«Die Anschuldigungen werden ja wohl einen Grund haben»

Wenn schon das blosse Nachfragen eine soziale Ächtung nach sich zieht, eine gehässige Ablehnung die eingeengte Horizontgrenze dualen Denkens verrät und Akte der Selbstbehauptung auf Verbote, Verdrängung und Verrat treffen, bedarf die Wahrnehmung augenscheinlich einer Neujustierung. Die jährliche Auswahl des queeren Filmfestivals PinkApple klärt auf und verblüfft und erfreut.

«Lesbierin kommt von Lesbos, nicht von Lesbe», betont eine Dorfbewohnerin von Eressos auf Lesbos in der Langzeitdokumentation der vor Ort aufgewachsenen lesbischen Filmemacherin Tzeli Hadjimitriou über den Wandel eines weltabgewandten griechischen Fischerdorfes zum Reiseparadies für Frauen liebende Frauen seit den 1970er-Jahren. Sappho, die Philosophin der Liebe und früheste überlieferte lyrische Frauenstimme der Menschheitsgeschichte, lebte hier. Ausser im offiziellen Geschichtsunterricht Griechenlands ist sie über ihre Kunst hinaus gemeinhin auch als Sinnbild für gleichgeschlechtliches Begehren unter Frauen bekannt. Das war mit ein Grund für die Ortswahl dieser Pilgerstätte für gelebte Freiheit. Ein Safe Space avant la lettre, wohin Frauen aus der ganzen Welt, hauptsächlich aber aus Europa, für wenige Wochen, einen Sommer lang oder auch für immer zogen. Ein weiterer war die damals noch verbreitetere repressive Stimmung gegen Lesben, wogegen sie hier in einem hippiesk-nudistisch-autarken Camp die umfassende Freiheit (und die Gelegenheit zu ausschweifenden amourösen Abenteuern) erwartete. Die weltweite Frauenvernetzung trug diese Kunde im vordigitalen Zeitalter in die Welt, das kontinuierliche Wachstum der Besucherinnen indes sorgte bei der Lokalbevölkerung nicht nur für eitel Sonnenschein. Nach der ersten Freude über den Aufschwung für das Nest am Rande der Welt schlug das Pendel zurück und die tendenziell konservativ-gläubige Wertehaltung der Ortsansässigen begann sich an der genüsslich gelebten Freizügigkeit zu stossen. Zumal die sich zusehends etablierenden Gaststätten und Hotels einen in sich geschlossenen Geldkreislauf bildeten, was den Vorwurf nährte, die lokale Wirtschaft profitiere zu wenig davon. Von regelrecht brenzligen Situationen von Auseinandersetzungen ist im Film «Lesvia» die Rede, die allein mit einem durch Direktinvestitionen «erkauften Burgfrieden» auf die Ebene einer fragilen Balance zurückgestuft werden konnten. Den Höhepunkt der touristischen Anziehung feierte Eressos Mitte der 1980er-Jahre. Der abgelegene Inselstrand der Ägäis wurde zum Sehnsuchtsort par excellence. Die spätere Verbesserung der allgemeinen Gleichstellung, die Veränderung des Zeitgeistes weg vom Solidargedanken und nicht zuletzt das Onlinedating liessen die Reiseströme zusehends versiegen. Erst in jüngeren Jahren tendiert das zwischenzeitlich überbordende Bedürfnis nach Individualismus wieder mehr in Richtung Gemein(schafts)sinn, eine neue Community formiert sich. Der Film ist eine Ode an das zarte Pflänzchen selbstbestimmten Freiraums, das Zeugnis einer gemeinsam erstrittenen grenzenlosen Sorglosigkeit und eine Mahnung an die Fragilität von Errungenschaften. Ausgezeichnet mit dem PinkApple-Publikumspreis.

