«Der MV ist auch eine Kampforganisation»

Am Dienstag findet die Vernissage von «Nur noch für die Miete schafffen?» statt. Warum das Buch zum 125. Geburtstag des MV Zürich kein klassisches Jubiläumsbuch ist, erklärt Autor Niklaus Scherr im Gespräch.

 

Ihrem Buch liegt Material aus 125 Jahren Mieterinnen- und Mieterverband (MV) zugrunde – wie gross war die Qual der Wahl?

Niklaus Scherr: Sie hielt sich in Grenzen, denn es gibt keine lückenlose Sammlung von MV-Akten ab der Gründungsversammlung bis heute. Anders als der Hauseigentümerverband, der von Anfang an durchorganisiert war, eine Geschäftsstelle und ein Archiv hatte, bewahrten die früheren Präsidenten des MV die Unterlagen nach eigenem Ermessen auf – oder eben nicht: Einiges landete im Sozialarchiv, anderes im Hagenholz.

 

Nach welchen Kriterien haben Sie Ihr Material ausgewählt?

Ich nutzte das Jubiläum als Aufhänger, traf aber ansonsten eine subjektive Auswahl. Zu den letzten 25 Jahren gebe ich lediglich die Chronologie der Ereignisse wieder, da ich diese Zeit aktiv mitgeprägt habe: Meine eigene Geschichte zu schreiben, wäre mir seltsam vorgekommen. Aus dem restlichen Material habe ich einzelne Episoden herausgepickt. Die Auswahl ist also eher zufällig, doch damit ist die Hoffnung verbunden, dass das Buch dadurch lesbarer und farbiger würde.

 

Die Tücken des Mietrechts sind tatsächlich nicht als leichte Kost bekannt…

Die Auseinandersetzung mit rechtlichen Fragen einerseits und die konkrete Unterstützung der Mitglieder im Alltag anderseits ist jedoch genau das, was den MV ausmacht. Er ist deutlich dienstleistungsorientierter als beispielsweise eine Gewerkschaft. Rechtsberater und Anwältinnen prägen das Bild. Aber er ist auch eine Kampforganisation, ein Kollektiv von Leuten mit gemeinsamen Interessen. Diesem Mix und seinen Auswirkungen auf die tägliche Arbeit gehe ich insbesondere im Schlusskapitel nach.

 

Dessen Titel lautet, «Konsumentenorganisation oder Gewerkschaft? Streik oder Reform? Wie kämpfen?.» Woher kommt es, dass der MV gewissermassen weder Fisch noch Vogel ist?

Der Hauptgrund liegt darin, dass wir, wenn wir die Wohnungstüre hinter uns zuziehen, in unserer Privatsphäre sind. Angebote wie jene des MV nehmen wir nur dann in Anspruch, wenn dieser Bereich bedroht ist, sei es, weil die Miete stark aufschlägt oder gar das ganze Haus leergekündigt werden soll. Am Arbeitsplatz, den die Gewerkschaften abdecken, sind wir hingegen Teil eines sozialen Prozesses, wir befinden uns nicht in unserer Privatsphäre, und wir bilden mit den anderen Menschen eine Interessengemeinschaft.

 

Letzteres trifft doch auch auf MieterInnen zu.

Temporär können auch MieterInnen eine Interessengemeinschaft bilden, etwa bei umfassenden Renovationen, vor allem aber, wenn der Vermieter zur Totalkündigung schreitet oder das Haus abreissen will. Doch die in solchen Momenten entstehende Solidarität unter den MieterInnen ist von begrenzter und meist kurzer Dauer. Angesichts der starken Heterogenität der betroffenen Mieterschaft und ihrer schwachen sozialen Vernetzung, aber auch aufgrund der langen Dauer der gerichtlichen Verfahren gewinnen individuelle Erwägungen rasch wieder Oberhand. Wie der Mieterverband trotz dieser ungünstigen Ausgangsbedingungen Ansätze zu kollektiven Kampfformen entwickeln kann, analysiere ich im Schlusskapitel anhand von Beispielen.

