«Die Grünstadtinitiative ist auch eine Durchsetzungsinitiative»

Am 21. Mai wird in der Stadt Zürich über den Gegenvorschlag zur Grünstadtinitiative abgestimmt. Was es damit auf sich hat, erklärt Markus Kunz, Gemeinderat der Grünen, im Gespräch mit Nicole Soland.
Die Grünstadtinitiative Ihrer Partei umfasste drei Forderungen und ein Einzonungsmoratorium. Der Gegenvorschlag, über den wir am 21. Mai abstimmen, enthält nur noch die drei Forderungen. Die erste lautet, «die Gemeinde setzt sich aktiv für die Sicherung von öffentlichem Grünraum auf dem gesamten Gemeindegebiet und in allen Quartieren ein». Mit Verlaub: Das tut die Stadt doch längst.
Markus Kunz: Ach ja? Ein paar Gegenbeispiele, mit Betonung auf «sich aktiv einsetzen»: Erstens: Private wollen ein Eishockeystadion bauen – die Stadt hebt dafür Familiengärten auf. Zweitens: Weil auf dem Areal des ehemaligen Zollfreilagers viele Familienwohnungen entstanden sind, braucht es dort ein zusätzliches Schulhaus – die Stadt hebt dafür Familiengärten auf. Drittens: Das Universitätsspital soll umgebaut werden, was den Bau eines Provisoriums bedingt – und dieses wird ausgerechnet in den denkmalgeschützten Park zu stehen kommen… Soll ich weitermachen?
Das Eishockeystadion wurde in der Volksabstimmung angenommen. Beim Freilager-Areal fehlte noch der unterdessen angenommene Artikel im kantonalen Gesetz, der eine Mehrwertabschöpfung ermöglicht hätte, beispielsweise in Form einer Landabgabe für ein Schulhaus. Und beim Unispital ist der Platz nun mal knapp.
Es ist und bleibt aber bezeichnend, dass in allen drei Beispielen am Schluss eine Grünfläche dran glauben muss: Grünflächen werden als Reserve für alle möglichen Nutzungen wahrgenommen und folglich auch so genutzt. Beim Unispital wäre auch der Parkplatz ein möglicher Standort fürs Provisorium gewesen. Oder warum nicht ein temporärer Bau auf Stelzen, der über die Strasse zu stehen käme? Doch die Stadt Zürich ist, wie ein Blick auf die Bau- und Zonenordnung zeigt, lückenlos verplant, es gibt keine ungenutzten Flächen mehr. Wenn Raum für wichtige Nutzungen, wie zum Beispiel Schulen oder Altersheime, bereitgestellt werden soll, dann geht das praktisch immer zulasten des Grünraums.

 

 

Auch dieser Zielkonflikt ist nichts Neues

Das ändert nichts daran, dass die ‹Lösung› des Konflikts nicht länger zulasten des Grünraums gehen darf. Auch das Argument, unsere Forderungen seien bereits Gesetz, sticht nicht: Die Stadt Zürich hat beispielsweise den gesetzlichen Auftrag, «nicht unter 45 m2/Einwohner» Erholungsfläche zu planen. Diese Zahl erreicht sie bis dato nicht.

Wenn das so ist, hätten Sie doch besser eine Durchsetzungsinitiative lanciert.
Ich habe nichts dagegen, die Grünstadtinitiative als Durchsetzungsinitiative zu bezeichnen. Unser Ziel ist ein Zweckartikel in der Gemeindeordnung, genau wie beim Verkehr, wo die Städteinitiative das Mittel zum Zweck war, den Modalsplit zu verändern, oder beim zahlbaren Wohnraum mit dem Grundsatzartikel, wonach bis im Jahr 2050 ein Drittel aller Mietwohnungen solche von gemeinnützigen Wohnbauträgern sein müssen.

 

 

Ein Zweckartikel in der Gemeindeordnung ändert nichts daran, dass es auch künftig öffentliche Bauten an Orten brauchen wird, wo der Platz knapp ist.
Wieso aber ist der Reflex so stark, bei Bauvorhaben auf den Grünraum zurückzugreifen? Warum kommt niemand auf die Idee, beispielsweise eines der vielen überflüssigen Bürohäuser in ein Schulhaus umzuwandeln oder einen Parkplatz aufzuheben und den frei gewordenen Platz als Baugrund für ein öffentliches Gebäude zu nutzen? Das wird nicht im Entferntesten in Betracht gezogen, aber der Gedanke, «hier hat es noch eine Grünfläche, die können wir umnutzen», der ist omnipräsent. Dem stellen wir unseren Zweckartikel entgegen.