Feminismus ist Freiheit

An die Jahre des Übergangs zwischen Militärdiktatur und der Einführung einer demokratischen Verfassung in Spanien erinnert Sílvia Munts Spielfilm «La buenas compañías». Wütende junge Baskinnen wie Bea (Alícia Falcó) erstreiten mit lauten Strassenprotesten eine künftige politische Mitsprache der Frauen, fordern die Umkehr des Empörungsreflexes nach sexuellen Übergriffen und nicht weiter die Opfer zu kriminalisieren sondern die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Und sie reklamieren ein Recht auf Abtreibung. «Sexualität ist nicht Mutterschaft», skandieren sie vor Hochzeitsgesellschaften, sie attackieren rechtsgerichtet-konservative Politiker mit Farbbeuteln und spannen ein klandestines Netzwerk, das Schmuggelfahrten nach Biarritz, falsche Papiere und finanzielle Unterstützung für Frauen möglich macht, um dort legal und sicher abzutreiben. Denn die hiesige Illegalität führt zum Paradox unerschwinglicher Preise bei zeitgleich unzureichender medizinischer Sicherheit. Und birgt die Gefahr, dafür hinter Gitter zu wandern. Der kämpferisch selbstermächtigende Tonfall des Films steigert sich noch weiter, indem die Hilfe im Beispielfall selbst eine höhere Tochter miteinschliesst. Erst mittels dieser realen Notsituation erkennt diese, dass ihr bequemes Dasein im Überfluss aus der rechtlichen Perspektive ein goldener Käfig bleibt. Die folgende Öffnung im Bewusstsein zeigt ihr auch die Vielfalt potenzieller Möglichkeiten für eine Lebensführung. Nur wer überhaupt die Wahl hat, kann frei entscheiden und das eigene Herz verschenken, wohin sie will.

Nur wer überhaupt die Wahl hat, kann frei entscheiden und das eigene Herz verschenken, wohin sie will.

Im heutigen Brasilien steht die 17-jährige Sofia (Ayomi Domenica) vor dem Dilemma, dass eine ungewollte Schwangerschaft ihre Zukunft verbaut. Durch ihr Volleyballtalent steht ihr ein Studienstipendium in Aussicht. Eine legale Abtreibung wäre nur in Uruguay möglich, aber der Geburtsschein genügt nicht, sie als Ansässige auszuweisen. Lillah Hallah zeichnet in «Levante» ein erschütternd düsteres Bild der Lage. Eine Abtreibungsklinik stellt sich als regelrecht religiöse Falle heraus. Die vermeintliche Krankenschwester hausiert fortan mit ihrem Wissen, setzt die Familie, den Club und natürlich Sofia das Messer an die Brust. Die Solidarität ihres bunt gemischten Teams hinsichtlich Herkunft, sexueller Identität und amouröser Ausrichtung kann gegen den Pranger der öffentlichen Meinung nichts ausrichten. Aus höchster Not heraus beschliesst Sofia, sich selbst der Abtreibung zu bezichtigen, was in eine Massenhysterie mit tätlichen Angriffen in der Absicht, sie zu töten, mitten auf dem Spielfeld ausartet. Es bleibt allein die Lesart, dass sie diese gewaltsame Überreaktion sehenden Auges in Kauf genommen hat, in der Hoffnung, sich spitalreif prügeln zu lassen, würde in der Folge auch den unerwünschten Embryo abtöten.

Gewalt ist auch in «Sem Coração» von Nara Normande und Tião omnipräsent. Die jugendlichen gesellschaftlich Randständigen ergo Schutzbedürftigen in einer ärmlichen Gegend im Norden Brasiliens hat sich als Clique der Ungleichen zusammengeschlossen. Für sich allein ist jedes ihrer Leben bedroht, wovon etliche Szenen zeugen. Ein Menschenleben ist nicht viel Wert. Schulden bei Drogenbanden führen zum Tod, eine vermutete Homosexualität ermächtigt die jahrgangsälteren und kräftigeren Machos der Massenvergewaltigung und für eine junge Frau kulminieren sich diese Gefahrenherde. Für Tamara (Maya de Vicq) ist es ihr letzter Sommer hier. Sie wird in Brasilia studieren können. Hergezogen waren ihre kultivierten Eltern, als hier noch gar nichts war, um in Ruhe leben zu können. Damit ists längst vorbei. Eine Aussenseiterin, Fischerstochter und Taucherin, wird von den Clique als «herzlos» ausgeschlossen. Gerüchtehalber soll ihr das Herz operativ entfernt worden sein. Auch weil sie als einzige der Jugendlichen von früh bis spät arbeiten muss, hat sie sich in ihrer sozialen Isolation eingerichtet, die erst aufbricht, als sich die beiden zentralen Frauenfiguren erstmals begegnen. Auf die gegenseitige Faszination folgt eine zaghaft-vorsichtige Annäherung, die aber vorübergehend bleiben muss, weil die ausgeprägten Klassenunterschiede inklusive einer rassistischen Selbstverständlichkeit in der sie umgebenden Gesellschaft keinen Anlass für ein Happyend bieten. Die ausnehmend schönen Bilder des Films helfen nur bedingt über das erdrückende Grundgefühl hinweg.

