«Die Neustrukturierung des Asylbereichs stimmt mich zuversichtlich»

Nach 20 Jahren als Chef der Fachorganisation AOZ geht Thomas Kunz Ende nächster Woche in Pension. Seit dem Jahr 2000 haben sich das Asyl- und das Integrationswesen stark verändert: Wie er diese Entwicklung erlebt – und mitgestaltet – hat, erklärt Thomas Kunz im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Sie waren erst Vorsteher einer städtischen Dienstabteilung, die seit 2006 eine selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt ist und deren Direktor Sie heute sind: Wie haben Sie diesen Wechsel erlebt?

Thomas Kunz: Die Umwandlung der früheren Dienstabteilung in die selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt AOZ ist aus grundsätzlichen Überlegungen heraus erfolgt: Die AOZ musste und muss immer wieder rasch auf sich verändernde Umstände reagieren. Manchmal müssen wir innert kurzer Frist viel Personal entlassen oder neu einstellen oder auch Liegenschaften anmieten. In der Organisationsform der städtischen Dienstabteilung wären wir viel zu langsam: Um beispielsweise mehr Personal einzustellen, müsste erst die nötige Anzahl Stellen geschaffen und dann das Budget dafür gesprochen werden, sprich, der Stadtrat und der Gemeinderat müssten sich des Geschäfts annehmen, was seine Zeit dauert. Im Jahr 2015 mussten wir beispielsweise innert zweier Monate 800 Asylsuchende zusätzlich unterbringen und versorgen. Das hätten wir als Dienstabteilung nur mit vielen Ausnahmeregelungen geschafft.

 

Die Vermutung, die Umwandlung sei neoliberal inspirierten Privatisierungsbestrebungen geschuldet gewesen, ist falsch?

Ja, und eine ähnlich gelagerte Vermutung übrigens auch: Es ist nicht etwa so, dass die AOZ eine öffentlich-rechtliche Anstalt werden musste, damit sie auch für Dritte, beispielsweise den Kanton oder andere Gemeinden, Leistungen auf dem Gebiet der Asylfürsorge und der Integrationsförderung erbringen kann. Das haben wir bereits gemacht, als wir noch eine Dienstabteilung waren. Als ich vor 20 Jahren bei der AOZ anfing, hatten wir zwei Wirkungsfelder, nämlich eine kleine städtische Abteilung und eine viel grössere, die Aufträge von ausserhalb der Stadt ausführte. Zum Vergleich: Das Budget bei der Stadt betrug rund vier Millionen Franken pro Jahr, jenes für die Aufträge ausserhalb der Stadtgrenzen rund 100 Millionen Franken.

 

Wo war die AOZ überall tätig?

Wir hatten einen grossen Auftrag des Kantons Zürich – zu Beginn des Jahrtausends betrieben wir mehr als 20 über den Kanton verteilte Durchgangszentren. Das war der Tatsache geschuldet, dass damals nach einer kurzen Erstaufnahme durch den Bund die Kantone für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständig waren. Der Kanton Zürich übertrug uns bereits in den 1990er-Jahren die Aufgabe, diese Zentren zu betreiben. 2001/2002 wurden die entsprechenden Aufträge neu ausgeschrieben; die eine Hälfte ging an die ORS Service AG, die andere an uns.

 

Welches waren, abgesehen von der Organisationsform, die grössten Veränderungen in Ihrer Zeit als AOZ-Chef?

Als ich im Jahr 2000 anfing, hatte die AOZ 650 MitarbeiterInnen. Danach ging die Zahl zurück bis auf 250, danach wieder rauf bis auf gut 1000. Diese grosse Zunahme rührte einzig daher, dass mehr geflüchtete Menschen kamen; für deren Betreuung war mehr Personal nötig. Wir haben aber auch im Rahmen eines ständig laufenden Prozesses zur strategischen Ausrichtung der AOZ ein zweites Standbein geschaffen, um den Schwankungen, die unsere Arbeit mit Geflüchteten mit sich bringt, nicht eins zu eins ausgesetzt zu sein.

 

Welches?

Dieses zweite Standbein ist die Integrationsförderung. Sie umfasst nebst Deutschkursen unter anderem auch Beschäftigungsprogramme oder Ausbildungsprogramme. Über die letzten 25 Jahre betrachtet, ist dieses Standbein immer wichtiger geworden. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die «Integration» im Asylbereich lange Zeit ein anderes Ziel vorgab: Unsere Aufgabe war es, die sogenannte Rückkehrfähigkeit der Asylsuchenden zu erhalten. Das hat sich seither grundlegend geändert. Die Integrationsförderung wird immer wichtiger.

 

Inwiefern?

