- Im Gespräch
«Der Umgang der Stadt Zürich mit Jenischen und Sinti ist erfreulich»
Wie schaffen wir es, dass die Anliegen der Jenischen ins allgemeine Bewusstsein gelangen?
Die Anliegen der Jenischen und Sinti sind zumindest teilweise schon im Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft, aber sie sind bis heute nicht erfüllt. Wir alle wissen, dass insbesondere mehr Stand- und Durchgangsplätze nötig wären. Dennoch erhalten die Jenischen und die Sinti die nötige Unterstützung nicht. Obwohl es weniger Plätze gibt, drängt es mehr und mehr Junge auf die Reise.
Im Zürcher Gemeinderat kamen vor nicht allzu langer Zeit erst der Durchgangsplatz in Zürich-Altstetten und dann der Notfallplatz im Albisgüetli zur Sprache, und beide wurden problemlos unterstützt.
Der Umgang der Stadt Zürich mit Jenischen und Sinti ist erfreulich, das stimmt. Doch betrachtet man den ganzen Kanton Zürich, sieht es leider schlecht aus. Der Kanton schafft es nicht, den Standplatz und die Durchgangsplätze bereitzustellen, die im Richtplan eingetragen sind, und dies, obwohl der Richtplan behördenverbindlich ist und der Kanton in der Pflicht ist. Der Bund müsste hier mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die Minderheiten gemäss europäischen Empfehlungen in den Schulunterricht gehören.
Wie sieht es andernorts in der Schweiz aus?
In einigen Kantonen gut, beispielsweise im Aargau oder im Kanton Graubünden. Andere Kantone wie etwa Solothurn, St. Gallen oder der Thurgau schaffen es einfach nicht, allfällige Planungsvorhaben zur Realisierung zu bringen.
Im Schulunterricht sind doch heutzutage Minderheiten wie Jenische, Sinti und Roma durchaus ein Thema, und die Schülerinnen und Schüler lernen deren Lebensweise kennen.
Es gibt tatsächlich relativ viele gutwillige und engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die bereit sind, die Möglichkeiten zu nutzen, die ihnen der Lehrplan 21 eröffnet. Doch seitens der Bildungsbehörden und Lehrmittelverantwortlichen ist praktisch keine Ermutigung oder gar Förderung auszumachen.
Woraus schliessen Sie das?
Das Paradebeispiel diesbezüglich ist das Lehrmittel «Jenische, Sinti, Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz». Ich durfte die Arbeitsgruppe mit Angehörigen dieser Minderheiten leiten, die das gleichnamige Buch sowie ein elektronisches Lehrmittel in fünfjähriger Arbeit und in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich auf die Beine gestellt hat. Es sollte im Lehrmittelverlag Zürich herauskommen, das war vertraglich so vereinbart. Doch der Verlag ist abgesprungen, und das mit windigen Ausreden. Ich vermute, er hat Angst vor dem Thema bekommen und gleichzeitig befürchtet, damit keinen finanziellen Gewinn zu machen. Das Buch ist schliesslich im Münsterverlag herausgekommen.
Die Minderheit der Jenischen und Sinti wird also in einigen Schulen eher thematisiert als in anderen – doch die Kinder von Jenischen und Sinti besuchen von den jeweiligen Standplätzen aus ganz normal die Schule.
Einige Gemeinden engagieren sich, während andere abwehrend reagieren. Mancherorts müssen Jenische mit einer diffusen Ablehnung leben. Viel problematischer aber ist institutioneller Rassismus, und auch der kommt leider vor.
Wie zum Beispiel?
Es gibt Exekutiven, die ihre ursprünglich guten Absichten nur schon wegen einer vermuteten anderen Haltung in ihrer Gemeinde begraben. In Thal im St. Galler Rheintal etwa war die Mehrheit des Gemeinderats, also der Exekutive, für einen Platz für Jenische und Sinti. Eine einzige SVP-nahe Person war dagegen. Resultat: Aus Angst vor einem SVP-Nein sprach sich die Exekutive gegen den Platz aus. Das hat die Radgenossenschaft nicht akzeptiert. Nun läuft ein Prozess vor dem Anti-Diskriminierungsausschuss der Uno.