Die ausnehmend schönen Bilder des Films helfen nur bedingt über das erdrückende Grundgefühl hinweg.

Persona non grata

Der heterosexuelle Filmemacher Appolain Siewe liest in Berlin von der brutal-hinterhältigen Hinrichtung, dem Beschrieb nach eine sadistische Menschenschlachtung des kamerunischen Journalisten und Gayrights-Aktivisten Eric Lembembe. Als in Berlin lebender Kameruner, der in seinem Kiez von einer kompletten Selbstverständlichkeit anderer Lebensformen regelrecht umzingelt ist, beschliesst er, in seinem Herkunftsland nach den Ursachen für den dortigen Hass auf Homosexuelle zu forschen. Als er seinem Vater von seinen Plänen erzählt, genügt allein der Begriff homosexuell, dass ihn dieser nach einer Schimpftirade verstösst und sich verleugnen lässt. Er wird ihn bis zu dessen Hinschied nie wieder sprechen, alle Jugendfreunde wenden sich von ihm ab, er wird allein durch das Interesse am Thema zur persona non grata. «Code of fear» zeugt von einer verstörenden Zeitgleichheit einerseits existierender einschlägiger Treffpunkte und andererseits existenzbedrohlicher Lebensumstände für Menschenrechtsanwältinnen wie Alice Nkom oder Saskia Ditisheim. Siewe trifft Soziologen, Aktivisten und Geistliche. Während der katholische sofort abblockt und Beschimpfungen äussert, die an Drohungen gemahnen, zeigt sich der protestantische aufgeschlossener. Seiner Einschätzung nach ist die Heftigkeit der dominierenden Homophobie in Kamerun eine Folge der deutschen Kolonisierung. Er weiss von mythischen Ritualen und Zeugnissen von gleichgeschlechtlicher Sexualität im 19. Jahrhundert zu berichten, die erst durch die Kolonisatoren gewaltsam unterbunden wurden. Eine gleichlautende Herleitung war erst kürzlich andernorts bezüglich des Mittleren Ostens vernehmbar. Die sogenannt Wilden wurden zwangsweise sogenannt zivilisiert und diese haben sich so innig assimiliert, dass ihre von Europa aufoktroyierte Anfeindung von Homosexualität und trans Identität heute wiederum aus einer europäischen Perspektive als rückständig alias wild verschrien und abgelehnt wird. Die Frage, inwieweit eine eurozentrische Weltsicht ein Land wie hier Kamerun zum wiederholten Mal zu bevormunden im Begriff ist, erscheint als ein grosses Fragezeichen. 

«Code of fear» zeugt von einer verstörenden Zeitgleichheit einerseits existierender einschlägiger Treffpunkte und andererseits existenzbedrohlicher Lebensumstände

Intersektionalität, also die Berücksichtigung von mehreren voneinander unabhängigen und trotzdem zeitgleich wirkenden Marginalisierungen wie Geschlecht, Hautfarbe, Klasse, sexuelle Präferenz gemeinsam zu verstehen, ist mit ein Thema von «Otherness» von Alba Cros Pellisé, Nora Haddad Casadevall. Die Ausgangsfrage richtet sich genereller an das sogenannte Anderssein. Im Umkehrschluss also an die sogenannte Norm. Ein halbes Dutzend lesbischer Frauen und trans Personen in Katalonien aus allen Generationen fordern mit der Beweisführung ihrer Lebensweise diese Dualität heraus, grundlegend infrage gestellt zu werden. Eine trans Frau und Mutter sieht hoffnungsvoll auf die nachkommenden Generationen, die bereits wankende, wenngleich noch annähernd für sakrosankt behauptete Binarität in Zukunft noch weiter raffinieren zu vermögen. Eine lesbische Schwarze Muslima, die ihren Glauben und ihre Sexualität in Einklang lebt, fordert fundamentalhumanistisch generellen zwischenmenschlichen Respekt. Ein gealtertes lesbisches Paar wie ein junges Aussteigerinnenpaar weigern sich standhaft, sich selbst als ausserhalb einer Norm existierend überhaupt wahrzunehmen. Und eine lesbische Sexarbeiterin mit teils männlicher Kundschaft lebt eine Frauenbeziehung und fordert von der Community, die Rechte von Sexarbeiter:innen mitzudenken, wenn Rechtsansprüche und Solidaritätsnoten formuliert werden. Einige Positionen sind regelrecht herausfordernd, weil sie die eigene bisherige Vorstellungskraft von einem glücklichen Dasein überfordern, also die vielgepriesene Toleranz in ihrer Notwendigkeit erfahrbar machen.

