Der ehemalige SP-Bundesrat Alain Berset hat diese Woche sein neues Amt als Generalsekretär des Europarates angetreten. (Bild: Anoush Abrar)

Die Grundwerte des Europarates sind heute in allen Ländern des Rates gefährdet

Ende Dezember war Alain Berset aus dem Bundesrat ausgeschieden. Im Juni wählte ihn die Parlamentarische Versammlung des Europarates als ersten Schweizer zum Generalsekretär des Rates, der ältesten europäischen Organisation mit 46 Mitgliedstaaten. Diese Woche hat Alain Berset sein neues Amt in Strassburg angetreten. Kurz zuvor gab er Andreas Gross, der 20 Jahre lang einer der aktivsten Parlamentarier des Europarates gewesen ist, das folgende Exklusivinterview.

Wann haben Sie das erste Mal in Ihrem Leben vom Europarat gehört ?

Alain Berset: Oh, eine ganz schwierige Frage, die ich mir noch nie gestellt habe. Das wird wohl während meinen Studien an der Uni Neuenburg gewesen sein, als wir auf das Völkerrecht und die Menschenrechte zu sprechen kamen. Die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK, gleichsam das Herz des Europarates, war mir aber schon während meiner Zeit im Freiburger Kollegium Heilig Kreuz bekannt.

Und als Mitglied des Freiburger Verfassungsrates haben Sie sich da, wie wir im Zürcher Verfassungsrat, auch aktiv mit der EMRK auseinandergesetzt ?

Ich persönlich weniger, im Verfassungsrat war ich damals vor allem mit den politischen Rechten befasst, welche im Kanton gelten sollten. 

Und als Ständerat haben Sie wenigstens die Jahresberichte der schweizerischen Delegation im Europarat gelesen ?

Ehrlich gesagt, nein. Im Ständerat musste ich mich vor allem mit Finanz-, Wirtschafts- und Steuerfragen befassen und da spielt der Europarat kaum eine Rolle.

Aber als Bundesrat kamen Sie um den Europarat nicht mehr herum.

Absolut. Als Bundesrat setzt man sich sogar sehr intensiv mit dem Europarat auseinander. Erst einmal bekommt man alle kritischen Urteile des Strassburger Gerichtshofs für Menschenrechte in schweizerischen Angelegenheiten, die meistens bundesrätliche Entscheide für gesetzliche Reformen nötig machten. Beispielsweise der Entscheid in Strassburg, dass die Witwer mit der Witwerrente ungleich behandelt würden, was in meinem Departement für Kopfzerbrechen sorgte, denn ich wollte verhindern, dass die Gleichstellung der Witwer zur Reduktion der Witwenrente führen würde. 

Die zweite Quelle mancher bundesrätlicher Aktivitäten im und mit dem Europarat betrifft die Weiterentwicklung und die Neuschöpfung von Konventionen, den Vereinbarungen der Mitgliedstaaten des Europarates zur Etablierung gemeinsamen Rechts und Standards. So war ich persönlich ganz vehement engagiert an der Entwicklung und Ratifikation der «Konvention von Istanbul» gegen die häusliche Gewalt gegen die Frauen und Töchter. Die Bedeutung dieser Konvention lässt sich darin erkennen, dass wir dank ihr die Arbeit im Eidgenössischen Büro für Gleichstellung verbessern konnten und es der Schweiz und ihren Frauen heute nach der Ratifikation und der Umsetzung dieser Konvention viel besser geht als zuvor. Zum Beispiel konnte das Budget des Büros für die Gleichstellung dank der Istanbul-Konvention fast verdoppelt werden!

Schliesslich kommen die direkten persönlichen Kontakte mit den wichtigsten Personen und Gremien des Europarates. So empfing ich in Bern die Generalsekretärin des Europarates, besuchte meinerseits 2019 die damalige Genfer Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und war als Bundespräsident beispielsweise vergangenes Jahr auch sehr engagiert beim erst vierten Gipfel des Europarates in Reykjavik, in der die Regierungs- und Staatschefs aller 46 Mitgliedstaaten Programm und Identität des Europarates nach der Aggression Russlands gegen die Ukraine neu zu entwickeln suchten.

«Kürzlich sagte mir ein alter Kenner von Strassburg, der Europarat sei eigentlich eine Institution des Glücks. Nun hat die ganze Welt in den vergangenen zehn Jahren ihre Glücksgefühle fast ganz verloren.»

Alain Berset

Mögen Sie diese Neuausrichtung und das neue Selbstverständnis des Europarates in Reykjavik kurz zusammenzufassen ?

Ich versuchs. Kürzlich sagte mir ein alter Kenner von Strassburg, der Europarat sei eigentlich eine Institution des Glücks. Nun hat die ganze Welt in den vergangenen zehn Jahren ihre Glücksgefühle fast ganz verloren. Sie haben einem grossen Pessimismus Platz gemacht. Wir sind mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert. Die gemeinsame Fortschrittsbewegung der 1990er- und 2000er-Jahre, in der die Grundwerte des Europarates sich annäherten und wir einander integrierten, wurde abgelöst durch eine negative desintegrative Dynamik, in der das Gegeneinander und die Konflikte wieder dominieren. Obwohl uns diese Art der tiefen und dauerhaften Zeitenwende noch lange belasten wird, müssen wir trotz allem auch wieder nach gemeinsamen Perspektiven und Tendenzen suchen, in den wir uns über den ganzen Kontinent hinweg auch wieder annähern und neu finden können. Welche der derzeit erschütterten Grundwerte des Europarates ermöglichen eine solche erneute Umkehr? Ich denke da vor allem an die Regeneration und neue Festigung der Demokratie, dem Kern jeder guten öffentlichen Ordnung, welche die Würde des Menschen nicht verletzt. Ohne Demokratie kann es keinen stabilen Rechtsstaat geben. Und ohne Demokratie und Rechtsstaat lassen sich die fragilen Menschenrechte nicht verteidigen.