Im Zuge der Neustrukturierung des Asylwesens haben sich Bund und Kantone im Frühling 2018 auf die Integrationsagenda Schweiz geeinigt, und im Frühling 2019 haben die Kantone die entsprechenden Umsetzungskonzepte eingereicht. Damit ist ein grosser Entwicklungsschritt erfolgt: Der Bund spricht mehr Geld für Geflüchtete mit einer längerfristigen Aufenthaltsperspektive, und die Konzepte der Kantone beinhalten gezielte Förderprogramme und Angebote. Damit ist auch eine Professionalisierung einhergegangen: Die Sprachförderung zum Beispiel betreiben heute zertifizierte Institutionen mit qualifizierten Lehrpersonen. Noch wichtiger ist jedoch, dass man die Geflüchteten nicht mehr einfach in eine Sprachschule schickt, sondern sich zuerst mit Fragen auseinandersetzt wie etwa jener, wie man jemandem eine Fremdsprache vermitteln kann, der bzw. die gar nicht oder nur wenige Jahre in die Schule gegangen und entsprechend schulungewohnt ist.

 

Die Integrationsagenda wird allerdings auch kritisiert: Zu ihren Zielen gehört nicht nur, dass die geflüchteten Menschen rascher eine Landessprache lernen und sich gesellschaftlich integrieren, sondern auch eine raschere Integration in den Arbeitsmarkt – und die funktioniert noch nicht besonders gut.

Studien, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren gemacht wurden, kamen tatsächlich zum Teil zum Schluss, Projekte zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt brächten nicht besonders viel. Dabei wurde allerdings deren unterschiedliche Ausrichtung nicht genügend beachtet. Die Integrationsagenda Schweiz hat die Kritik unterdessen aufgenommen: Heute vermittelt man die Leute nicht mehr einfach in jenes Beschäftigungsprogramm, in dem es gerade noch Platz hat. Vielmehr setzt man sich erst mit jedem einzelnen Menschen zusammen und schaut, was er mitbringt an Motivation und Fähigkeiten, welche schulischen Lücken er allenfalls aufweist und welche Ziele er erreichen möchte. Danach folgt eine gezielte Förderung. Bei der AOZ rennt man mit diesem Vorgehen übrigens offene Türen ein.

 

Sie sind der Integrationsagenda voraus?

Bereits bevor ich bei der AOZ anfing, hat sie unter dem Namen «Workfair» Programme auf dieser Basis entwickelt, zum Beispiel auch «Züri rollt», das immer noch aktiv ist. Das Projekt «TAST» – «Tagesstrukturen für Jugendliche» – wurde unter mir weiterentwickelt, und eines der neueren Projekte ist beispielsweise ein Brückenangebot für junge Frauen und Männer namens «Next Level»: Es handelt sich um ein Motivationssemester, das vom kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit mitfinanziert wird.

 

20 Jahre sind eine lange Zeit: Was ist Ihnen als speziell positiv bzw. negativ in Erinnerung geblieben?

Ein Highlight habe ich schon erwähnt: 2015 innert sehr kurzer Zeit 800 Menschen zusätzlich aufzunehmen war ein Kraftakt. Ich bin stolz darauf, wie gut die AOZ diese Herausforderung gemeistert hat. Der Paradigmenwechsel, der in den letzten Jahren in der Sozialhilfe stattgefunden hat, freut mich ebenfalls sehr: Analog zur Integrationsagenda wird nicht mehr nur darauf geschaut, die Leute möglichst schnell in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, sondern sie sollen wenn immer möglich eine Ausbildung machen. Das ist eine nachhaltige und intelligente Form der Förderung, gerade angesichts der Tatsache, dass es immer weniger Jobs für Ungelernte gibt. Viele junge Leute sind so bereits nach ein paar Jahren in der Schweiz nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert, und darauf müssen wir aufbauen: Junge Männer bilden eine grosse Gruppe innerhalb der Geflüchteten, und wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass sie wenn möglich eine Berufsausbildung machen können.

 

Sie befanden sich bei der AOZ stets im Spagat zwischen den geflüchteten Menschen und ihren Schicksalen einerseits und der «Bürokratie», sprich dem ganzen Apparat zur Unterbringung, Betreuung und Integrationsförderung dieser Menschen andererseits. Sie haben es trotzdem geschafft, weder die linken Freundinnen der Geflüchteten noch die rechten Freunde des «Hauptsache abschieben und kein Geld ausgeben» ernsthaft gegen sich aufzubringen: Wie haben Sie das geschafft?