«Desire Lines» von Jules Rosskam, von der Wettbewerbsjury als Gewinnerfilm auserkoren, geht einem Tabu nach, das offenbar weit verbreitet ist und dennoch unter dem Deckel behalten wird. Auch in der Szene. Die Rede ist davon, dass sich offenbar ein beachtlicher Teil von trans Männern von cis-schwulen Männern sexuell angezogen fühlen. Der Erstgedanke, hier wäre von einer potenziellen Diskriminierung die Rede, hat mich eine Nacht lang auf ein gedankliches Stumpengleis geführt, bis sich der Knopf am Folgetag löste, weil es sich hier vielmehr um das sogenannte Beuteschema alias Vorliebe handelt. Wenn ich mit 99,9 Prozent der Menschheit keine sexuelle Interaktion begehre und dies eine Diskriminierung darstellen würde, schaut die Fragestellung ungleich anders aus, als wenn sich im Falle einer real gefühlten Anziehung herausstellen sollte, dass ein Gegenüber bis auf das Geschlechtsteil in meiner Wahrnehmung als Mann durchgeht. Während ersteres als theoretisch bewältigbar erscheint, stellt sich bei zweiterem erst im realen Fall überhaupt die Frage nach der Flexibilität nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln. Ist es wirklich der Schwellkörper im Schritt, der einen Mann ausmacht und von dessen Existenz die sexuelle Erregung abhängt? Der Film ertappt. Und klärt über die Schwierigkeiten von trans Männern im Allgemeinen – im Gesundheitswesen etwa – und im Speziellen im Falle dieser sexuellen Vorliebe auf. Darüber hinaus lenkt er den Fokus auf die noch zu gering ausgeprägt erfolgte Ahnenforschung. Prominent im Bild ist Lou Sullivan (1951-1991), der sich als erster trans Mann als schwul geoutet hatte. Zahllose weitere, bislang Namenlose harren noch ihrer (Wieder-)Entdeckung. 

Der Film ertappt. Und klärt über die Schwierigkeiten von trans Männern im Allgemeinen – im Gesundheitswesen etwa – und im Speziellen im Falle dieser sexuellen Vorliebe auf.

Der Norm entkommen

Die Dringlichkeit dieses Wissens führt der koreanische Film «Peafowl» von Sungbin Byun exemplarisch vor Augen. Die trans Frau Myung (Choi Hae Jun) wird unter dem Vorwand einer unerwarteten Erbschaft an die Beerdigungszeremonie ihres verhassten Vaters aufs Land gelockt. Die ausnehmend stilsichere Waacking-Tänzerin (eine Form von Vogueing) braucht dringend Geld für die letzte geschlechtsangleichende Operation. Im Dorf schlägt ihr die Feindseligkeit mit aller Härte ins Gesicht. Onkel und Tante zwingen sie in die männliche Traditionsrolle, um dem nach jahrhundertealten Regeln ablaufenden Zeremoniell überhaupt beiwohnen zu dürfen. Der Vater, von seinem Jünger Meister genannt, war wohl so etwas wie ein Hohepriester und Hüter eines Schreins. Seine und die Feindseligkeit seines Bruders wird erst in ihrer lebenslangen Heftigkeit und Intensität für Myung begreifbar, als sie in den Hinterlassenschaften des Vaters eine vergilbte Fotografie ihres Grossvaters findet. Eine Wand des Schweigens bewahrt das Geheimnis weiter, derweil Myung einen jungen Schwulen im Dorf vor dessen unfreiwilligen Outing und den Folgen bewahrt und dafür die ganze Häme selber schultert. Vierzehn Tage bis zu einer zweiten Zeremonie soll Myung das aushalten. Erst die Redseligkeit, herbeigeführt durch eine überragende Trunkenheit des Onkels, bringt sie mit dem verschwiegenen Familiengeheimnis in Kontakt. Schon der Grossvater lebte selbstbewusst und stolz eine Lebensrolle, die nicht männlich allein definiert war. Für den Familienunterhalt gab er sich anderen Männern hin und gab sich äusserlich im Mindesten höchst androgyn. Der Hass der Elterngeneration auf Myung richtet sich also zuerst auf die ihr vorgegangene Generation. Statt sich über Jahrzehnte mit einer Versöhnung mit den Realitäten auseinanderzusetzen, steckte sie alle Energie in die Negierung und wurde durch das Coming-Out von Myung erneut getriggert. In Kenntnis der Historie wird die Aktualität für sie erträglicher und eröffnet den Zugang zu einem Hebel der friedlichen Annäherung.

