Selten hat ein Tier eine solche Polarisierung und Emotionalität in der Schweizer Politik und Gesellschaft provoziert wie der Wolf. Diese Emotionalität kommt unter anderem daher, dass Wolfsrisse ein grosses Leid für Landwirt:innen sind. Auch wenn man Entschädigungen für die gerissenen Schafe oder Nutztiere1 kriegt, ist es zweifellos schmerzhaft und erschreckend, ein Tier auf solch brutale Art zu verlieren. Dass der Wolf die Grundlage der Alpwirtschaft komplizierter macht, ist eine Tatsache, die es in der politisch-rechtlichen Regulierung des Zusammenlebens von Mensch und Wolf einzubeziehen gilt. Dennoch wird die Debatte auch von einem kulturellen und politischen Hintergrund definiert, in denen der Wolf oft nicht als Tier, sondern als das Ur-Böse betrachtet wird. Dieser Artikel versucht, den prekären politischen und rechtlichen Status des Wolfes zu verstehen und dessen Geschichte zu verfolgen.
Der Wolf als Anti-Mensch
«Homo homini lupus» schrieb schon der römische Dichter Titus Maccius Plautus Anfangs des dritten Jahrhunderts vor Christus, was oft als «Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf» übersetzt wird. Daraus kann man ableiten, dass der Wolf schon immer eine verteufelte Position in unserer westlichen Gesellschaft hielt. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Wolf nicht nur das Monströse der Natur darstellt, sondern auch eine ur-böse Position in der politischen Philosophie und Gesetzgebung erhält. Dies zeigt der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seinem Buch Homo Sacer, in dem er die Stellung des Wolfes im römischen, germanischen und angel-sächsischen Gesetz analysiert: Schon im damaligen politischen Diskurs stellte der Wolf das Gegenteil der zivilisierten Person dar. Gleichzeitig ist er mit dem Menschen so eng verbunden, dass sie in einer Kreatur, dem Werwolf, verschmelzen. So ist der Wolf als rhetorische Figur, wie Agamben argumentiert, ein Wesen, das dadurch in unser politisch-rechtliches System eingeschlossen wird, indem es davon ausgeschlossen wird, ohne dass es zum natürlichen Reich gehören darf. In anderen Worten, der Wolf wird in der politischen Philosophie vermenschlicht, indem er vom Mensch-Sein ausgeschlossen wird. Zudem darf er auch nicht einfach ein Tier sein, sondern wird dazu verbannt, das absolut Böse zu verkörpern.
Der Wolf wird später zusätzlich von der Kirche verunglimpft. Der religiöse Diskurs, der bis zur Aufklärung ebenfalls den politischen Diskurs dominierte, übernimmt den Status des Wolfes der antiken Philosophie. Der Wolf diente als Sündenbock, wenn die Tollwut Leute in den Wahnsinn trieb. Andreas Moser, Biologe und langjähriger Präsentator von Netz Natur, erklärt in einer Sendung: «Die Kirche hat die Tollwut über Jahrhunderte ausgenützt und den Wolf zum Symbol des Bösen deklariert. Menschen, die sich nicht kirchen- und gesellschaftskonform verhielten, seien der Hexerei verfallen und von Wölfen besessen.» So verschmilzt der Diskurs der Kirche die Figur des Wolfes mit der des Teufels. Dieses Narrativ dominierte jahrhundertelang christliche Gesellschaften, schürte so die Angst vor dem Wolf, in denen sich der symbolische Wolf mit dem Tier vermischte, und zementierte dessen Rolle als absoluter Bösewicht der menschlichen Gesellschaft.
Der Wolf als Gegensatz zur Zivilisation
Diese Symbolik des Wolfes als Verkörperung des Bösen und Unzivilisierten zieht sich durch das philosophische und literarische Schreiben der Moderne. Das Zitat von Plautus wird berühmterweise von vielen Philosophen wie Thomas Hobbes, François Rabelais, Michel de Montaigne oder Arthur Schopenhauer wiederverwendet. Zudem fand die negative Symbolik des Wolfes in der Bevölkerung weite Verbreitung durch die Fabeln und Märchen von Jean de la Fontaine, Charles Perrault oder den Brüdern Grimm. In all diesen Texten wird der Wolf mit dem Bösen, Gewalt, Transgressionen, Wildnis und dem Unzivilisierten assoziiert. Der Wolf ist somit in unserem westlichen, politisch-kulturellen Narrativ der grosse Bösewicht, den es zu besiegen gilt. Er ist das Gegengewicht zur Zivilisation. Nur wenn der Wolf besiegt ist, kann Recht, Ordnung und Menschlichkeit wieder hergestellt werden.
Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele: Das wohl bekannteste ist die Legende von Romulus und Remus. Die beiden Brüder aus der römischen Mythologie sollen die Söhne des Kriegsgottes Mars und der Priesterin Rhea Silvia gewesen sein. Nachdem sie ausgesetzt wurden, sollen sie von einer Wölfin grossgezogen worden sein. Als Erwachsene stritten sie sich um die Herrschaft des zukünftigen Roms und, nachdem er seinen Bruder umbrachte, hat Romulus Rom gegründet. Die Wölfin verkörpert hier zwar nicht das Böse, dennoch muss das Wolfs-Sein aufgegeben werden, um die Zivilisation zu gründen. Ein anderes Beispiel hierfür ist Jack Londons Wolfsblut. Während diese Erzählungen also den Wolf nicht als die Verkörperung des Bösen darstellen, deuten auch sie auf eine Darstellung des Tieres dar, die den Wolf mit dem Unzivilisierten gleichsetzt.
Das Koloniale der Anti-Wolf-Politik
Die Emotionalität im Diskurs über den Wolf könnte somit daraus stammen, dass der Wolf grundsätzlich über Jahrhunderte hinweg als eine Art Erzfeind des Menschen und der Zivilisation positioniert wurde. Denn all diese Narrative stellen klar dar, dass die staatspolitische und mittlerweile auch gesellschaftliche Logik will, dass der Mensch den Wolf besiegen muss, um Mensch zu sein. So kann das Zivilisierte (Mensch) vom Unzivilisierten (Wolf) unterschieden werden und so entsteht auch die Selbstberechtigung des westlichen Staates und dessen Rechtsordnung. Hier, so scheint es mir, liegt der epistemologische Kern der westlichen Gesellschaft. Und dieser ist auch zutiefst kolonial.
Das Koloniale an diesem Gedankengut ist, dass der Mensch nicht mehr Teil der Natur ist, sondern diese beherrscht und besiegt werden muss, um Mensch zu sein. So wird durch die selbstberechtigende Logik unserer politischen Philosophie zum Glauben verführt, dass wir die Umwelt und ihre Anwohner nicht nur beherrschen, sondern gar besitzen können und wir ihr somit überlegen sind. Es ist dieser Glaube, der eines der fundamentalsten Differenzen zwischen indigenen Völkern und Europäern darstellt und zum verheerenden Landesdiebstahl führte, den viele Geschichtsbücher auch Kolonialismus nennen. Es ist auch dieser Glaube, der bei uns den Eindruck erweckt, dass wir das Recht haben, andere Tierarten zu «regulieren», ohne dabei zu realisieren, dass wir das dynamische, intelligente Gleichgewicht der Natur zerstören.
Der Wolf in der Schweiz
Auch heute noch befindet sich der Wolf im Zentrum der Schweizer (Staats)Politik. Nachdem wir ihn ein erstes Mal ausgerottet haben, ist der Wolf im Jahr 1995 zum ersten Mal in die Schweiz zurückgekehrt. Somit gibt es seit 1995 auch wieder Nutztierrisse durch den Wolf und seit jeher kriegen die Tierbesitzer:innen eine Entschädigung für jedes gerissene Tier. Seit 2012 hat der Wolf sich wieder in der Schweiz fortgepflanzt und erachtet die Schweiz somit als seinen permanenten Lebensraum. Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) meldet im Jahr 2023 etwa 300 Wölfe und 31 Rudel. Interessanterweise zeigt sich, dass die Zunahme der Wölfe in der Schweiz ihrer sozialen Organisation dienen: Die Rudel bauen sich auf und verfestigen ihre Territorien. Dank dieser sozialen und territorialen Organisation ist auch die Anzahl Risse im Alpsommer 2023 drastisch gesunken. Während im Jahr 2022 zwischen Januar und September 1200 Nutztiere vom Wolf gerissen wurden, waren es im selben Zeitraum des darauffolgenden Jahres nur noch 850 Risse, obwohl die Anzahl Wölfe gestiegen ist. 80 Prozent der Risse finden in Herden statt, die nicht geschützt sind. Damit zeigt sich, dass der Herdenschutz eine massgebliche Rolle spielt.