Was die politische Seite meines Jobs betrifft, gibt es extrem konträre Haltungen und Meinungen: Als die Bürgerlichen im Gemeinderat die Mehrheit hatten, kam die Politik mit ganz anderen Forderungen auf uns zu als jetzt, wo Rot-Grün in der Mehrheit ist. Doch die Ebene darunter blieb sich stets gleich: Es geht um Menschen und um die Anstrengungen, die damit verbunden sind, für sie zu sorgen, und dort sind andere Kriterien ausschlaggebend, die nichts mit der gerade aktuellen politischen Diskussion zu tun haben. In einem Spannungsfeld bewegt man sich natürlich trotzdem, gerade auch zwischen den Rahmenbedingungen, die die Politik auf Bundesebene festlegt, und dem, was wir in unserer täglichen Arbeit vor Ort zu bewältigen haben.

 

Zum Beispiel?

Ich fände es gut, wenn der Status der vorläufig Aufgenommenen verbessert würde – und wenn wir schon dabei sind: Auch den Begriff selbst müsste man ändern, denn allein schon das «vorläufig» schmälert die Chancen der Betroffenen auf Integration. Ich mache mir allerdings keine Illusionen: Ich war Mitglied einer Arbeitsgruppe des Staatssekretariats für Migration, die sich mit dem Thema befasste und beispielsweise «Aufnahme-Bewilligung» oder «Humanitäre Aufnahme» vorschlug. Ohne Erfolg – politisch sind solche Bemühungen bislang stets gescheitert.

 

Und der Kanton Zürich kann nichts machen, solange der Bund nicht vorspurt?

Einiges könnte der Kanton schon entscheiden, doch auch hier ging die Entwicklung leider in die falsche Richtung: Dass man vorläufig Aufgenommene nicht mehr mit Sozialhilfe unterstützt, finde ich nicht richtig. Da sollen die Jungen dazu motiviert werden, Ausbildungen nachzuholen und zu arbeiten – und gleichzeitig zur geforderten Sonderanstrengung gewährt man ihnen zum Überleben nur ein tiefes Existenzminimum. Das geht nicht auf.

 

Trotzdem haben Sie es 20 Jahre bei der AOZ ausgehalten und wirkten dabei, zumindest von aussen gesehen, stets ruhig und gelassen: Wie schafften Sie das?

Für mich ist eines zentral, wenn man in diesem Bereich tätig ist: Man muss den Menschen, mit denen man es zu tun hat, mit Anstand begegnen. Die Menschlichkeit stand für mich immer im Vordergrund, auch gerade angesichts schwieriger Rahmenbedingungen. Zudem habe ich gelernt, dass es nichts bringt, wenn wir zum Beispiel die Quartierbevölkerung zu beruhigen versuchen, die, aufgeschreckt durch Scharfmacher, gegen eine neue Asylunterkunft protestiert: Man kann den Leuten die Ängste nicht ausreden, sondern wartet am besten einfach ab. Sobald die Asylsuchenden eingezogen sind, registriert die Nachbarschaft rasch, dass da weder Mörder noch Vergewaltiger ein- und ausgehen und dass es, ausser vielleicht einmal einer Nachtruhestörung oder einem geklauten Velo, keine Probleme gibt, die man nicht vorher schon hatte.

 

Man müsse die Menschen anständig behandeln, sagen Sie: Auch die Menschen in unterirdischen Nothilfebunkern?

Dort sind wir nicht zuständig, aber diese Unterkünfte zeigen exemplarisch, dass das heutige Nothilfe-Konzept nicht wirklich aufgeht. Für Nothilfe im Wortsinn, als Überbrückung für wenige Wochen, wäre diese Unterbringung in Ordnung, aber als Ort für monate- bis jahrelangen Aufenthalt für Menschen ohne Perspektive taugen solche Bunker nicht. Und ja, ich finde, Menschen müssen immer und auch dort anständig behandelt werden.

 

Mit welchen Gedanken und Gefühlen blicken Sie auf Ihre Zeit bei der AOZ zurück? Und was haben Sie als nächstes vor?

Die Neustrukturierung des Asylbereichs stimmt mich zuversichtlich, auch wenn die Umsetzung teils noch kritisiert wird; nach wie vor umstritten ist beispielsweise die Rechtsvertretung für alle Asylsuchenden. Auch dass man heute nicht mehr fünf oder gar acht Jahre auf den Asylentscheid warten muss, ist positiv. Die Corona-Pandemie zum Abschluss hätte ich nicht gebraucht, aber wer hätte das schon? Über die Zukunft mache ich mir keine grossen Gedanken. Als Mitglied der eidgenössischen Migrationskommission mache ich die Amtszeit noch fertig. Als nächstes hatte ich eigentlich Reisen geplant; das ist fürs erste verschoben. Bei der AOZ habe ich am 18. Dezember meinen letzten Arbeitstag – und danach mache ich erst mal einfach Ferien.

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