Wohin eine selbstauferlegte Überangepasstheit führen kann, zeichnen Ismet Kurtulus und Kaan Arici im Kammerspiel «RSVP» nach. Semih (Ushan Cakir) und Ceren (Melissa Senolsun) stehen kurz vor ihrer türkischen Vermählung mit Hundertschaften von geladenen Gästen, als der Trauzeuge Mert (Cem Ygit Uzümoglu) seine Sticheleiattacke startet. Die Dialoge sind reissbretthaft auf Eskalation getrimmt und bleiben damit auf der Oberfläche nur bedingt glaubwürdig, lenken dafür via die Reaktionen des heiratswilligen Paares auf die jeweiligen Enthüllungen den Blick auf die tieferliegende, regelrecht panische Angst der beiden vor einem Scheitern. Nach und nach stellt sich heraus, dass Semih und Mert seit sieben Jahren ein Liebespaar sind und dass Ceren von einem ebenfalls anderweitig ausgeübten Beischlafunfall schwanger ist. Die Empörung über diese Offenbarungen ist sehr verschieden. Ein Seitensprung einer Frau innerhalb der heterosexuellen Norm ist offenbar das Allerletzte, während eine langjährige schwule Freundschaft nichts mit der bevorstehenden ehelichen Verbindung zu tun hat. Der Film ist eine Farce und entlarvt eine Farce. Beide Teile des Brautpaars sind bis zuletzt gewillt, die Hochzeit durchzuziehen. Derart gross ist ihre Furcht vor dem Verdikt ihrer sozialen Umgebung, sollten sie das einmal geäusserte Versprechen als falsch und völlig verlogen zu erkennen geben. Auf der Strecke bleibt, wer die Wahrheit ans Licht zu zerren versucht.

Heimlichkeit ist auch für Hanna (ein Pseudo­nym) in Tove Pils «Labor» das höchste Gebot. Als sie Ellie kennenlernte, glaubte sie, diese Liebe würde «ihr Leben retten». Irgendwo in den Weiten des ländlichen Schweden. Ihr körperliches Begehren indes wollte grössere Sprünge und Experimente erleben, weshalb sie für eine sexuelle Auszeit nach San Francisco reiste. Gegenüber Ellie war sie offen, aber die Familie und ihr Umfeld wollte sie nicht mit ihrer Realität konfrontieren. Hanna fand Erfüllung in der BDSM-Szene und als Co-Sub mit der Sexarbeiterin und Domina Cloe Zugang in eine neue Welt. Und im teuren Kalifornien ebenfalls ein (für sie leichtes) Auskommen, um den Aufenthalt immer weiter zu verlängern, bis sich die Frage nach der Partnerschaft mit Ellie immer drängender in den Weg stellte. Der Film ist eine Art Tagebuchüberlegungen mit Symbolbildern. Ergänzt mit freizügigen Erlebnisberichten von Cloe und dem ebenfalls als Sexarbeiter tätigen trans Mann Cyd. Das verkrampfte Verhältnis zu einer ausgeprägt experimentellen Sexualität und nicht zuletzt die Frage nach der Oberhoheit über den eigenen Körper werden aus dieser Warte nochmals ganz anders gestellt. Die anscheinend moralische Verwerflichkeit von Sexarbeit, die anscheinend alles dominierende sexuelle Treue in einer Partnerschaft und der Grat zwischen Kompromiss und Selbstermächtigung innerhalb einer Liebesbeziehung erfahren hier ihre Infragestellung.

