dem Vorwurf eines unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus» aus. Er nähme damit auch in Kauf, dass seine Legitimität geschwächt werde. Er appelliert an den EGMR, künftig die Subsidiarität wieder zu respektieren und «die staatliche Souveränität und die demokratischen Prozesse der Vertragsstaaten zu achten». Die Schweiz solle zudem jetzt das Ministerkomitee inhaltlich darüber informieren, dass man zum einen das Klimaschutzabkommen angenommen habe, zum anderen die Pariser Klimaziele erfülle und ausserdem das Pariser Klimaabkommen den Staaten nicht vorschreibe, nationale Treibhausgasbudgets auszuweisen. Daher sehe die Schweiz keinen Anlass «dem Urteil des Gerichtshofs (…) weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt sind.»
Nun denn, man kann durchaus der Meinung sein, dass der EGMR hier falsch entschieden hat – so wie man dies auch bei anderen Gerichtsurteilen finden kann. Man kann auch finden, das Urteil sei vielleicht inhaltlich schon richtig, aber könnte sich politisch als Bumerang entpuppen. Das alles kann man gerne diskutieren und auch öffentlich kritisieren, auch als Alt-Bundesrichterin, die sich gerne als konträre Stimme zu ihrer Partei positioniert. Die Aufforderung, ein Gerichtsurteil zu ignorieren, ist dann schon ein bisschen stärkerer Tobak. Denn: Warum sollte sonst irgendein Bürger oder eine Bürgerin einen Gerichtsentscheid akzeptieren, wenn es der Staat selber nicht tun soll? Und bei der Frage der Legitimität der Behörde beisst sich die Katze argumentativ selber in den Schwanz: Denn würde überhaupt jemand die Legitimität infrage stellen, wenn sie nicht durch die vermeintliche Sorge um die Legitimität infrage gestellt würde? Eine Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass die Verlierer das Resultat einer Wahl akzeptieren können – das muss nicht mit Freude sein. Das gilt im übertragenen Sinne auch durchaus für den Rechtsstaat. Die Legitimität kann nicht nur dann gegeben sein, wenn das Gericht so urteilt, wie man es gut findet.
Natürlich hat diese Erklärung des Ständerats keine rechtlichen Folgen. Sie ist dazu da, «zu wichtigen Ereignissen oder Problemen der Aussen- oder Innenpolitik» eine Stellung abzugeben. Sie dient dazu, dass der Ständerat sein Mütchen kühlen kann, ohne dass irgendwas Schlimmes passiert. Doch auch das ist problematisch. Fabian Renz wählt starke Worte im ‹Tages-Anzeiger›: «Dass eine hiesige Instanz, die sich Rechtskommission nennt, nun selber einen solchen Angriff lanciert, dass sie sich nicht nur um ein EGMR-Urteil foutiert, sondern diese Renitenz sogar lauthals in die Welt hinausposaunen will: Es ist einfach nur beschämend.» Sein Fett weg bekommt im Kommentar auch Daniel Jositsch, den er als «agilen Zeitgeistsurfer» bezeichnet, genauso wie seine neun bürgerlichen Kolleg:innen: «Er und die neun bürgerlichen Kommissionsmitglieder, die hinter der Erklärung stehen, mögen sich nun zu ihrem eidgenössischen Heldenmut gratulieren. Vielleicht haben sie schon die Wiederwahl vor Augen, vielleicht auch lobende Schlagzeilen in NZZ und ‹Weltwoche›. Schöner wäre es, sie würden sich vor Augen führen, was Demokratie und Rechtsstaat letztlich ausmacht.» Das wird den Ständerat nicht beeindrucken. Dazu fühlen sie sich wohl zu gut als Rebellen. Selbst wenn es keinen Grund dazu gibt.