Trotz der sinkenden Zahlen der Wolfsrisse und dem fehlenden Herdenschutz hat der Bundesrat im August 2023 die Jagdverordnung so angepasst, dass der Wolf rudelweise präventiv abgeschossen werden kann. Diese Verordnungsanpassung geht weit über das Gesetz hinaus. Denn rudelweises präventives Abschiessen des Wolfes war Teil der Vorlage des Jagdgesetzes, über das das Schweizer Volk am 27. September 2020 abgestimmt und mit 51,9 Prozent abgelehnt hat. Die darauffolgende Revision des Jagdgesetzes wurde dementsprechend geschwächt. Das Ziel des Bundesrats ist es, die Anzahl Rudel von 31 auf zwölf Rudel zu reduzieren. Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Insbesondere widerspricht sie explizit dem Willen der Stimmbevölkerung und ist somit verfassungswidrig. Zudem widerspricht sie auch der Berner Konvention. Zudem hat Bundesrat Rösti bei der Revision der Jagdverordnung das Vernehmlassungsgesetz verletzt.
Obwohl der Widerstand gegen diese neue Jagdverordnung gross war, wurde die Verordnungsänderung am 1. Dezember 2023 umgesetzt. Das Bafu stimmte den Bewilligungen für den Abschuss von zwölf Rudeln zu. Stand Mitte Mai 2024 wurden rund 50 Wölfe seit dem 1. Dezember geschossen, 27 davon allein im Wallis. Im Kanton Graubünden und im Wallis wurden die Abschüsse durch eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht temporär gestoppt. Ausserdem haben die Organisationen CHWolf und Avenir Loup Lynx Jura (ALLJ) im letzten November eine Beschwerde gegen die Wolfsjagd beim Europarat eingereicht, die am 24. November 2023 für gültig erklärt wurde. Der Entscheid des Europarates steht noch aus.
Die positiven Seiten des Wolfes bleiben unerwähnt
Spätestens mit der neuen Jagdverordnung wird offensichtlich, dass einige Politiker und Schweizer Bewohner den Wolf immer noch als Bösewicht sehen, den es zu besiegen gilt, um ein zivilisiertes Leben führen zu können. Dabei müsste spezifisch beim Wolf auch auf seine wichtige Rolle im Ökosystem hingearbeitet werden. Denn der positive Einfluss des Wolfes auf ein ganzes Ökosystem als stabilisierender Faktor ist unbestritten. Der Wolf reguliert nicht nur die wildlebende Huftierpopulation, sondern fördert stellenweise auch die Verjüngung des Waldes, hilft bei der Erosionsvorbeugung, stabilisiert Flussläufe und schafft so Lebensräume für verschiedene Amphibien, Reptilien und Fische. Insbesondere der Nachwuchs der Weisstanne ist ohne Wolf stark gefährdet. Diese Tanne ist jedoch wichtig für den Schweizer Wald, da sie hitze- und klimawandelresistent ist. Zudem funktioniert sie dank ihrer tiefen Verwurzelung effizient als Lawinen- und Erdrutschschutz. Schliesslich hält der Wolf den Wildtierstand auch gesund. Denn der Wolf jagt vor allem kranke oder schwache Tiere und ernährt sich als Aasfresser von toten Tieren, die er in Zusammenarbeit mit Raben findet. So beugt er Epidemien bei Wildtieren vor.