Das verkrampfte Verhältnis zu einer ausgeprägt experimentellen Sexualität und nicht zuletzt die Frage nach der Oberhoheit über den eigenen Körper werden aus dieser Warte nochmals ganz anders gestellt.

Für inter Personen wie die ehemalige südafrikanische Schönheitskönigin Sahron-Rose Khumalo und Aktivist:in Dimakatso Sebidi  stellt meist der Körper selbst die Fragen. Als mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen geborene Säuglinge wurden sie operativ einem Geschlecht zugeteilt. Erst mit der Pubertät, so erzählen sie Tunde Skovran in «Who I am not», nahmen sie wahr, dass an ihrem Körper etwas anders ist. Sie mussten ein Lügenkonstrukt aufbauen, das im Sinn des Schönheitswettbewerbs bis zur Imitation von Perfektion geht, was in der Partnersuche beim Thema Fortpflanzung sofort in sich zusammenbricht. Im Film entledigt sich Dimakatso Sebidi endlich der störenden Brüste und beide finden in einem augenscheinlich fachlich sehr versierten Arzt eine Vertrauensperson, die ihnen erstmals überhaupt fundiert Auskunft über ihre tatsächliche anatomische Beschaffenheit vermitteln kann. Die Reaktionen der beiden macht offenkundig, wie sehr ihre individuelle Lage auch in der Medizin ein Rotes Tuch darstellt. Unwissen gepaart mit einem speziell ausgeprägten Glauben – «Nur Gott kann vergeben, also muss ich mich bei Dir gar nicht entschuldigen», sagt der Vater zu Dimakatso Sebidi – und die gesellschaftliche Vorstellung da­rüber, was einer Norm entspricht, sind Kräfte, die die Leben der beiden (stellvertretend für viele) seit Jahrzehnten erschweren und die Selbstentfaltung und -werdung gelinde gesagt behindern. Dass die beiden emotional recht offen intim öffentlich in eine Bresche schlagen, ist ebenso mutig wie offensichtlich notwendig.