 

 

Die zweite Forderung der Initiative befasst sich mit der Qualität der Grünflächen: Unversiegeltes Land soll geschützt und vernetzt werden, «um dessen Qualität als Naherholungsgebiet sowie dessen ökologische Funktion langfristig zu gewährleisten»: Was ist damit genau gemeint?
Ich war letzthin spazieren auf dem Freilager-Areal: Der Aussenraum ist entweder zubetoniert oder kommt daher wie irgendein öder Vorgarten mit Gestrüpp, das garantiert keine spielenden Kinder anlockt. Es dominieren riesige Plätze, von denen man sich fragt, wer sie nutzen soll – kurz: Was den Grünraum betrifft, ist die Gestaltung der Aussenräume eine Katastrophe. Und das Freilager ist bei weitem nicht das einzige Beispiel: Vor allem rund um Ersatzneubauten dominiert häufig das triste Abstandsgrün, wenn es nicht gleich pflegeleichte Steinwüsten gibt. Unter dem Stichwort «ökologische Qualität» lautet folglich die Maxime, dass es nichts nützt, wenn es möglichst viele Bäume und Büsche hat, wenn die ökologische Qualität nicht stimmt.

 

 

Konkret?
Es braucht ökologische Vielfalt. Ein gutes Anti-Beispiel ist die Cotoneaster-Manie: Diese Pflanze wird einmal gesetzt, und dann ist Ruhe. Sie breitet sich aus und tötet alles andere in der Umgebung, aber sie braucht praktisch keine Pflege und ist entsprechend beliebt.

 

Mit der ebenfalls geforderten «Vernetzung» hat das demnach nichts zu tun?
Das kommt hinzu: Gut vernetzte Grünräume sind solche, in denen es in regelmässigen Abständen Korridore hat, über die sich Pflanzen und Tiere ausbreiten können. So werden mit der Zeit Gebiete untereinander vernetzt, die für bestimmte Lebewesen gute Bedingungen bieten, was wiederum der Artenvielfalt zugutekommt.

 

Als dritte Forderung ist im Abstimmungsbüchlein nachzulesen, dass die Stadt dafür sorgen soll, dass «in allen Quartieren ökologisch wertvoller, multifunktionaler und der Nutzungsdichte entsprechender Grünraum besteht». Was ist in diesem Zusammenhang mit «multifunktio­nal» gemeint?
Grün- und Freiräume haben in der Stadt vor allem eine Erholungsfunktion, aber es geht um viel mehr: Grünräume sind insofern ein ‹Selbstzweck›, als sie Lebensraum von Pflanzen und Tieren sind. Der Grünraum gestaltet weiter das Mikroklima der Stadt: Er liefert Sauerstoff, bindet CO2 und Feinstaub, befeuchtet den Boden, senkt die Lufttemperatur. Nicht zuletzt ist der Grünraum auch ästhetisch wichtig: Eine begrünte Strasse, zum Beispiel mit Alleebäumen oder bepflanzten Baumscheiben, ist schöner als eine, die nur aus Beton besteht; das sagen sogar AutomobilistInnen. Auch GrundeigentümerInnen profitieren davon, denn wenn die Umgebung schön grün ist, steigen die Preise. Sich für Grünraum einzusetzen, ist somit leider sogar eine Gentrifizierungsmassnahme, was natürlich nicht in unserem Sinne ist, aber umgekehrt eigentlich den Hauseigentümerverband dazu bringen müsste, die Ja-Parole herauszugeben…

 

Und weshalb die Betonung auf «in allen Quartieren»?
Es geht darum, dass nicht einfach der Grünraum an Orten, wo es sowieso schon viel hat, als ausreichend eingeschätzt wird, um auch noch der Betonwüste nebenan zu dienen. Wir wollen ausdrücklich auch an den heissesten Stellen Grünraum. In Wiedikon etwa bildet der Friedhof Sihlfeld die einzige ‹grüne Lunge›. Dabei wären die gesetzlichen Grundlagen eigentlich seit Jahren vorhanden und würden bei konsequenter Umsetzung auch helfen, um mehr Grün in Betonwüsten zu bringen. Zum Beispiel mittels Dach- und Fassadenbegrünungen, die man längst machen könnte.

 

Wie ist die Forderung zu verstehen, dass «prägende Grünräume» zu erhalten seien? Dem Üetliberg oder dem Rieterpark will doch sowieso niemand an den Kragen.
Ich erinnere gern an den ‹denkmalgeschützten› Park des Unispitals… Gibt es irgendwo ‹Sachzwänge›, die Bauten für die Öffentlichkeit bedingen, dann geht es in der Stadt Zürich eher einer Grünfläche an den Kragen als einer bereits versiegelten Fläche. Sogar für Landwirtschaftsland würde ich keine Langfristwette abschliessen.