Die Leistung, die dieses intelligente und sozial strikt organisierte Tier für unsere Wälder und Biodiversität erbringt, ist somit essenziell. Die wichtige Funktion des Wolfes wird jedoch in der Politik nicht wahrgenommen und man sieht ihn ausschliesslich als Bösewicht, wie es uns seit Jahrhunderten in philosophischen und literarischen Texten eingetrichtert wurde. Manche Politiker sehen den Wolf dermassen unkritisch als der Bösewicht, den es zu besiegen gilt, um zivilisiert zu sein, dass sie paradoxerweise bereit sind, gegen das geltende Recht sowie den Volkswillen zu verstossen und sich in staatspolitisch äusserst prekäre Situationen zu begeben.
Der Wolf steht für Demut
Angesichts unserer zunehmenden wissenschaftlichen Kenntnisse über den Wolf und der Tatsache, dass das Bild des bösen Wolfes ein Konstrukt ist, muss man erkennen, dass der Wolf eine bessere staatspolitische Rolle verdient. Dass dies nicht nur machbar, sondern auch eine gute Sache ist, zeigen uns indigene Völker schon seit Jahrtausenden. Bei der indigenen Nation der Anishinaabe zum Beispiel, deren Territorium sich im Nordosten der Vereinigten Staaten und Südosten Kanadas erstreckt, spielt der Wolf eine zentrale Rolle. Denn da steht er für Demut. Der Anishinaabe-Anwalt und Autor John Borrows erläutert, was unter Demut zu verstehen ist: «Die Lehre der Demut besagt, dass wir letztlich nicht grösser oder kleiner sind als die Menschen, Tiere, Pflanzen, Felsen und Gewässer, die uns umgeben. Wir sind ein Teil der Welt und nicht von ihr getrennt. Daher rät uns die Gabe, an andere zu denken und zu ihrem Besten zu handeln und uns nicht zum Mass aller Dinge zu machen.»
In diesem Sinne steht der Wolf für ein tiefes Verständnis, dass wir voneinander und der Umwelt abhängig sind. Dies ist eines der massgebenden Werte, nach dem die Anishinaabe ihr Rechtssystem und ihre Gesellschaft ausgerichtet haben. Denn sie verstehen, dass falls ein Teil oder Mitglied des Gesamtsystems aus dem Gleichgewicht gerät, wir alle die Folgen dafür tragen müssen. Aus ihrer Sicht symbolisiert der Wolf den Wert der Demut, weil er dies auch vorlebt und er somit ein Vorbild bezüglich dieses Wertes ist.
Was die Anishinaabe schon lange wissen, erkennt die westliche Wissenschaft zunehmend: Dass der Wolf ein sehr wichtiger Teil eines vorsichtig ausbalancierten Ökosystems ist, bei dem alle und alles jeden und alles zu jedem Zeitpunkt brauchen. So kommt es, dass je mehr man über den Wolf lernt und man sich vom Vorurteil des bösen Wolfes entfernt, je mehr man geneigt ist, den römischen Dichter Plautus fertigzulesen. Denn seine berühmte Phrase enthält noch einen zweiten Teil: « Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.» Übersetzen kann man dies mit «Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Das gilt zum mindesten, solange man sich nicht kennt.» Selbstkenntnis, so schreibt er also, führt dazu, dass man anderen Menschen und sich selbst weniger schadet. Das meint auch Andreas Moser über den Wolf: Solange man den Wolf nicht kennt, wird ein friedliches Zusammenleben schwierig sein. Wenn man aber sieht, welche Dienste der Wolf seiner Umwelt leistet (im Vergleich zum enormen Ausmass, in dem wir Menschen ihr schaden), täten wir wahrscheinlich gut daran, nicht den Wolf, sondern uns selbst als das Böse, Wilde und Unzivilisierte und somit als die grösste Gefahr für unsere Existenz und diejenige anderer Arten, zu betrachten.
INFOBOX
1) Als Nutztiere gelten alle Tiere, die direkt oder indirekt zur Produktion von Lebensmitteln oder für eine bestimmte andere Leistung gehalten werden oder dafür vorgesehen sind (Art. 2 Abs. 2 lit. a Tierschutzverordnung). In der Alpwirtschaft werden meistens Schafe, Rinder oder Alpakas dem Wolf zum Opfer.
* Cécile Heim arbeitet als politische Fachreferentin der Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie UREK sowie für Verkehr und Fernmeldewesen KVF für die SP Schweiz.