Veränderte Problemlage

Ungefähr ein Dutzend Filme des diesjährigen PinkApple-Programms behandelten die Thematik des Coming-Out. Insbesondere erfreuliche Signale kommen aus dem Norden. Kenneth Elvebakk portraitiert in «Hello World» vier norwegische Teenager über einen Zeitraum von drei Jahren. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Eltern gegenüber den Vorbehalten einer Schule hinter ihr Kind stellen, das sich im Alter von zwölf Jahren auch öffentlich outen will, ob das nun Turbulenzen nach sich zieht oder nicht, zeugt von einer erfrischend veränderten Ausgangslage. Natürlich schieben einzelne stellenweise den Blues, sind mit dem eigenen Körper unzufrieden oder haben die Begriffsstutzigkeit eines älteren Bruders sowas von satt, dass auch mal harsche Töne anklingen. Die Selbstverständlichkeit, mit der auch die eigene Peergroup von Teenagern auf ein Coming-Out reagiert und die Personen im Nu wieder in die Clique integriert, grenzt in der Ausmalung von Anthony Schattemans «Young Hearts» schon beinahe an Kitsch. Aber die Zeiten scheinen sich zumindest in den Benelux-Staaten und der dortigen Mittelschicht massiv verändert zu haben. In Kanada geht das soweit, dass Julien Cadieux mit «Y a une étoile», einem recht aufsässig schrillen Musical, trans und queere Personen in der akadischen Community von Québéc feiert. Glaube und Herkunftsstolz scheinen mit einer Offenheit gegenüber sämtlichen Lebensformen einherzugehen. Natürlich kommen übersteigerte Illusionen auch vor, wie dies Ben (Don Shala) in Erblin Nushis «I love you more» erfahren muss. Nach Monaten des Chattens und Telefonierens mit dem in Deutschland lebenden Leo (Leonik Sahiti) soll dieser Traumtyp erstmals nach Albanien kommen. Den grössten Knopf trägt Ben im Kopf. Seine beste Freundin und die Eltern sorgen sich vielmehr um das Idealgebilde, das er sich von seinem Traum erschaffen hat, als dass es sich dabei um einen Jungen handelt, in den er sich verliebt hat. In Elenor Teles «Baan» ist die unerwartete Anziehung zwischen El (Carolina Mirabaia) und Kay (Meghna Lall) das individuell geringste Problem. Einen Platz in der Welt, in der Gesellschaft, im Ich zu finden, ist für beide entschieden schwieriger überhaupt zu finden, was natürlich eine potenzielle Beziehung von überall her torpediert, nur nicht vonseiten Sexualität. Die Befreiung etwa von Emma (Sophie Desmarais) aus dem Einflussbereich ihres Vaters Patrick (Sylvain Marcel), der sie als Nachwuchsdirigentin gleich auch noch managt, hat praktisch keinen Zusammenhang mit ihrer Liebe zur Cellistin Naëlle (Nour Belkhiria). Chloé Robichaud erzählt in «Days of Happiness» vielmehr von der Schwierigkeit, mit einem Vater zu leben, der selbst einen gewalttätigen Vater hatte und sich zeitlebens damit auseinandersetzen muss, selber nicht gewalttätig zu werden. Das führt in dieser Lesart dazu, dass ihm niemand widerspricht, ihn niemand kritisiert und niemand Forderungen an ihn stellt, aus der Angst, ihn zu provozieren. Der polnische Arbeitsmigrant Robert (Hubert Milkovski) kämpft in Leiv Igor Devolds «Norwegian Dream» auch zuvorderst gegen die Unredlichkeit der eigenen Mutter, die ihn gelinde gesagt als Arbeitstier ausnutzt, als gegen äussere Hindernisse, sich auf eine gelebte Liebe mit Ivar (Karl Bekele Steinland) einzulassen. Ivars Vater ist der Fischfabrikbesitzer und das Sinnbild für den kapitalistischen Ausbeuter. Als Robert einen Streik vom Zaun bricht, wird er mit Boni einer eigenen Wohnung und einem höheren Gehalt als Gruppenleiter geködert, Streikbrecher zu werden. Ähnliche Arbeitsverhältnisse kennt Helen (Louise Brealy) in einer strukturschwachen englischen Kleinstadt. In «Chuck Chuck Baby» von Janis Pugh ackern die Frauen in der Geflügelfabrik im Akkord, während ihre rauen, versoffenen, faulen Proletengatten zuhause sitzen und sie triezen. Helen wurde von ihrem Gatten, nachdem dieser ein junges Küken geschwängert hatte, ins Kinderzimmer ihres Elternhauses verbannt. Mit dem Auftauchen ihrer Nachbarin aus Kindertagen, Joanne (Annabel Scholey), in die sie zeitlebens schon verliebt war, sich eine derartige Extravaganz aber verbat, scheint ein neuer Wind durch diese Trostlosigkeit zu wehen. Die Arbeitskolleginnen sind untereinander sehr solidarisch und freuen sich über das neue Lächeln auf Helens Gesicht mehr, als es sie kümmert, in wen sie sich verliebt hat. Ihren Mann halten eh alle für einen Arsch. Auch der philippinische Teenager Andoy hat in «Huling Palabas» von Ryan Machado das viel zentralere Problem der Vaterlosigkeit, als seine Anziehung zu seinem besten Freund aus irgend einer Ecke der dörflichen Gemeinschaft als ein Problem angesehen würde.  Und der junge Ami Michael (Michael Doshier) hat in Greyson Horsts «Trouple» in der Tendenz eine leichte Wahrnehmungsverschiebung, was sich selbst in Relation zu den ihn umgebenden Mitmenschen meint, als dass sein Schwulsein Anlass für Ärger wäre. 

Chloé Robichaud erzählt in «Days of Happiness» vielmehr von der Schwierigkeit, mit einem Vater zu leben, der selbst einen gewalttätigen Vater hatte und sich zeitlebens damit auseinandersetzen muss, selber nicht gewalttätig zu werden.

