- Kanton Zürich
Der Riesenmaulwurf ist auf der Zielgeraden
Am Dienstagmorgen regnet es in Strömen auf der Baustelle des Entlastungsstollens Sihl-Zürichsee. Regenwasser fliesst zwischen den provisorischen Unterkünften und Bauleitungsbüros hindurch, die Rampe herab und an der Schutzheiligen Barbara vorbei in den Stollen – als würde die Sihl bereits einen kleinen Vorstoss wagen. Von solchen Wassermengen lässt sich der Tunnel nicht beeindrucken: Mit einem Durchmesser von 6,6 Metern ist er dafür ausgelegt, den gewaltigen Druck von Hochwassern zu bändigen, die in Spitzen bis zu 600 Kubikmeter pro Sekunde erreichen können – ein Ereignis, das etwa alle 500 Jahre zu erwarten ist und bei dem der Stollen die Hälfte dieser Wassermassen ableiten würde, bevor sie in die Stadt gelangen und grosse Teile Zürichs, darunter den Hauptbahnhof, überfluten könnten.
Schon 2005, als die Sihl knapp unter ihrer Kapazitätsgrenze von 300 Kubikmetern pro Sekunde führte, drohte eine Katastrophe – und nur mit Glück blieb Zürich, besonders der Hauptbahnhof, damals trocken. Das Schadenspotenzial wurde auf rund 6,7 Milliarden Franken geschätzt – dagegen sind die Baukosten des Stollens von 175 Millionen Franken Nasenwasser. Um sicherzustellen, dass es nächstes Mal nicht wieder auf Glück ankommt, ist Delia verantwortlich: Eine 158 Meter lange und über 1000 Tonnen schwere Tunnelbohrmaschine, die sich unermüdlich Zentimeter für Zentimeter durch das brüchige Molassegestein Richtung Zürichsee fräst. 1,4 Kilometer hat sie schon geschafft, rund 500 Meter fehlen noch bis zum Lichtblick in Thalwil. Das weiche, ‹gutmütige› Sedimentgestein ist für Delia keine Herausforderung, hatte sie doch während ihres Einsatzes in der zweiten Gotthardröhre mit massivem Granitgestein zu kämpfen. Auf dem Weg durch die unsichtbare Ader im Berg, die später das Rückgrat des Zürcher Hochwasserschutzes bilden soll, erfüllt ein Brummen die warme, feuchte Luft. Die sanfte Neigung des Bodens verrät, dass man sich Delia nähert. Bald ist das Klima tropisch, die Wände mit Rillen versehen – eine Vorsichtsmassnahme, um die Geschwindigkeit der Wassermassen im Ernstfall zu zügeln.
Mit dem Velo zur Arbeit
Betritt man die Maschine, erinnert nichts an die Vorstellung eines Fahrzeuges – bis man die erstaunlich kleinen Rollen entdeckt, auf denen die Stahlkonstruktion sich fortbewegt. Pro Schicht sind hier elf Arbeiter im Einsatz, die meisten von ihnen nehmen für die 1,4 Kilometer durch den Stollen das Velo. Delia ist eine komplizierte Maschine, ein wandernder Koloss, der seinen eigenen Lebensraum mit sich zieht: Auf ihrem Rücken trägt sie eine Karawane aus Gerätschaften: Steuerungssysteme, Entstauber, Messgeräte, Fluchtkammer für den Katastrophenfall. Chefbauleiter Jürgen Ganzmann sagt, letzteren wolle er sich lieber nicht vorstellen, auch wenn der Rettungscontainer für 30 Personen einen Tag lang Sauerstoff liefern könnte. Für Sicherheit sorgt auch, dass der Tunnel direkt hinter dem Bohrkopf stabilisiert wird: Massive Betonsegmente, sogenannte Tübbinge, werden hier millimetergenau aneinandergefügt, jeweils sechs an der Zahl, die wie gebogene Legosteine ineinanderpassen. Ist ein Ring geschlossen, pumpen die Arbeiter:innen eine Mischung aus Mörtel und Beschleuniger zwischen Betonring und Fels, die in wenigen Sekunden einhärtet. Die Maschinen fahren hoch, Drehlichter blinken, Sirenen ertönen – und Delia bohrt sich weitere knapp zwei Meter in den Berg, das Förderband an der Decke des Tunnels setzt sich in Bewegung, der Abraum wird Richtung Sihl transportiert und das nächste Tübbing-Sextett kann verbaut werden. Ein Zyklus aus Vortrieb und Ringbau, der weniger als eine Stunde dauert. Tagesrekord: 39,6 Meter, Monatsrekord: 527,4 Meter.
See (fast) in Sicht
Bis zum Durchbruch wird sich dieser Zyklus noch ein paar hundert Mal wiederholen – er ist aber, sollten wie bis dato keine Komplikationen auftreten, dieses Jahr durchaus zu schaffen. Nach der Ankunft in Thalwil wird Delia auseinandergebaut und in Einzelteilen auf ihr nächstes Abenteuer geschickt. Danach müssen noch das Einlaufbauwerk in der Sihl und das Auslaufbauwerk im Zürichsee vor Thalwil fertiggestellt werden. Die Inbetriebnahme des Stollens ist für 2026 geplant.