Die Neuerfindung des Selbst
An der Uraufführung von «Sister App» wirken Hutzenlaub&Stäubli, als hätten sie ihr Bühnenselbst gleich neu erfunden – und das im grössten Ausmass ihrer bisherigen Verwandlungen. Das kommt sehr gut!
Beige sind nur noch die Sessel. Das Kleinkarierte von früher, das sich in einem ungelenk-tollpatschigen Loserimage von dauerhaft an sich selbst zweifelnden Bedenkenträgerinnen äusserte, ist in «Sister App» nur noch an den Kostümen wieder zu erkennen. Fritz Bisenz als Barbara Hutzenlaub und Jasmin Clamor als Lotti Stäubli haben den Spiess umgedreht und setzen statt auf Kulturpessimismus und Ablehnung jeglichen Fortschritts jetzt auf Lebensbejahung. Statt technologische Neuerungen als suspekt zu verwerfen, bedienen sie sich ihrer auf verblüffend erfrischende Art. Offenbar ist ihnen diese Assimilation ins virtuelle Zeitalter dermassen gut geglückt, dass sie jetzt im Umkehrschluss sehr viel mehr Mühe mit der analogen Welt bekunden. So empfehlen sie dem Premierenpublikum im Casinotheater zuallererst, sich die bevorstehende neue Show doch bequem zu Hause auf dem Sofa als Download anzuschauen. Vom anwesenden Publikum geben sich die Kunstfiguren sichtlich überrumpelt – zuerst müssen sie sich auf die Bühne beamen. Barbara Hutzenlaub von der feuchtfröhlichen Einbürgerungsfeier und Lotti Stäubli muss sich aus dem Gamemodus mit Vitual-Reality-Augenaufsatz ausklinken, um erschreckt festzustellen: «Wow, no meh Zombies». Die beschwipste Neuschweizerin Barbara ist für Lotti ein dankbares Opfer, um an ihr all ihre neu programmierten Apps auszuprobieren. Als frischgebackene Coach will sie Barbara sofort in die Politik schicken. Denn «Znünipass», «Zunft zum Handtäschli»-Gründung und täglicher Verzehr von fendandüfalais (Fendant du Valais) sind noch nicht der Gipfel der Integration. Als leuchtendes Beispiel soll sie der Schweiz den Weg in eine neue Zukunft weisen – auch damit Lotti als starke Frau mit einem Queen-Winken hinter ihr stehen kann. Barbaras erste Amtshandlung ist eine Auffrischung der Nationalhymne, die in mehrstimmigem Rap auch die Jugend mitreisst und für die Teilhabe gewinnen soll. Nur Barbaras ‹schwöbele› ist für den durschlagenden Erfolg noch optimierbar. Natürlich hat Lotti dafür eine App entwickelt. Hält Frau ein Smartphone oder ein Tablet vor den eigenen Mund (technische Programmierung: Thomas Haldimann), verwandeln sich die eigenen Aussagen in jeden gewünschten Dialekt. Nur gegen Hackerangriffe ist diese App noch nicht gefeit. Wenn Frau nach ganz oben will, ist ihr natürlich die Gleichstellung das oberste Gebot. Die App dazu ist ebenso simpel wie wirkungsvoll: Der vorgehaltene Bart zeitigt überraschend schnell Wirkung: «Ich han plötzlich au Luscht uf Sex», konstatiert Barbara verblüfft. Aber die Ideen für einen weiblichen Umsturz gehen noch sehr viel weiter und münden im energischen Song «I’m a supergirl». Dieses Supergirl braucht – wenn überhaupt, dann aber richtig – auch einen entsprechenden Mann. Wie immer muss der Musiker Marino Bernasconi dafür hinhalten und zum zigten Mal seine Identität wechseln. Aus dem früheren Ricardo, späteren Oscar wird der feurige Latino Ignacio. Ein perfektes Mannsbild aus dem 3D-Drucker Marke Eigenbau, der auch auf Orangenhaut steht und die Küche mit der gleichen Verve putzt wie samstäglich den eigenen Karren. Um den Stand des eigenen Verliebtseins zu überprüfen, gibts die Röntgenapp, zur Problemlösung die Coaching-App, zur Messung der menschlichen Restenergie eine und so weiter. Das Balzen um die Gunst des feurigen Ignacio führt zu laszivem Striptease seitens Barbaras, während sich Lotti mit selbstheilendem Jodel auf das allfällig bevorstehende Äusserste vorbereitet. «Sister App» ist sehr gekonnt verspielt und beider Stimmgewalt erhält mit den zahlreichen Songs ihren gebührenden Raum. So eine frische Portion Selbstwertschätzung tut nicht nur den Bühnenfiguren gut, sondern sorgt im Publikum für echte Begeisterung. Das präzise Handwerk und den Witz haben sie sich bewahrt – jetzt mit noch mehr Schmiss und positiver Grundhaltung allen Problemen gegenüber.
Hutzenlaub&Stäubli: «Sister App», bis 23.1., Casinotheater, Winterthur. Danach Tournée.