 

Umgekehrt scheint aber auch die Mobilisierung der Mieterschaft für Probleme, die auf politischer Ebene zu lösen sind, gar nicht so einfach. Sie beruhigen die LeserInnen immerhin insofern, als Sie der verbreiteten Ansicht widersprechen, die Schweizer­Innen seien als «Volk von MieterInnen» dumm genug, um an der Urne wiederholt gegen ihre eigenen Interessen abzustimmen…

Dieser Teil ist etwas polemisch formuliert, doch die Vorstellung, dass die Leute bei gewissen Vorlagen nur deshalb einer bestimmten Abstimmungsparole folgen sollten, weil sie MieterInnen sind, fand ich schon immer zu kurz gegriffen. Und mit dem «Volk der MieterInnen» ist es, nüchtern betrachtet, auch nicht so weit her. Gemäss Volkszählung 2000 beträgt der Anteil Mieterhaushalte im Kanton Zürich zwar 75 Prozent, doch darin sind auch die Haushalte der nicht-stimmberechtigten AusländerInnen enthalten. Zudem leben in Eigentümerhaushalten durchschnittlich mehr Personen. Berücksichtigt man dies, kommt man im Kanton Zürich noch auf einen Mieteranteil von 64,5 Prozent – und wie viele dieser MieterInnen zusätzlich ein Ferienhaus besitzen oder ein Einfamilienhaus geerbt haben bzw. noch erben werden, also potenziell auch Vermieterhaushalte sind, ist nochmals eine andere Frage.

 

Was braucht es denn, damit Abstimmungen im Sinne des MV ausgehen?

Das ist eine einfache Rechnung: Wenn es klappt, dann ist immer ein grosses Paket mit Stimmen aus dem Lager der SVP-Wähler­Innen dabei. Die Linke allein schafft es nicht.

 

Im ersten Kapitel Ihres Buchs zitieren Sie aus einem 1891 erschienenen Inserat im Zürcher ‹Tagblatt›, das zur Gründung des «Vereins Züricher Wohnungsmiether» führen sollte. Darin steht, dass es «angesichts der fortwährenden Erhöhung der Miethzinse dem kleinen Manne immer schwieriger werde, eine seinen Einkünften und Bedürfnissen entsprechende Wohnung in Zürich zu finden.» Das tönt sehr vertraut: Ist die Arbeit des MV seit 1891 dieselbe?

Keineswegs. In der Anfangsphase standen für den MV Fragen der Wohnbaupolitik und vor allem der Wohnhygiene im Zentrum, etwa, wieviele Leute maximal in einer Wohnung leben sollten und was man machen könnte, um den MieterInnen zu mehr Licht und Luft zu verhelfen. Das war auch dringend nötig; oft hausten ganze Familien in einem einzigen winzigen Zimmerchen, und vor allem in den Arbeiterquartieren – das waren damals die Altstadt und Aussersihl – waren die sanitären Verhältnisse prekär. Das Mietrecht spielte praktisch keine Rolle. Im 1910 erstmals revidierten Obligationenrecht fehlen Sozialschutznormen, etwa zur Mietpreisgestaltung oder zum Kündigungsschutz, vollständig, und der MV erhob auch keine entsprechenden Forderungen. Stattdessen griff ab 1914 der bürgerliche Staat mit Notrecht ein.

 

Was aus heutiger Sicht doch eher erstaunt…

Die Bestimmungen zum Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen und überrissenen Mieten wurden vom damals rein bürgerlichen Bundesrat erlassen. Dagegen entwickelte der MV unter Paul Pflüger, dem «roten Pfarrer von Aussersihl», erste Konzepte für gemeinnützigen Wohnungsbau. Seine Thesen von 1906 sind noch heute unverändert aktuell. Ich kann mir da in meinem Buch einen kleinen Seitenhieb an Pflügers Urenkel Severin, seines Zeichens FDP-Gemeinderat und Präsident der FDP Stadt Zürich, nicht verkneifen. Paul Pflüger ergänzte seine Wohnbauthesen mit einer Liste städtischer Areale, die sich für gemeinnützigen Wohnungsbau eignen. Die Auflistung endet mit dem Hornbach-Areal: Den Bau einer städtischen Wohnsiedlung auf diesem Areal hat die FDP 2015 vehement, aber erfolglos bekämpft…

 

Die Frage, wer sich wann welchen wohnpolitischen Themen angenommen hat, beleuchten Sie in ihrem Buch von verschiedenen Seiten: Was hat Sie daran speziell interessiert?

Zuerst einmal bringt einen ganz banal die Chronologie darauf. So war etwa in der ersten, frühen Phase in der Stadt Zürich, konkret bis 1918, die Wohnpolitik dem Gesundheitsamt zugewiesen. Hauptthema waren die übermässige Wohndichte und die fehlenden Bäder und die Toi­letten, die sich oft mehrere Familien teilen mussten. Frühe Pioniere wie die Stadträte Benjamin Fritschi (Demokraten) und Friedrich Erismann (SP) legten den Fokus beim Bau der ersten städtischen Wohnsiedlungen, Limmat I und Riedtli, darauf, die Stadt als Player auf dem Wohnungsmarkt und als Alternative zu privaten VermieterInnen zu etablieren. Dabei ging es ihnen vor allem um die preisliche Konkurrenz. Dafür setzten sie durchaus auf den Markt – aber auf einen Markt mit anderen Akteuren.

