Der Preis steigt

In den letzten zwei Wochen stand die Sozialhilfe dreimal im Zentrum: Der Zürcher Sozialvorsteher Raphael Golta gab seine Absicht bekannt, künftig auf Strafen bei der Integration in den Arbeitsmarkt möglichst zu verzichten. Die Sozialkonferenz der Städte veröffentlichte Zahlen, die einen Anstieg der Fallzahlen und sehr grosse Differenzen zwischen den Städten aufzeigen. Nicolas Galladé stellte den Bericht vor, der aufzeigte, dass in Winterthur durch deutlich weniger Sozialhilfeempfangende pro SozialarbeiterIn die Kosten gesenkt werden können.

 

Zu Winterthur gibt es am wenigsten zu sagen: Vor allem, dass der Winterthurer Politik (wie es die dortige SVP verlangt) schwer zu helfen wäre, wenn sie den Vorschlag des Stadtrats auf mehr Stellen ablehnen würde. Es kann so bessere Arbeit und allseitig grössere Zufriedenheit mit einem finanziellen Effizienzeffekt gekoppelt werden. Dazu gehört eine wichtige Einschränkung: Die 145 heute von einem Winterthurer Sozialarbeiter betreuten Sozialhilfeempfänger sind derart viele, dass eine allgemeine Übertragung auf andere Städte keinen Sinn ergibt.

 

Die grosse Differenz bei der Sozialquote zwischen den einzelnen Städten zeigt vor allem eines: Der lokale Arbeitsmarkt und die historisch gewachsene Demographie spielen eine weit grössere Rolle als die Fähigkeit der Sozialämter oder die Details der mit der Sozialhilfe verbundenen Bedingungen. Die Uhrenstadt Biel schaffte bisher die Umstellung auf Dienstleistungen weniger als Zürich. In Biel fehlen Arbeitsplätze für die ehemaligen Industrieangestellten. Dafür weist die Stadt recht viele günstige Wohnungen auf, die sich auch SozialhilfeempfängerInnen aus der Umgebung leisten können. In Zürich fehlen erstens diese Wohnungen und zweitens lebt heute eine ganz andere Bevölkerung in der Stadt: Über die Hälfte besitzt einen Akademikerabschluss. Winterthur bewegt sich dazwischen.

 

Liliane Minor schrieb zur geplanten Reform in der Stadt Zürich im ›Tages-Anzeiger› einen befürwortenden Leitartikel, dessen Schlussfolgerung, dass Raphael Golta mit den Veränderungen den Pragmatismus auf seiner Seite habe, ich teile. Weniger die Analyse, dass unter Monika Stocker in der Stadtzürcher Sozialhilfe «Laisse-faire» und anschliessend unter Martin Waser ein zu strenges und zu kontrollierendes Regime herrschte. Das finde ich historisch falsch und gegenüber Monika Stocker ungerecht; aber vor allem geht es am Problem vorbei. Genauso wie das Statement der FDP, es würden falsche Anreize (mangelnde Strafen) gesetzt, oder teilweise der linken Begeisterung, mit Motivation und Bildung werde alles gut oder zumindest besser. Beides behebt das Grundproblem nicht, dass rund 5 Prozent der StadtzürcherInnen im Abseits zu landen drohen.

 

Mit der Sozialhilfe lebt man erstens so bescheiden, dass die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben gefährdet ist. Zweitens fehlt vielen eine Funktion, eine Anerkennung in der Gesellschaft. Ob ein Grundeinkommen für alle in Zukunft eine Lösung sein wird, lasse ich bewusst offen. Aber es darf kein Grundeinkommen nur für SozialhilfeempfängerInnen geben. Sozialhilfe ist mit immer noch sehr guten Gründen als Soforthilfe gedacht, als Zwischenstufe für eine Position in der Gesellschaft.