Wie sieht es auf Ebene Kanton bzw. Bund aus?
Der beratende Ausschuss des Europarats hat die Kantone aufgefordert, die Minderheiten im Schulunterricht zu thematisieren. Der Bund ist grundsätzlich, aber auch unter diesem europäischem Druck, recht aufgeschlossen, aber dennoch kratzt es kräftig im Getriebe: Ich vermute, die Empfehlungen des Europarats an die Kantone werden vom Bund mit zuwenig Nachdruck weitergeleitet, aber der Bund könnte selbstständig mehr unternehmen, statt nur die Kantone dazu aufzufordern, etwas zu machen.
Kehren wir den Spiess mal um: Müssten die Jenischen einfach in der Öffentlichkeit mehr auf sich aufmerksam machen und darauf, dass sie auch Schweizer:innen sind, die hier leben und Steuern zahlen?
In der Bevölkerung gibt es eher vage Vorstellungen von der Lebensweise von Roma, Sinti und Jenischen sowie oft eine generelle Sympathie – solange diese Menschen nicht in der direkten Nachbarschaft leben. Es gibt jedoch auch Orte, in denen eine grosse Verbundenheit mit ihnen besteht, und das seit Generationen. Im Kanton Graubünden zum Beispiel kann jede ältere Person eine Geschichte erzählen, zum Beispiel vom Messerschleifer, der früher regelmässig im Dorf vorbeikam und für seine gute Arbeit bekannt war. Und natürlich von den paar Filous, die es überall gibt und deren Arbeit nicht so gut war. Die eigenen Leute dazu zu verpflichten, sein Handwerk anständig auszuüben und sich auch sonst korrekt zu verhalten, ist auch im langfristigen Interesse der Gemeinschaft.
Jenische leben nicht nur in Wohnwagen, und allzuviele Messerschleifer gibt es heute nicht mehr.
Das ist Teil des Problems der mangelnden Sichtbarkeit: Viele Jenische üben Berufe aus wie du und ich, von Lehrer:in über Jurist:in bis Designer:in. Sie fallen nicht auf in unserer Gesellschaft, obwohl sie Teil einer recht bedeutenden und auch die Stadtquartiere prägenden Bevölkerungsgruppe sind. In Zürich hat etwa die Hellmutstrasse eine jenische Vergangenheit oder auch das Gebiet rund um den Lindenplatz. Dort wohnen relativ viele Jenische. Die Mehrheitsbevölkerung weiss nichts davon.
Wo sonst noch?
Etwa im Albisgüetli: Die AL hat im Gemeinderat einen Vorstoss für einen Notfallplatz im Albisgüetli gemacht. Die Bürgerlichen befürchteten Probleme und die Verunsicherung der dortigen Quartierbevölkerung, doch die Mehrheit befürwortete den Platz. Er ist unterdessen in Betrieb, und von Problemen ist nichts zu hören. Das ist andernorts ebenfalls zu beobachten: Die realen Probleme, falls es überhaupt welche gibt, sind viel kleiner als die Befürchtungen, die im Vorfeld geäussert werden.
Sie kennen beide Welten, die der Jenischen und die der Nichtjenischen: Woran liegt es, dass die Mehrheitsgesellschaft in der Schweiz immer wieder dieselben Fehler macht, ob im Umgang mit Verdingkindern, fremdplatzierten Jugendlichen oder eben Jenischen?
Zuerst einmal finde ich es grossartig, dass der Bundesrat endlich anerkannt hat, dass der Staat Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, indem er jenische Familien auseinandergerissen, Kinder in Institutionen eingewiesen oder zwangsadoptiert hat, indem Frauen sterilisiert, Familiennamen gelöscht und das Sprechen der jenischen Sprache verboten wurde. Die Genugtuung bei manchen Jenischen ist gross. Doch auf den politisch neuen Stand, den sie damit haben, muss jetzt auch konkret etwas passieren.