Unerwartete Wendungen

Das Antidot kommt ebenfalls aus den USA: «Dicks – the Musical» von Larry Charles ist volldreistes Klischeebashing. Eine schrill überdrehte Verballhornung der verbreitet freiwilligen Nachahmung heteronormativer Lebensentwürfe durch mittelständische bis gutverdienende urbane Schwule. Inklusive fliegender Killervagina, einem Tuntengott und haufenweise realsatirischer Seitenhiebe. Zum Lachen zumute ist es in «Les Tortues» von David Lambert weder Thom (Dave Johns) noch Henri (Olivier Gourmet). Seit 35 Jahren ein Paar, wird Henri in Rente geschickt und statt eines Neuanfangs, wie sich das Thom schon lange ausgemalt hat, entwickelt Henri einen ungeahnten Freiheitsdrang. Aus zwei Liebenden werden zwei boshaft Streitende. Zugunsten einer Einhelligkeit haben sich beide in den vergangenen Jahrzehnten mit Tatsachen arrangiert, sich annähernd für den jeweils anderen verbogen und nun soll endgültig damit Schluss sein. Allerdings, so wird es sich herausstellen, haben sie in ihrer langjährigen Partnerschaft das miteinander Reden verlernt. Die Erkenntnis darüber und die Bereitwilligkeit, nichts destotrotz nochmals einen Anlauf zu nehmen, kostet sie beinahe ihre Freundschaft. In «Reas» von Lola Arias tanzen und singen rund ein Dutzend ehemaliger Insassinnen des Frauengefängnisses und des trans Trakts in Buenos Aires durch ihre Leben in Richtung eines neu entfachten Selbstbewusstseins. Formal erinnert das schwer an Theaterpädagogik, während sich der Cast bezüglich einer Diversität und einem trotz allem sie zusammenschweissenden gegenseitigen Verständnis füreinander nicht zu verstecken braucht. Zwei Lehrpersonen indes würden am liebsten im Erdboden versinken, als ihnen die versammelte Unfähigkeit der Behörden bei einem Angriff auf ihre Integrität um die Ohren fliegt. Julien (François Civil) hat sich in seiner Banlieueschule in «Pas de vagues» von Teddy Lussi-Modeste nicht als schwul geoutet. Als ihn eine Schülerin der übergriffigen Anmache beschuldigt, zieht ihm die Spirale der Entwicklungen den Boden unter den Füssen weg. Arbeitskolleginnen unken, es werde ja wohl einen Grund für die Anschuldigungen geben, viele der Schulkinder mit Migrationshintergrund lassen sich vor den Karren der Klägerin spannen und die Schulpflege schaut zu, bis der Lehrer zusammenbricht. Ana (Agnès Krasznahorkai) stolpert im ungarischen Film «Without Air» von Katalin Moldovai über eine Literaturempfehlung. Wenn die Schüler:innen Rimbaud und seine Zeit besser verstehen wollten, könnten sie den Film «Total Eclipse» ansehen, empfiehlt sie ohne Hintergedanken. Sie hat nicht mit der durchdringenden Homophobie eines Vaters gerechnet, der ihr daraus den Strick des Propagierens von widernatürlicher Lebensweise dreht. Schnell ziehen sich die Kreise ihrer Ablehnung weit über die Schule hinaus aus, sie wird einer Hexenjagd nicht unähnlich ihrer Existenzgrundlage wie ihrer Integrität beraubt. Was bleibt, ist der Umzug und ein Neuanfang, sofern sie sich nach diesem Purgatorium überhaupt jemals wieder dazu aufrappeln können wird. Ausgezeichnet mit dem Publikumspreis. Nicht zuletzt portraitiert Madeleine Corbat in «Queer glauben» zwei professionell gläubige Personen: Stefanie Arnold, ehemalige Berner Reitschulaktivistin, fand im Glauben Halt und studierte unter anderem Theologie mit dem Ziel, Priesterin zu werden. Als lesbische Frau wechselte sie von der römisch-katholischen Kirche in die christkatholische Gemeinde. Und Ari Lee, ein trans Mann mit einem Vorleben als mennonitische Priesterin, der mit dem Coming-Out sofort die Stellung und jede soziale Unterstützung verlor, Exorzismen und Konversionstherapien über sich ergehen lassen musste und schliesslich das Theologiestudium bei den Protestanten wieder aufnahm. Der Film erweckt den Anschein, als habe sich zumindest im Bereich des Bodenpersonals einiges zum Besseren verändert, wenngleich beide im Film zentral portraitierten Personen keineswegs zu Protokoll geben, ihr Werdegang ähnelte einem Zuckerschlecken.