 

Und danach war die Zeit des staatlichen Durchgreifens wohl langsam beendet?

Im Gegenteil: Von 1914 bis 1926 war das Obligationenrecht in den Kantonen, die gestützt auf Notverordnungen des Bundes spezielle Mieterschutzbestimmungen erliessen, praktisch ausser Kraft, so auch im Kanton Zürich. Von 1936 bis 1970 bestand – zunächst auf Basis des Notrechts, über das der Bundesrat in Kriegszeiten verfügte – sogar eine staatliche Mietzinskontrolle, später die Mietzinsüberwachung, in Verbindung mit einem griffigen Kündigungsschutz. Als das Notrecht 1952 auslief, forderten die grossen Wirtschaftsverbände zwar die Abschaffung der allgemeinen Preiskontrolle, widersetzten sich aber der Weiterführung von Preisschutzmassnahmen bei den Mieten nicht. Aus durchaus rationalen Gründen: Wenn die Mieten tief gehalten wurden, bestand keine Notwendigkeit, hohe Löhne zu zahlen. Hier spielten vor allem Interessen der Exportindustrie eine Rolle.

 

Wie ging es danach weiter?

Ab 1952 galten weiterhin zeitlich und örtlich beschränkte Mieterschutzbestimmungen, wobei der dafür erforderliche Verfassungszusatz alle vier Jahre erneuert werden musste. Ab 1970 trat im Prinzip wieder das Obligationenrecht inkraft, aber in den Gemeinden, die von 1972 bis 1990 dem Missbrauchsbeschluss des Bundes (BMM) unterstellt waren, galten zusätzliche Schutzbestimmungen zur Mietzinsgestaltung und zum Kündigungsschutz.

 

Dass diese ehemaligen Sonderbestimmungen ins ordentliche Recht aufgenommen wurden, ist also ein neueres Phänomen?

Ja, dieses Ziel wurde erst 1990 mit dem neuen Mietrecht im Grundsatz erreicht. Viele vorher nur bei Wohnungsmangel vorgesehenen Schutznormen fanden Eingang in das OR. So die Möglichkeit, missbräuchliche Kündigungen aufzuheben oder die Anfangsmieten anzufechten – alles Dinge, die der Hauseigentümerverband gern wieder herausoperieren möchte. Von einem Kündigungsschutz, wie ihn etwa Deutschland, aber auch andere europäische Länder kennen, sind wir hingegen weit entfernt. In Deutschland steht im Grundgesetz bekanntlich: «Eigentum verpflichtet», bei uns verkündet die Verfassung dagegen lapidar: «Das Eigentum ist gewährleistet.» Da liegen Welten dazwischen. Unsere umfassend geschützte Eigentumsfreiheit darf nur punktuell eingeschränkt werden. In Deutschland dagegen wird jemandem, der seit 30 Jahren in derselben Wohnung zur Miete wohnt, ein eigentumsähnliches Besitzrecht zugesprochen, und er geniesst damit einen starken Schutz.

 

Niklaus Scherr: Nur noch für die Miete schaffen…? 125 Jahre Zürcher Mieterbewegung (1891–2016). Herausgegeben vom Mieterinnen- und Mieterverband Zürich, 160 Seiten, 15 Franken.

Bestellungen: www.mieterverband.ch/mv-zh/125jahre.html oder über Telefon 044 296 90 20. www.mieterverband.ch/mv-zh

 

Vernissage

Die Vernissage von Niklaus Scherrs Buch «Nur noch für die Miete schaffen…? 125 Jahre Zürcher Mieterbewegung (1891–2016)» findet am Dienstag, 8. November um 19 Uhr im Kulturmarkt Zürich an der Aemtlerstrasse 23 statt. Türöffnung: 18.30 Uhr.
Für «Interventionen» sorgen Niklaus Scherr, Autor und ehemaliger Geschäftsleiter des MV Zürich,
Dr. Giacomo Roncoroni, ehemaliger Abteilungsleiter im Bundesamt für Justiz, Daniel Leupi, Finanzvorstand der Stadt Zürich, und Etrit Hasler, Slam-Poet. Anschliessend Apéro.

 

 

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