Ist es vorstellbar, dass sich auch in Russland einmal eine öffentliche Ordnung einrichtet, die auf dem Rechtsstaat, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte basiert ?

Das ist eine Generationenfrage, eine Frage nach der Dauer der langen Zeiten und Zyklen. Und wir müssen alle im Europarat ein neues, realistischeres Verhältnis zur Zeit entwickeln. Der Aufbau einer solchen menschenrechtsentsprechenden politischen Ordnung ist mehr als eine Frage einer Generation. Das braucht noch viel mehr Zeit. Aber es ist absolut nicht unmöglich.

Wir haben vor allem im Westen eine Zeit der Beschleunigungen hinter uns. Alles ging scheinbar sehr schnell. Immer rascher ist immer mehr vorbei. Die Zeit hat sich verkürzt. Wir können immer weniger den Schaum von der Welle unterscheiden. Was heute passiert, ist morgen schon wieder vergessen. Wir müssen das kurzfristige Wirken wieder mit dem mittelfristig und langfristig Richtigen und Angebrachten in Übereinstimmung bringen. Was vor 15 Jahren, 2009, passierte, wissen wir noch ganz genau; 2039 scheint aber ganz weit weg zu sein. Die Vergangenheit ist also sehr konkret, doch wir werden in der Zukunft leben. Was bedeutet das alles nun in Bezug auf Russland? Kurzfristig wird sich da nicht viel Positives ereignen. Doch aus der Geschichte wissen wir, dass immer wieder kleine überraschende Wendemomente aufgetreten sind, welche massive Veränderungen zur Folge hatten. In dieser Beziehung gilt es, in allen Bereichen einen gewissen Optimismus nicht zu verlieren.

Doch es gibt nicht nur Russland, in Aserbeidschan, das immer noch Mitglied ist des Europarates, kümmert sich die Regierung kaum um die Menschenrechte und regiert eher despotisch als demokratisch. Wir haben dort immer noch die gleichen Probleme wie vor 25 Jahren, als Aserbeidschan Mitglied des Europarates geworden ist. Vielleicht waren wir da etwas zu optimistisch. Doch wir können heute im Europarat nicht die gleichen Ansprüche bezüglich allgemeinem Respekt gegenüber den Menschenrechten stellen wie beispielsweise in der Europäischen Union. Wir müssen überall Fortschritte erkennen können. Darum gehts. Vielleicht könnte dies tatsächlich schneller gehen. Doch sie einfach auszuschliessen, das würde niemanden wirklich helfen. Das wirkliche Problem heute in Europa ist vielmehr, dass es in wirklich allen Ländern auf unserem Kontinent an dieser oder jener Stelle hapert mit dem wirklichen Respekt der Menschenrechte, selbst in den ältesten Demokratien.

«Das wirkliche Problem heute in Europa ist vielmehr, dass es in wirklich allen Ländern auf unserem Kontinent an dieser oder jener Stelle hapert mit dem wirklichen Respekt der Menschenrechte, selbst in den ältesten Demokratien.»

Alain Berset

Wie kann der Europarat aber Staaten wie Bosnien-Herzegowina, Serbien, Albanien, Georgien oder Moldawien wirklich helfen?

All diese Staaten habe ich in den vergangenen Monaten während meiner Kampagne zur Wahl als Generalsekretär besucht. Dabei ist mir in all diesen Ländern aufgefallen, dass dort der Europarat viel bekannter und präsenter ist als in Frankreich, Deutschland oder der Schweiz. Zweitens belastet all diese Länder ihre jüngste, unfassbare Geschichte viel mehr als bei uns, die seit mehr als 150 Jahren nie mehr so etwas haben erleben müssen. Sie haben schwierigste Transformationen hinter sich. Und es ist unsere Aufgabe, mit ihnen gemeinsame Wege zu finden, die uns erlauben, unsere gemeinsamen Werte zu stärken, uns einander anzunähern und nicht wieder auseinander zu fallen. Es gilt, eine gemeinsame positive Dynamik zu entwickeln – im Wissen, dass selbst im Herzen des alten Europas negative Dynamiken sichtbar sind heutzutage.

Was ist Ihre Priorität in den kommenden Monaten als neuer Generalsekretär ?

Ich möchte, dass in allen Mitgliedstaaten der Europarat, beziehungsweise seine Werte und Grundprinzipien, präsenter sind und man sich der Verpflichtungen bewusster wird, die diese für das eigene Handeln bedeuten. Zudem gilt es, und das haben alle Regierungschefs beim Reykjaviker Gipfel im Frühjahr 2023 beschlossen, überall die Demokratie zu verteidigen und zu deren Regeneration beizutragen. Und es gilt, in der Ukraine eine Schadensregister mit Kompensationsmechanismus herzustellen. Denn wir wollen alles dafür tun, dass die Gewalt keine Form ist, mit der wir miteinander umgehen, und wenn dies geschieht, muss der Gewalttätige wissen, dass er für den Schaden, den er anrichtet, einmal zur Rechenschaft gezogen werden wird.