 

Die Grünen möchten lieber kein Spitalprovisorium als weniger Grünraum?
Angesichts von Bauten der öffentlichen Hand, die auf die grüne Wiese zu stehen kommen, stehen wir Grünen unter Gewissensdruck. Natürlich wissen wir auch, dass der Grünraum in solchen Fällen nicht deshalb herhalten muss, weil der Stadtrat ihn böswillig opfert, sondern ganz banal aus ökonomischen Gründen: Grünflächen sind die am wenigsten rentablen Flächen in der Stadt, mindestens solange es noch keine anerkannte Methode gibt, um deren immateriellen Wert zu bepreisen. Kommt hinzu: Für ein Spitalprovisorium gibt es viele Möglichkeiten, ein Park ist als solcher unersetzlich.

 

Die Übergangsbestimmungen der Grünstadtini­tiative, die im jetzt zur Debatte stehenden Gegenvorschlag nicht mehr enthalten sind, sahen «bis zum Inkrafttreten von rechtlichen Grundlagen» zur Umsetzung der drei Forderungen der Initiative ein Einzonungsmoratorium vor. Welche Grundlagen waren damit gemeint?
Realpolitisch der regionale Richtplan für die Region Zürich. Der Richtplan gibt dem Stadtrat aktuell den Auftrag, Grün- und Freiräume zu erhalten und zu pflegen. Die entsprechenden Bestimmungen füllen drei A4-Seiten, woran wir Grünen durchaus mitschuldig sind: Es ist uns während der Beratungen des regionalen Richtplans gelungen, einen schönen Teil des Inhalts unserer Grünstadtinitiative im Richtplantext unterzubringen. Deshalb konnten wir die Initiative zurückziehen, nachdem der stadträtliche Gegenvorschlag im Gemeinderat durchgekommen war.

 

Die Durchsetzung ist und bleibt offenbar das Problem: Langsam frage ich mich, was denn die rot-grüne Mehrheit in der Stadt Zürich in den letzten 20 Jahren gemacht hat?
Ich sage mal höflich: das bisher bestehende Gesetz umgesetzt, wobei die Prioritäten ruhig etwas grüner hätten sein dürfen. Genau darum braucht der Stadtrat ja etwas Schub in Form eines Zweckartikels. Zumal es keine grossen Würfe bräuchte: Nur schon das Begrünen von Dächern und Fassaden, das Errichten von Pocket Parks, das Aufwerten von Vorgärten, das Aufheben bzw. Bepflanzen von einzelnen Parkplätzen, die Umsetzung des Alleenkonzepts oder das Aufstellen von Pflanzkisten, wie sie beispielsweise den Bullingerplatz säumen, würde schon viel bringen – frei nach dem Motto, auch Kleinvieh macht Mist.
Wenn die Stimmberechtigten am 21. Mai Ja sagen zum Gegenvorschlag, ist allerdings noch gar nichts erreicht – oder täuscht der Eindruck?
Nein, das ist so, wir haben dann ‹nur› einen Artikel in der Gemeindeordnung. Konkret geht es dann erst los. Was die öffentlichen Bauten betrifft, kommen wir auch künftig kaum um eine Güterabwägung herum. Aber Grünraum, der am einen Ort verschwindet, kann man graduell am andern kompensieren. Das Ziel muss stets lauten, Grünraum zu fördern, nicht zu verhindern. Beim Freilager-Areal hätte das beispielsweise bedeutet, das Schulhaus in die neue Überbauung zu integrieren, statt dafür Grünflächen zu überbauen. Für die Zukunft heisst das, dass der Grünraum bei jeder Planung mitgedacht werden muss – sonst haben wir tatsächlich bald nur noch Restflächen, die nichts bringen.
Bei der Planung dran denken tönt gut, nur: In der Verkehrsplanung wird offiziell seit gefühlt 20 Jahren stets ans Velo gedacht, ohne dass man als AlltagsvelofahrerIn davon viel merkt.
Wir müssen, genau wie bei den Velowegen, stets den Finger drauf haben, das stimmt. Doch wir dürfen den Grünraum auch nicht nur flächenmässig denken, sondern als Grünvolumen. Wird beispielsweise ein alter Baum gefällt und stattdessen ein neuer gepflanzt, dann stimmt das Verhältnis auf dem Papier zwar schon, doch bis der Jungbaum so viel CO2 bindet und so toll aussieht wie der alte, vergehen schon mal 50 Jahre. Oder anders gesagt: Uns ist schon klar, dass nicht gleich das Paradies ausbricht, wenn die Stimmberechtigten am 21. Mai Ja sagen. Doch der Gegenvorschlag zur Grünstadtinitiative bildet einen guten Hebel.

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