Seit zehn Jahren kümmert sich Julia Hofstetter um die gefrässigen Seebacher Stiefelgeissen. (Bild: Tim Haag)

Die gestiefelten Geissen von Seebach

Der Verein «Stadtgeiss» feiert dieses Jahr seinen ersten runden Geburtstag. Grund genug für einen Besuch auf der Seebacher Geissenwiese, einen Blick zurück und einen nach vorn.

Ginny da Clünas, Annika Serafina La Prima, Thommy Andriu Setergren, Bounty, Reginald van Hoobie Doobie, Silbermäntlie, Emma und Amalia – so heissen die acht Stiefelgeissen, die das Herzstück einer ungewöhnlichen Gemeinschaft in Zürich Seebach bilden. Ihre Namen, die wie eine Mischung aus Grimms Märchen, Mickey Mouse und englischem Königshaus klingen, passen zum Charakter: verschmitzt und rebellisch, akrobatisch und anstellig, streitlustig, eigensinnig, unbeschwert. Mit ihren Bärten, dem zotteligen Fell und den verrückt anmutenden horizontalen Pupillen wirken sie inmitten des Seebacher Wohngebiets, zwischen Bahngleis und Kirche, herrlich deplatziert – und doch sind sie hier schon seit zehn Jahren zu Hause.

Dort, wo heute ihr kleines Holzhaus steht, befand sich früher eine Kiesgrube, und Schüler:innen rutschten auf ihren Theks den schottrigen «Todeshang». Später grasten Schafe auf der muldenartigen Wiese – bis Julia Hofstetter beim Spazieren mit ihren Kindern sah, dass der Ort zu pachten war und die Gelegenheit ergriff. Es war der Startschuss des «Zufallsprojekts»: Zur gleichen Zeit lernte sie bei einem Klimaschutzprojekt in Göschenen den Besitzer einer Herde Stiefelgeissen kennen, die dieser abgeben wollte. Ein Gnadenhof für die Ziegen und ein Ort für Hofstetter, der Ohnmacht zu entkommen, die sie in ihrem Job im Kampf gegen den übermächtigen Klimawandel oft empfand: «Es hat einfach gepasst». Über die Jahre entstand dank viel Engagement, Kreativität und langem Atem aus dem Zufallsprojekt Stück für Stück ein kleiner, anarchisch anmutender Mikrokosmos im Stadtgebiet, eine Mischung aus alternativem Quartierzentrum und Streichelzoo. Zwischen Kompotoi, Zirkuswagen und Geissengehege finden hier Ateliers statt, pflanzen Vereinsmitglieder Johannisbeersträucher und Bäume (und kämpfen dabei mit der Zerstörungsfreude der Ziegen), picknicken Quartierbewohner:innen und balancieren Artist:innen über die Slackline, die in mehr als zehn Metern Höhe quer über die Wiese gespannt ist. Der Verein wolle einen öffentlichen Raum bieten, in dem Interessierte «zusammen etwas schaffen und im Kleinen konkret werden können», erzählt Hofstetter. 

Kreischende Kinder, reuige Vandalen

Und das Angebot wird rege genutzt: Während des Gesprächs tritt eine junge Familie an den Zaun, die Tochter hat einen Sack Rüebli fest im Griff. Sie gluckst und kreischt, als sie einen Schnitz nach dem anderen in die durch den Maschendrahtzaun gestreckten Schnauzen der Geissen drückt. Ganz so dankbar sind nicht alle Besucher:innen: «Selten gibt es Vandalismus, und ab und zu räumen nächtliche Gäste ihren Abfall nicht weg», sagt Hofstetter. Diese Situationen  seien frustrierend, zum Glück aber überwiegen die schönen Begegnungen. So hatte sogar der letzte Nachtbubenstreich ein Happy End: «Ein Jugendlicher, der die Scheibe des Zirkuswagens eingeschlagen hat, ist einige Tage später vorbeigekommen und hat sich entschuldigt. Das braucht Mut, und das finde ich eine schöne Geste.» Jetzt räume der Jugendliche jedes Wochenende den Zirkuswagen auf – wohl nicht ganz ohne Druck seitens seiner Eltern. 

«Selten gibt es Vandalismus, und ab und zu räumen nächtliche Gäste ihren Abfall nicht weg»

Julia Hofstetter, Verein Stadtgeiss

Wenn das selbstgemalte Schild «Die Ziegen brauchen Ruhe» nicht am Tor hängt, können Gäste die Tiere auch im Gehege besuchen. Die Reaktionen reichen dann von gleichgültigen Blicken aus dem Geissenhaus über neugieriges Beschnüffeln bis hin zu beherztem Einfordern von Streicheleinheiten. Als Julia Hofstetter den Trog mit Heu füllt, rasen die Geissen nur so im Gehege herum, routiniert weicht sie den vorbeifliegenden Hörnern und Hufen aus. Im Trubel nutzt Alphatier Hoobie Doobie die Gunst der Stunde und büxt durch das offene Gartentor aus. Und während Hofstetter damit beschäftigt ist, den Ausreisser zu fassen, packt Thommy – bekannt für seine pubertären Ausbrüche – ebenfalls seine Chance, um dem leicht überforderten Journalisten im Gehege en passant einen Kopfstoss zu verpassen. 

Ein Grund, nicht zu feiern

Zehn Jahre Stadtgeissen – ein Grund zum Feiern? Im Gegenteil. «Zum Geburtstag schenken wir uns das Sommerfest, das wir die letzten zehn Jahre immer durchgeführt haben.» Stattdessen gibt es für die Vereinsmitglieder ein Teamessen, als Dank für das Engagement. Und dann? Dann bleibt vorläufig alles, wie es ist: «Ich plane da nicht so voraus. Wir machen einfach mal und schauen, wie es kommt.» Wie schon die letzten zehn Jahre.