 

Mit wenigen Ausnahmen (Überbrückung bis zu den Stipendien oder der Arbeitslosenhilfe) ist die Aufforderung zur Selbsthilfe ein Unsinn. Sozialhilfe erhält – von Ausnahmen abgesehen – , wer es alleine nicht mehr schafft und nicht, wer Lust auf die Hängematte hat. Hilfe zur Selbsthilfe ist das Minimum.

 

Als Monika Stocker die Sozialhilfe neu organisierte, existierte nach der wirtschaftlichen Erholung ein Arbeitsmarkt, der die Aufnahme von recht vielen erhoffen liess. Nach dem Motto «Fördern und fordern» wurde das Grundeinkommen gekürzt. Den Einnahmeausfall konnte man mit Arbeit im ersten Arbeitsmarkt oder in sozialen Betrieben um bis zu 600 Franken erhöhen, oder mit Freiwilligenarbeit zumindest auf dem gleichen Level halten. Wer nicht mehr konnte, erhielt meist eine IV. Dies trifft heute nicht mehr zu. Viele, die damals eine Rente erhielten, verbleiben heute in der Sozialhilfe. Das macht sie nicht gesünder, aber veränderte die Sozialhilfe. Aktuell muss man davon ausgehen, dass gut 30 Prozent der Sozialhilfeempfangenden eine Chance besitzen, im existierenden ersten Arbeitsmarkt wieder eine Existenz zu finden – sei es vorübergehend oder dauerhaft.

 

Der Arbeitsmarkt der Stadt Zürich und ihre Einwohnerschaft haben sich massiv verändert. Wie bereits erwähnt besitzt mehr als die Hälfte der im Erwerbsleben Tätigen eine universitäre Ausbildung. Die Digitalisierung führt nach der Trendentwicklung zu einem Bedarf an Hochqualifizierten und teilweise auch Unqualifizierten und zu einem Verlust vieler mittlerer Positionen. Das Letzte ist vorläufig für die Sozialhilfe noch nicht ganz zentral, könnte es aber werden. Entscheidend ist folgende Entwicklung: Qualifizierte Frauen erhöhen ihr Pensum (der Ruf nach Fachkräften ist laut), was den Bedarf an Haushalthilfen, Kinder- und Betagtenbetreuung erhöht. Das kann eine Chance auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt sein.

 

Die Schweiz kennt einen ausgesprochen liberalen Arbeitsmarkt. Konjunkturelle Verwerfungen fingen bisher die sozialen Netze auf. Diese Rechnung geht je länger, je weniger auf. Und der Weg kann nicht eine Sozialhilfe mit zweitem Arbeitsmarkt und mit zusätzlicher Bildung und Weiterbildung alleine sein. Nichts dagegen, aber es genügt ganz einfach nicht. Vor allem angesichts einer Arbeitssituation, in der in etlichen Bereichen mehr Hände die Situation verbesserten.

 

Ohne Arbeitgeber (dazu gehört auch der Staat), die ganz bewusst etwas langsamere Personen einstellen, geht es nicht. Nicht nur die Tüchtigsten können Sinnvolles leisten. Wenn man sie lässt und etwa bei Kitas oder in den Spitälern den Wettbewerb der Effizienz etwas dämpft. Was etwas kostet. Oder in einem Laden Leute anstellt, die langsamer auffüllen. Auch in Finanzinstituten könnte man in das Wohlergehen investieren. Das alles ergibt nur einen Sinn, wenn diese Angestellten anständig bezahlt werden, also nicht unter dem Mindestlohn. Das Modell, dass die Hälfte des Lohnes die Sozialhilfe übernimmt, hat in meinen Augen keine Zukunft. Wohl aber, dass die Stadt in ihren Betrieben vorangeht. Das ist insofern realistisch und ökonomisch, als eine Gesellschaft, die immer mehr ausschliesst, bald in grosse Schwierigkeiten gerät.

 

Koni Loepfe

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