Die grosse Angst vor dem kleinen Stern

Am 24. November entscheidet Zürich über den Genderstern in Behördentexten. Die «Tschüss Genderstern!»-Initiative führt Risiken an, die die Forschung längst relativiert hat.

Sprache ist eines der mächtigsten Werkzeuge der Menschheit. Sie formt unsere Gedanken, spiegelt unsere Gesellschaft wider und befindet sich in stetem Wandel. Besonders mit letzterem Fakt will sich das überparteiliche Komitee der Initiative «Tschüss Genderstern!» nur ungern abfinden. Und so kommt es, dass wir am 24. November darüber abstimmen, ob Genderzeichen aus Verwaltungstexten verbannt werden sollen. Das Initiativkomitee, angeführt von SVP-Politikerin Susanne Brunner und unterstützt von einer illustren Schar Sprachbewahrer:innen, will Zürich von Sternen und Doppelpunkten befreien. Es wirbt mit klarer und verständlicher Sprache – ein Blick auf den Stand der Forschung zeigt aber, dass das Argumentarium mehr Unklarheit als Verstehen bewirkt. Umso nötiger also ein genauer Blick auf die Mythen, die sich um den Genderstern ranken – und was von ihnen übrigbleibt.

«Der Genderstern beeinträchtigt die Lesbarkeit»

Vermutlich das Lieblingsargument der «Tschüss Genderstern»-Kampagne ist, dass Sonderzeichen – ob Stern oder Doppelpunkt – Texte zu kompliziert und unlesbar machen würden. Wissenschaftliche Publikationen widerlegen diese Behauptung. Die Linguistinnen Evelyn C. Ferstl und Damaris Nübling zum Beispiel schreiben in ihrer Publikation «Sonderzeichen als typographische Kennzeichnung geschlechtersensiblen Sprachgebrauchs», dass geübte Leser:innen sich schnell an die Sonderzeichen gewöhnen. Sie erklären: «Lesenden, die mit der Form vertraut sind, gelingt der Wortzugriff mühelos.» Die Lesbarkeit leidet also nicht, wenn Genderzeichen routiniert genutzt werden. Wer den Genderstern als «Korsett für die Verwaltung» bezeichnet, verkennt, dass dieser die Sprache nicht einengt, sondern erweitert – und Leser:innen in der Praxis nicht ausbremst. Unterstützt wird diese Forschung durch psycholinguistische Studien von Sabrina Koeser, Eva-Maria Kuhn und Sabine Sczesny. Ihre Publikation «Just Reading? How Gender-Fair Language Triggers Readers’ Use of Gender-Fair Forms»  zeigt, dass die häufige Verwendung gendergerechter Sprache Leser:innen tendenziell dazu anregt, diese Sprachformen selbst anzuwenden. So passierte es denn auch SVP-Nationalrat Thomas Aeschi, der 2022 an der Medienkonferenz nach einer Fraktionssitzung die überwiegend männliche Journalist:innenschar versehentlich mit dem generischen Femininum «meine Damen» ansprach. Chapeau!

«Gendern ist nicht barrierefrei»

Die Initiative bemängelt, dass Genderzeichen eine zusätzliche Hürde für Menschen mit Migrationshintergrund und für Sehbehinderte darstellen würden. Studien und Empfehlungen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Deutschland und des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (Dbsv) widersprechen dem: Screenreader – technische Hilfsmittel, die Texte laut vorlesen – können den Genderstern problemlos wiedergeben oder auf Wunsch ausblenden, was den Lesefluss für Sehbehinderte verbessert. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten bewerten Texte mit Genderstern positiv in Verständlichkeitstests. 

«Der Genderstern führt zu grammatisch falschen Formen»

Die Initiative argumentiert, der Genderstern schaffe «grammatisch falsche Formen» wie «Ärzt:in» oder «Bäuer:in». Falsch deshalb, weil es ja weder die Berufsgattung des Ärztes noch die des Bäuers gibt. Doch Dr. Andrea Hunziker Heeb vom Departement Angewandte Linguistik der ZHAW erklärt, dass diese Sichtweise veraltet ist: «Bei früheren Strategien des Genderns wie dem Schrägstrich galt die sogenannte Weglassprobe. Das heisst, wenn der Wortteil nach dem Genderzeichen weggelassen wurde, musste das Wort im Kontext des Satzes vollständig sein. Das gilt für die inklusive Kurzform mit Genderstern nicht mehr, da z. B. ‹Ärzt*in› als eigene und komplette Wortform in typografisch neuer Umsetzung angesehen werden kann.» 

«Gendern führt Verwirrungen und Rechtsunsicherheit»

Die Befürworter:innen der «Tschüss Genderstern!»-Initiative argumentieren, dass Formulierungen wie «ein:e Ärzt:in» zu Verwirrung führen, weil nicht klar ist, ob sie geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch gemeint sind. Sie befürchten, dass solche Unklarheiten besonders in Rechtsdokumenten zu Unsicherheiten führen könnten und deshalb verzichte der Zürcher Stadtrat bei offiziellen juristischen Texten auf den Genderstern. Komplett auf dem Holzweg sind sie damit nicht: «Juristische Texte sind eine Textsorte, die spezielle Aufmerksamkeit verlangt, wenn gegendert werden soll», findet Andrea Hunziker Heeb. «Diese Texte müssen auf den unterschiedlichen Ebenen – Gemeinde, Kanton, Bund – gesetzessprachlich einheitlich sein.» Eine Vereinbarung von Rechtssicherheit und inklusiver gendergerechter Sprache sei allerdings nicht unmöglich: «In Deutschland gibt es den dritten Geschlechtseintrag. Dazu gibt es Gutachten, wie Rechtstexte nun geschlechtergerecht und allgemein verständlicher formuliert werden können.»

«Sprache darf kein politisches Instrument sein»

Zu guter Letzt sieht die Initiative den Genderstern nicht nur als Fremdkörper, sondern ein regelrechtes Instrument politischer Manipulation, als Symbol des «Geschlechterkampfs», als Sprachdiktat, das die rotgrüne Stadtregierung verordnet. Die Realität? Sprache ist seit jeher Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen – auch wenn man sich gegen diese Veränderungen sträuben will. Der Sprachwissenschaftler Thomas Hanitzsch bringt es auf den Punkt: «Sprache ist nie neutral.» Sie entwickle sich als Ausdruck unserer Zeit. Und Andrea Hunziker Heeb sagt: «Der Genderstern ist Teil eines Repertoires an Möglichkeiten, um durch Sprache nicht zu diskriminieren und geschlechtsneutral zu formulieren. Weshalb sollte die öffentliche Verwaltung darauf verzichten müssen?» Schliesslich hätten gerade öffentliche Institutionen einen Auftrag der Inklusion der Bevölkerung.

Ob der Genderstern in den Verwaltungstexten bleibt, entscheidet das Stimmvolk. Sicher ist aber: Die Sprache wird sich, ganz ungeachtet des Resultats, weiterentwickeln. Obs dem Tschüss-Genderstern-Initiativkomitee gefällt oder nicht.