Was genau?
Die Radgenossenschaft der Landstrasse hat drei Forderungen: Erstens reicht es nicht mehr, in Sachen Stand- und Durchgangsplätze nur zu reden, es braucht jetzt Massnahmen. Der Bund muss sich etwas einfallen lassen, wie er Kantone und Gemeinden stärker in die Pflicht nehmen kann. Hier ist der politische Wille ebenso gefragt wie Innovationsgeist. Zweitens muss die Minderheit der Jenischen im Schulunterricht vermehrt thematisiert werden, und auch hier kann sich der Bund nicht einfach hinter den Kantonen verstecken, sondern muss aktiv werden. Er könnte beispielsweise Anreize für einen verstärkten direkten Austausch und Begegnungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Jenischen setzen. Drittens gilt es Kulturprojekte verstärkt zu fördern.
Sie fordern mehr Geld für ‹ihre› Radgenossenschaft?
Nein, es geht nicht primär um Geld. Letzte Woche hat der Gemeinderat zwar ein dringliches Postulat der AL überwiesen, das einen jährlichen Beitrag für das Museum der Radgenossenschaft fordert, was uns freut. Doch ob auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene: Wir wollen Massnahmen, die die Community als Ganzes stärken und dazu beitragen, dass das gegenseitige Verständnis gestärkt wird. Die Jenischen in der Schweiz haben zwar durchaus etwas erreicht: Dass Jenische zur Ausübung ihres Berufes weiterhin wie früher reisen können, ist europaweit fast einzigartig: In einigen Ländern können Jenische, Sinti und Roma nicht mehr reisen, oder nur unter grossen Einschränkungen wie beispielsweise in den Niederlanden. Dass Jenische und Sinti in der Schweiz 2016 unter ihren Eigennamen – und nicht als «Fahrende» – offiziell als nationale Minderheit anerkannt wurden, war europaweit eine Premiere, 2017 folgte die Anerkennung der «Travellers» in Irland.
In Zürich ist mit der Überweisung des dringlichen Postulats der AL der Wunsch beim Stadtrat deponiert, der Radgenossenschaft künftig regelmässig Geld zukommen zu lassen: Wofür sollte es verwendet werden?
Wir möchten mehr aufklären können. Das heisst die Öffnungszeiten des Museums erweitern und mehr Personen für die Betreuung von Schulklassen und Studierenden engagieren.
Was sind Ihre Wünsche für die weitere Zukunft?
Zweierlei: Dass Jenische sich bewusst bleiben, dass sie immer mit der Mehrheitsgesellschaft zusammen und von ihr gelebt haben. Da war ein Geben und Nehmen, hüben wie drüben, die Selbstisolation wäre schädlich.
Und zweitens?
Zweitens dass die Jenischen und Sinti ihre eigenen Jurist:innen, Ärzt:innen, Journalist:innen hervorbringen. Es ist immer noch oft so, dass Jenische, die juristischen Beistand brauchen, diesen in der Mehrheitsgesellschaft suchen müssen. Diese Abhängigkeit von der Mehrheitsgesellschaft ist allerdings nicht nur deren ‹Fehler›: Es ist auch für die Jenischen nicht einfach, einen solchen Beruf zu erlernen, ohne sich von der eigenen Kultur zu entfernen oder isoliert zu werden.
Das haben die Jenischen doch mit den Secondos gemein, oder auch mit jenen, die als erstes Kind der Familie studiert haben.
Ja, doch nur, wenn die Jenischen eigene Sprecherinnen und Sprecher haben, kann sich allmählich etwas ändern. Ich setze diesbezüglich vor allem auf Bildung. Trotz allem: Auch wenn sich die Entwicklung nicht beschleunigen lässt, die Richtung stimmt. Kein Gärtner kann Pflanzen aus dem Boden ziehen, damit sie schneller wachsen.