Die Farce als Tragödie

2006 gründete eine kleine Truppe rund um den Australier Julian Assange die Enthüllungs-Plattform ‹WikiLeaks›. Wikileaks sei, so Assange in einem Interview mit dem ‹Spiegel›, «eine gigantische Bibliothek für verfolgte Dokumente». Man gebe diesen Dokumenten Asyl, analysiere sie und mache sie der Welt zugänglich.

Die erste grössere Veröffentlichung waren Dokumente, die die Korruption der Familie des ehemaligen kenianischen Präsidenten Daniel arap Moi belegten. Weitere bekannte Leaks: Die vom Schweizer Whistleblower Rudolf Elmer zugespielten Dokumente über die Bank Julius Bär, Mitgliederlisten der British National Party, ein Report über toxische Abfälle an der Elfenbeinküste, Emails der Klimaforscher der University of East Anglia und Dokumente zu den Kriegen in Afghanistan und Irak.

Für die verschiedenen Veröffentlichungen wurde Wikileaks gefeiert. 2008 erhielt die Plattform eine Auszeichnung der britischen Zeitschrift ‹The Economist›, im Jahr darauf wurde sie von Amnesty International geehrt. 2010 wählten die Leserinnen und Leser des ‹Time Magazine› Julian Assange zum Mann des Jahres. Wikileaks galt als Zukunft des Journalismus, als Kämpferin für mehr Transparenz und Offenheit von Regierungen und Unternehmen.

Am Dienstagmorgen um 10:00 Uhr feierte Wikileaks sein zehnjähriges Jubiläum mit einer gespannt erwarteten Pressekonferenz. Millionen Menschen sassen gebannt vor dem Computer. Die Spannung schlug jedoch bald um. Zuerst in Langeweile, dann in Ärger und Enttäuschung. «Das einzige, was Wikileaks bisher enthüllt, ist die eigene Bedeutungslosigkeit», twittert ein verärgerter Journalist. Was ist passiert?
Seit Wochen und Monaten sind Internetgerüchte im Umlauf, Wikileaks habe noch eine Reihe von Dokumenten in petto, die Hillary Clinton den Sieg kosten könnten. Der republikanische Politberater Roger Stone, dem eine Nähe zu Assange und Wikileaks nachgesagt wird, hat vor ein paar Tagen via Twitter angekündigt, Wikileaks sorge dafür, dass Hillary Clinton am Mittwoch am Ende sei. So sind ganz viele Trump-Fans und einige Journalisten früh aufgestanden oder haben die Nacht durchgemacht. Nur um eine qualitativ schlechte Videoübertragung zu sehen, in der Julian Assange in stammelnden Worten für sein Buch und für Wikileaks warb.

Doch der Lack von Wikileaks bröckelt schon seit Jahren. Es begann 2010 mit einem grossen Coup: Eine Viertelmillion diplomatischer Depeschen der USA wurden veröffentlicht, die einige Peinlichkeiten wie unschmeichelhafte Bemerkungen über Politiker enthielten. So hiess es beispielsweise, der vormalige deutsche Aussenminister Guido Westerwelle sei «eitel, inkompetent und amerikakritisch». Die Depeschen wurden ursprünglich nicht vollumfänglich veröffentlicht, sondern verschiedenen Medien zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Aufgrund einer Reihe von Pannen und Fehlern wurde versehentlich der Passschlüssel, der Zugriff auf die unredigierten Depeschen und damit auch auf Namen von Informanten von amerikanischen Botschaften ermöglichte, im Internet veröffentlicht. Wikileaks veröffentlichte daraufhin die unredigierten Dokumente gleich selbst. Der ‹Spiegel›, die ‹New York Times›, der ‹Guardian› und andere Medien, die mit Wikileaks an dieser Geschichte gearbeitet hatten, distanzierten sich scharf, weil der Informantenschutz nicht mehr gewährleistet war.
Gleichzeitig verkrachte sich Assange auch mit Mistreitern der ersten Stunde wie dem Deutschen Daniel Domscheit-Berg. Dieser warf Assange vor, sich immer mehr wie ein Sektenführer zu gebärden. Und dann wurde Assange in Schweden noch wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. Assange bestreitet die Vorwürfe und entzog sich der Klage durch Flucht in die equadoranische Botschaft in London, wo er immer noch residiert.

2016 ist kein gutes Jahr für Wikileaks. Im Juli veröffentlichte die Plattform rund 300 000 Emails der türkischen Regierungspartei AKP. Darunter sind auch viele Mails von unbescholtenen BürgerInnen und die persönlichen Daten fast aller AKP-WählerInnen. Brisante Informationen: Fehlanzeige. Kurz vor dem Parteitag der Demokraten veröffentlichte Wikileaks Emails der demokratischen Parteizentrale. Darin fanden sich Hinweise, dass Bernie Sanders in der Tat beim demokratischen Establishment nicht sonderlich beliebt war. Das kostete Debbie Wassermann Schultz den Parteivorsitz. In den allermeisten Emails ging es aber um Belangloses. Teilweise auch Privates. Ebenfalls veröffentlicht wurden Telefonnummern und Sozialversicherungsnummern von einfachen Angestellten. Hinter dem Hack werden die Russen vermutet. Damit mache sich Wikileaks zum Handlanger von Trump, schreibt der Journalist Sascha Lobo auf ‹Spiegel Online›. Assange sei nur noch durch Rachsucht getrieben und «damit zur Ikone eines trumphaften Rechts-Anarchismus geworden, der die Egozentrik zum Leitbild erhoben hat: Ich und der Kampf für meine Werte sind das Wichtigste, was existiert.» Selbst Edward Snowden äusserte Kritik. In einem Tweet würdigt er zwar die Verdienste von Wikileaks für die Demokratisierung von Information: «Aber ihr Widerstand gegen eine minimale Redaktion der veröffentlichten Daten ist ein Fehler.»

Wikileaks zeigt die Vor- und Nachteile des Internets. Es steht für eine Demokratisierung und Dezentralisierung der Information. Für die Aufdeckung von Missständen bei Gewährung von Anonymität der Whistleblower. Für einen Einbezug der Nutzerinnen und Nutzer in einem kollektiven Kampf für mehr Transparenz und gegen Machtmissbrauch. Doch gleichzeitig bleiben dabei Verantwortung und Überprüfbarkeit auf der Strecke. Die Einordnung und Gewichtung von Information wird den Benutzerinnen und Benutzern überlassen, Quantität steht vor Qualität.

Vor rund zwei Wochen war ich an einem Anlass der parlamentarischen Gruppe «Journalismus und Demokratie». Dabei wurde viel über die negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Medien geklagt. Vieles dabei war zwar richtig. Aber der ganze verbreitete Kulturpessismus erinnerte mich plötzlich an die neoliberale Geschichte vom Heizer auf der Elektrolok. Die englischen Gewerkschaften seien in den 1970er-Jahren so mächtig gewesen, dass sie durchsetzen konnten, dass auch bei den Elektroloks jeweils noch ein Heizer an Bord war. Und so kam ich mir ein wenig vor da: Als seien wir alles Heizer auf der Elektrolok. Dinosaurier nach dem Meteoriteneinschlag. Eine aussterbende Gattung, die sich noch mit letzten Zuckungen gegen das Unvermeidliche wehrt.

Der Journalismus wird sich stark verändern in den nächsten Jahren und gewiss nicht nur zum Guten. Aber Wikileaks zeigt denn auch, dass es ihn immer noch braucht.

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