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Die Asylzuwanderung ist vernachlässigbar für die Bevölkerungsentwicklung

Es kämen die Falschen, behauptet die SVP. Das stimmt nicht: Drei Viertel der Gesuchstellenden im Zuständigkeitsbereich der Schweiz haben einen Schutzbedarf (P.S. 25.10.2024). Aber kommen schlicht und einfach zu viele Asylsuchende in die Schweiz? Eine notwendige Ergänzung zur P.S.-Serie.

«Das Boot ist voll», hiess es im Zweiten Weltkrieg gegenüber den geflüchteten Juden. «Es kommen zu viele», ist heute das Motto der SVP. Mitte-Rechts nimmt diese Erzählung dankend auf und versucht mit der SVP gegen die SVP zu argumentieren. Nicht etwa die durch die Wirtschaft angestossene Zuwanderung aus der EU und aus Drittstaaten sei das eigentliche Problem, heisst es dann. Sondern die Asylsuchenden.

Die angeblich viel zu vielen Asylsuchenden sind nun auch noch verantwortlich für den angeblichen «Dichtestress». So erklärte Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder vergangenen Dezember vor dem Abschluss der Bilateralen III in einem doppelseitigen NZZ-Interview vorsorglich: «Ein wichtiger Grund für die Ängste und die negativen Assoziationen liegt meiner Meinung nach bei der Asylmigration. Die Probleme im Vollzug des Asylwesens belasten die Zuwanderungsdiskussion.» Auf den zustimmenden Einwurf der NZZ, es sei doch ein Unterschied, ob eine deutsche Pflegekraft komme oder ein ungelernter marokkanischer Asylsuchender, führte er weiter aus: «Diese Wirtschaftsmigration, die wir im Moment beobachten, hat weder mit dem Arbeitsmarkt noch mit dem ursprünglichen Kern des Asylwesens viel zu tun. Doch sie verstärkt den Druck auf die Ressourcen und prägt die Diskussion über Zuwanderung.»

Krokodilstränen über eigene Vorurteile

Mäder war damit das Echo von Thierry Bur­kart, der in einem NZZ-Interview zum EU-Vertrag am 2. September die Asylmigration als Hauptproblem der Zuwanderung bezeichnet hatte: «Wir hatten allein im letzten Jahr über 30 000 Asylgesuche, vornehmlich aus Afghanistan, der Türkei, aus Eritrea oder aus den Maghreb-Staaten.» Mit genau solchen irreführenden Aussagen befeuern Burkart und Mäder bewusst selbst die Ängste und negativen Assoziationen, die Mäder umgehend mit Krokodilstränen beklagt. 

Auch die meisten Medien setzen die Asylgesuchszahlen undifferenziert in die Schlagzeilen. Doch nicht jedes Asylgesuch bedeutet eine neu eingewanderte Person. Beispiel Eritrea: Zwei Drittel der Gesuche betrafen 2023 Geburten von anerkannten Schutzbedürftigen. Und von knapp 8000 afghanischen Gesuchen im erwähnten Jahr ein knappes Viertel Zweitgesuche bereits hier anwesender Frauen mit einer Chance auf Asyl statt der bestehenden vorläufigen Aufnahme. Oder nehmen wir Marokko: Tatsächlich zeigt die Asylstatistik 2023 von Menschen aus Marokko 1606 Gesuche. Die Statistik verzeichnet allerdings im gleichen Jahr auch 1866 Abgänge von Menschen aus Marokko. Von fast 100 000 Ukrainer:innen schliesslich, die einen Schutzstatus S erhielten, sind bis Ende 2023 über 30 000 in ein anderes europäisches Land weitergewandert. 

Wieviel Nettozuwanderung auf welchem Weg? 

Wer wie das Kaninchen vor der Schlange auf die Gesuchszahlen starrt, verpasst also die wesentliche Frage: Welche Mi­grationsbereiche tragen netto wie viel zur Zuwanderung bei? Berücksichtigt werden muss nicht nur die Einwanderung, sondern ebenso die freiwillige Auswanderung sowie die Aus- und Rückschaffungen. 

Lukas Häuptli hat in der ‹Republik› Anfang Jahr als erster auf eine Auswertung der demografischen Verlaufsstatistik (DVS) des Bundesamts für Statistik verwiesen, welche genau diese Frage für das letzte Jahrzehnt beantwortet: Welche Art der Zuwanderung hatte – nach Abrechnen der wieder Ausgewanderten – welchen Anteil am Wachstum der Schweizer Bevölkerung? 

Die Grafik aus dieser Seite zeigt das Resultat der Auswertung: Bloss 6,8 Prozent der Nettozuwanderung der letzten Jahre, also 71 573 Personen gehen auf den klassischen Asylbereich zurück, weitere 5 Prozent auf Schutzbedürftige aus der Ukraine. Die restlichen gut 88 Prozent haben ihren Ursprung in der Personenfreizügigkeit und der kontingentierten Zuwanderung aus Drittstaaten. 

Personenfreizügigkeit schützt gegen Willkür

Im ganzen Asyl- und Migrationsbereich fällt dabei auf, dass viele, die kommen, mit der Zeit auch wieder gehen. Auch europäische Arbeitskräfte und ihre Familien. Es wäre darum an der Zeit, den aus meiner Sicht zentralen Aspekt der Personenfreizügigkeit zu würdigen, der in den aktuellen Debatten vollkommen untergeht: Sie stellt die Betroffenen mit EU-Pass, solange sie hier leben, rechtlich in vielen Belangen auf Augenhöhe mit den Schweizer:innen. Personenfreizügigkeit steht für Rechte statt Ausbeutung, für Rechtssicherheit statt Willkür der Ausländerpolizei. Diese Errungenschaft gilt es mit den Bilateralen III zu verteidigen. Und dafür braucht man keine Asylsuchenden als Sündenböcke.

Die bisherigen fünf Teile der P.S.-Serie zur Asylpolitik sind, überarbeitet und mit Quellenangaben versehen, als Büchlein erhältlich unter www.eskommendierichtigen.ch