Der unbekannte Wähler

Es mag Politiker:innen geben, die den Wahlkampf lieben. Die meisten behaupten es jedenfalls – mindestens in ihrer Nominationsrede. In Tat und Wahrheit geht es vermutlich vielen eher wie Winston Churchill, der gesagt haben soll, dass «das beste Argument gegen die Demokratie ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler» sei. Man muss hier allerdings fairerweise sagen, dass der «Wähler», der an Ständen das Gespräch mit Politiker:innen sucht, um ihnen mal die Meinung zu sagen, vielleicht tatsächlich Churchillsche Reflexe auslöst. Oder – um es mit den Worten unseres Kreuzworträtselautors zu sagen: «Tun Sie mir einen Gefallen und wählen Sie jemand anderes.»

Weil man selbst als begeisterte Wahlkämpferin nicht mit allen Wähler:innen sprechen kann, um zu wissen, was sie wollen, braucht es Behelfslösungen. Umfragen beispielsweise, aber die sind teuer und selbst dann oft mit Vorsicht zu geniessen. Darum greifen die meisten lieber auf die gute alte anekdotische Evidenz zurück oder auf den prototypischen Wähler, der recht häufig ein Nachbar oder eine Verwandte ist. «Selbst mein Nachbar, der doch SVP wählt, stimmt hier Nein», heisst es. Oder: Meine Tante findet diesen Kandidaten total unsympathisch, der hat nie eine Chance! In den Fernsehauftritten werden dann diese Nachbarn und Verwandten oft zu Zufallsbegegnungen auf dem Markt: «Eine Frau ist zu mir gekommen und hat ganz zufällig genau das gesagt, was ich auch finde.» Manchmal ist die Wählerin auch in den Kommentarspalten oder in den sozialen Medien zu finden und dort sagt sie gern, dass sie früher immer die SP (wahlweise andere Partei) gewählt habe, aber jetzt ginge es einfach wirklich nicht mehr.

Und so bleibt er eben ein Rätsel, der Wähler. Das gilt auch für den Leser, der ebenso ein unbekanntes Wesen ist und nicht mit dem Leserbriefschreiber verwechselt werden darf. Kein Wunder also, schätzen viele Politiker:innen ihre Wähler:innen ganz falsch ein. Eine neue Studie hat wissenschaftlich untersucht, wie gut Parlamentsmitglieder die Präferenzen ihrer Wählerschaft überhaupt kennen. Studienmitautor Frédéric Varone hat diese kürzlich auf der Wissenschaftsplattform «DeFacto» ausgeführt. In dieser Studie wurden Bürger:innen zu einigen politischen Fragen wie beispielsweise Rentenalter oder Kampfjets befragt. Dann wurden Parlamentarier:innen gefragt, wie sie die Haltung ihrer Wählerschaft zu diesen Fragen einschätzen. Diese Schätzungen wurden mit den tatsächlichen Präferenzen verglichen. Die Erkenntnisse aus der Studie: Politiker:innen schätzen die Präferenzen oft ungenau ein. Im Durchschnitt liegen sie um die 18 Prozentpunkte falsch. Und bei einem knappen Drittel der Fragen können sie gar nicht einschätzen, wie ihre Wählerschaft zum Thema steht. Zum zweiten sind die gewählten Parlamentsmitglieder von einem systematischen «Konservativismus-Bias» betroffen. Sie glauben also, dass ihre Wähler:innen rechter sind, als sie es tatsächlich sind. Dies erklären die Studienautor:innen mit Projektion: Die Parlamentarer:innen würden davon ausgehen, dass die Wähler:innen ähnlich denken wie sie selbst. Etwas besser sind die Politiker:innen bei den Einschätzungen, wenn es um die Kernthemen ihrer Partei geht, allerdings nicht unbedingt, wenn es sich um ihr eigenes Steckenpferd handelt. So schätzt wohl ein Grüner die Wähler:innen richtig ein, wenn es um Ökologie geht, aber vielleicht nicht in der Sicherheitspolitik – was jetzt natürlich ein vollkommen zufälliges Beispiel ist. Zum Schluss: Parlamentarier:innen, die mit einem schlechten Resultat gewählt wurden, bemühen sich mehr darum, die Präferenzen ihrer Wähler:innen zu kennen, weil sie bei den nächsten Wahlen besser abschneiden wollen.  

An den «Konservatismus-Bias» musste ich denken, als ich die gemeinsamen Forderungen von SVP, FDP und Mitte las, die sich jetzt als «Finanzallianz» im Kantonsrat der «Klimaallianz» entgegen stellen wollen. Sie fordern unter anderem eine kantonale Schuldenbremse, dass die Ausschüttungen der Nationalbank in ein Reservekässeli fliessen und dass der Kanton den Angestellten weniger Teuerungsausgleich bezahlen soll. Zur Erinnerung: Der Kanton Zürich schloss seine Rechnung mit einem kräftigen Plus ab (P.S. berichtete). Es fällt mir schwer zu glauben, dass selbst bei kreuzbürgerlichen Wähler:innen die Frage, wie die Nationalbankausschüttungen verbucht werden, so fest unter den Nägeln brennt. Zudem: Selbst jene, die sich in der Theorie für Disziplin beim Ausgabenwachstum aussprechen, finden dann in der Praxis oft ganz konkrete Sparmassnahmen selten so attraktiv. Und auch die faulen Staatsangestellten sind plötzlich nicht mehr ganz so übel, wenn man sich vergegenwärtigt, dass damit auch Pflegefachleute oder Polizist:innen gemeint sind. Die Vermutung liegt also nahe, dass hier sowohl der «Konservativismus-Bias» wie auch die «Projektion» hinter diesen Forderungen stehen. Politiker:innen schätzen sowohl Wähler:innen als finanzpolitisch konservativer ein, als sie dies sind und sie tun dies auch, weil es ihre eigene Meinung widerspiegelt. Und diese Meinung vertreten sie vermutlich, weil Parlamente insbesondere auch sozioökonomisch nicht sonderlich repräsentativ zusammengesetzt sind und gut Ausgebildete und gut Verdienende in der Mehrheit sind. Findet jedenfalls meine Nachbarin. Oder
meine Tante. Auf jeden Fall alle.

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