Die Giesskanne

Nein, es geht hier nicht ums Gärtnern. Davon verstehe ich nichts und die Giesskanne ist bei mir leider eher unternutzt. Nein, es geht hier um ein Argument. Um ein überaus erfolgreiches dazu.

In einem Artikel einer Wahlkampfserie in der ‹Republik› konfrontieren zwei Reporter, die sich eher durch Trinkfestigkeit als durch Politikwissen auszeichnen (ganz im Gegenteil übrigens zum Vorbild Hunter S. Thompson, dessen ‹Fear and Loathing on the Campaign Trail› zu einem der lesenswertesten Bücher über Wahlkämpfe gehört), einen Nationalratskandidaten der GLP mit einem WOZ-Artikel, der die sozialpolitischen Sünden der GLP anprangert. Unter anderem damit, dass die GLP für eine Erhöhung der Franchisen bei der Krankenkasse gestimmt hat. Das kontert der GLP-Kandidat wie folgt:   «Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es aus sozialer Sicht die richtige Entscheidung war. Sozialpolitik sollte nicht über die Franchise gemacht werden, denn das heisst ja: Egal, wer die tiefe Franchise wählt – er wird subventioniert. Egal, wie gut er verdient. Die tiefsten Einkommen entlastet man viel besser über die Prämienverbilligung. (…) Wenn es Menschen schlecht geht, sollen sie vom Staat unterstützt werden. Aber eine tiefe Franchise bedeutet eben nicht automatisch, dass die Armen entlastet werden. Ich bin gegen das Giesskannenprinzip.» Daraufhin wussten die beiden Reporter nichts mehr zu sagen.

 

Nun geht es mir nicht darum, besagten GLP-Kandidaten – den ich im Übrigen sonst schätze – in die Pfanne zu hauen. Es geht auch nicht darum, der GLP vorzuwerfen, sie sei unsozial. Es geht um das Giesskannenprinzip. Ein Argument, dass sich in den letzten Jahren wahnsinnig verbreitet hat. Gerade auch von Menschen, die sozial denken. Denn es klingt natürlich total einleuchtend. Warum soll ich MillionärInnen subventionieren, statt das Geld jenen zu geben, die es nötig haben?

Das Problem ist hier im spezifischen Fall ein anderes. Die Erhöhung der Franchise ist nicht rein eine Frage von Reich und Arm, sondern von Gesund und Krank. Eine höhere Franchise führt vor allem dazu, dass chronisch Kranke mehr selber bezahlen müssen und nicht, dass Leute nicht mehr wegen jedem Bobo zur Ärztin gehen. HypochonderInnen lassen sich durch höhere Prämien wohl kaum vom Arztbesuch abhalten. Rheumatikerinnen, Epileptiker und Diabetikerinnen auch nicht, sie müssten aber künftig mehr für ihr Leiden selber bezahlen. Das ist nicht sonderlich sozial, aber eben, darum geht es nicht.

 

Natürlich scheint es auf den ersten Blick sehr einsichtig, dass man jenen helfen soll, die es brauchen und nicht jenen, die es nicht nötig haben. Nun scheint mir manchmal, dass es offenbar nur für den Sozialbereich gelten soll,  dass keine Leistung an jene gehen soll, die es nicht ‹verdienen›. In vielem anderen haben die Leute offenbar akzeptiert, dass die Welt halt einfach ungerecht ist. Aber gehen wir mal davon aus, dass das Giesskannenprinzip auch wirklich sozial gemeint ist und sich mehr gegen die Oben als die Unten richtet.

Es gibt nun einmal nicht nur Arme und MillionärInnen. Sondern vor allem viele dazwischen.  Sie sind es, die vor allem von der Giesskanne profitieren. Und: Das Giesskannenprinzip ist es, was einen modernen Sozialstaat vom Suppenküchenprinzip des Manchesterkapitalismus unterscheidet. Es geht eben davon aus, dass Sozialversicherungen und öffentliche Dienstleistungen für alle gedacht sind, weil alle sie (mindestens potenziell) auch brauchen. Ohne Giesskannenprinzip hätten wir heute keine Volksschule, keinen öffentlichen Verkehr, keine Sozialversicherungen. Und all diese Institutionen funktionieren, gerade, weil auch Reiche sie nutzen.

 

Es ist die soziale Sicherheit des Giesskannenprinzips, das uns die scheinbar selbstverständlichen Freiheiten der Moderne erlauben. Sie ermöglicht es uns, nicht in einer unglücklichen Ehe auszuharren, sie ermöglichen uns, dass wir nicht gleich in Existenznot geraten, wenn wir einen Unfall hatten. Dass wir auch einen Beruf ausüben können, mit dem die Eltern nicht einverstanden sind. Dass man nicht unbedingt in einem Job bleiben muss, der einem überhaupt nicht gefällt. Selbstverständlich gilt das auch weiterhin nicht für alle. Aber für viele mehr als das der Fall war, als man eben nur gezielt die Armen unterstützte. Und das Giesskannenprinzip hat auch das Stigma etwas gelindert, das mit Armut verbunden ist.

Denn das Versicherungsprinzip – halt eben die Giesskanne – sagt: Es könnte jedem passieren. Jeder kann Pech haben im Leben. Den Job verlieren, krank werden. Aus der Bahn geraten. Und es ist o.k., wenn ich dann die Leistungen beziehe. Ich habe Beiträge bezahlt für die Arbeitslosenversicherung, also darf ich sie auch beziehen, wenn ich arbeitslos bin. Genauso wie die Rente, wenn ich alt bin. Es ist der Grund, warum einige (auch wenn das falsch ist) sich scheuen, Ergänzungsleistungen zu beziehen, auch wenn sie nur eine kleine Rente haben. Aber bei der Rente haben sie kein Problem, auch wenn sie mehr erhalten, als sie einbezahlt haben. Weil die AHV eine Versicherung von allen für alle ist.

 

In vielem haben auch jene etwas von der Giesskanne, die sie vielleicht gar nicht brauchen. So kann eine Millionärin genauso wie ein armer Schlucker der Meinung sein, dass gut ist, wenn ihre Kinder zusammen in die Schule gehen. Weil für den armen Schlucker das eine Garantie gibt, dass in die Schule auch investiert wird (weil die Millionärin sich schon zu wehren weiss). Und die Millionärin, weil sie möchte, dass ihre Kinder auch mitkriegen, dass es auch Menschen gibt, die etwas weniger privilegiert sind. Ich bin überzeugt, dass die meisten, die sich gegen das Giesskannenprinzip stellen, weder Volksschule noch AHV noch die meisten anderen Giesskanneninstitutionen abschaffen wollen.

Selbstverständlich heisst das nicht, dass man keinen einkommens- oder vermögensabhängigen Unterschied machen kann bei gewissen Leistungen. Wem welche Leistung zugutekommt und wo man investiert, kann auch eine Frage der (finanziellen) Prioritäten sein. Das sind dann letztlich aber politische Entscheide, über die man sich streiten kann und soll. Aber lasst bitte die Giesskanne im Garten, ja?

 

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