«Der Leu funktioniert nicht, wenn nur von Armut Betroffene mitmachen»

Alle zehn Tage können Menschen in Zürich 44 Franken beziehen. Ohne dafür zu arbeiten. Die lokale Kryptowährung Leu soll das Geldsystem revolutionieren. Gesa Feldhusen und Malik El Bay, die das Projekt leiten, erklären im Gespräch mit Lara Blatter, warum Zürich eine lokale Digitalwährung braucht.

Noch wenige Minuten bleiben, bis alle Anwesenden ihr Handy zücken, die App öffnen und die virtuelle Versammlung starten. Sechs Menschen haben sich an diesem Samstagmorgen im Januar vor dem Schiffbau eingefunden. Der Reihe nach scannen sie sich gegenseitig QR-Codes vom Bildschirm ab, versuchen dabei eine schlaue Reihenfolge zu finden, damit alles möglichst effizient über die Bühne geht. Die Gespräche sind lau. Man kennt sich nicht. Alle sind aus demselben Grund hier: Geld.

Alle zehn Tage finden zeitgleich solche Treffen im Kreis 5 statt – wer teilnimmt, erhält 44 Leu, was 44 Schweizer Franken entspricht. Seit Mai 2022 gibt es diese lokale Digitalwährung Leu, die vom Verein Encointer entwickelt und dann zusammen mit dem Think and Do Tank Dezentrum ins Leben gerufen wurde. Zürich soll quasi ein Vorzeigemodell für andere Städte werden, denn der Verein agiert international. Noch akzeptieren erst wenige Geschäfte den Leu. Zu den bekanntesten zählen das Café Sphères und das Lebensmittelgeschäft Berg und Tal. Gesa Feldhusen und Malik El Bay, die das Vorhaben leiten, wollen mit dieser Währung das Geldsystem umgestalten, regionale Produkte fördern und einen Schritt in Richtung Grundeinkommen wagen. 

Lara Blatter: Ich war kürzlich zum ersten Mal an einer Versammlung und es war mir unangenehm. Irgendwie fühlt es sich falsch an, gratis Geld zu bekommen. Nur wer arbeitet, hat es sich verdient. Zeigt dieses Gefühl, wie verworren unsere Beziehung zu Geld ist? 

Gesa Feldhusen: Ja, genau das ist unsere Challenge, die Menschen sollen ihre Beziehung zu Geld hinterfragen. Warum haben wir das Gefühl, wir müssen für Geld arbeiten? Der Leu ist ein zusätzliches Gemeinschaftseinkommen. Gemeinschaftlich, weil er alle zehn Tage von der Community geschöpft wird. Und das Einkommen steht allen Menschen zu, weil die empfangende Person Mensch ist. Wir wollen ein Geldsystem schaffen, das Chancengleichheit fördert.

Malik El Bay: Leu ist nicht Gratis-Geld. Man muss es sich an einer Versammlung abholen gehen. Wir treten dem gängigen Narrativ, dass Geld durch Arbeit geschaffen wird, entgegen. Wenn ich arbeite, dann mache ich Geld – das ist ein Denkfehler. Ich bekomme vielleicht welches dafür. Aber Geld wird eigentlich aus dem Nichts und einfach so geschöpft. So funktioniert der Leu, der Schweizer Franken und andere Währungen. 

Wieso kann man Währungen einfach aus dem Nichts schöpfen und alle zehn Tage Menschen erneut Geld schicken?

G. F.: Jede Währung funktioniert dann, wenn Menschen daran glauben und ihr einen Wert zugestehen. Wir haben mittlerweile eine Community, die sich alle zehn Tage trifft. Ihr Glaube an den Leu als lokale Währung fördert seine Akzeptanz.

M. E. B.: Und wir schütten ja nicht nur Geld aus. Sonst würden wir einfach Inflation betreiben. Die Leu, die nicht ausgegeben werden, verlieren konstant an Wert. Dieser Wertverlust finanziert dann wiederum das nächste Gemeinschaftseinkommen. Ein natürlicher Umverteilungsmechanismus.

Glauben in Zürich genügend Menschen an Leu?

G. F.: Es besteht zumindest genügend Neugierde, es auszuprobieren. Die Menschen, die mitmachen, merken, dass es funktioniert. Sie können mit Leu in ausgewählten Geschäften einkaufen.

M. E. B.: Wir bewegen uns in die richtige Richtung. Die Community ist im Aufbau und entwickelt sich gut. Wie jedes junge Vorhaben möchten wir langfristig mehr Menschen anziehen und die Community wachsen sehen.

Sie scheinen zurückhaltend. Laut der Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth braucht es 3,5 Prozent der Bevölkerung für eine Revolution. Das wären in der Stadt Zürich gegen 15 000 Menschen. Wie viele Menschen zählt die Leu-Community?

G. F.: Wir haben über 1000 registrierte Konten. Längst sind aber nicht alle aktiv. Bei den Versammlungen nehmen aktuell zwischen 60 und 80 Teilnehmer:innen teil. Heisst, wir schütten alle zehn Tage zwischen 2000 und 3000 Leu aus. 

M. E. B.: Die Anzahl Menschen ist aber nicht der einzige Faktor. Wichtiger ist, wie engagiert die Menschen sind. Sie müssen begreifen: Das ist meine Währung,a sehen wir vielversprechende Signale.

Was heisst, «das ist meine Währung»?

G. F.: Wer mitmacht, hält die Währung und den Kreislauf am Leben. Längerfristig wollen wir einen demokratischen Abstimmungsprozess in der App einbauen. Zudem gibt es auch ein Forum, wo die Community mitdiskutieren kann, wie sie die Entwicklungen sieht.

M. E. B.: Dass wir zum Beispiel 44 Leu ausschütten, ist nicht in Stein gemeisselt. Das ist ein Diskurs, den die Community leitet. Wir alle haben das Gemeinschaftseinkommen in der Hand. Vielleicht sind wir eines Tages am Punkt, wo wir 200 Leu pro Versammlung schöpfen oder noch näher an ein Grundeinkommen herankommen. 

G. F.: Um mehr Leu auszuzahlen, brauchen wir den demokratischen Abstimmungsprozess. Denn es muss der Wunsch der Community sein, die bis dahin sicher auch noch etwas wachsen wird.

Hinter dem Leu steckt die Idee eines Grundeinkommens. Aber der Franken ist eine stabile Währung und Zürich eine reiche Stadt. Wieso brauchen wir eine neue, lokale Währung?

G. F.: Das globale Geldsystem läuft über diverse Banken und ist für viele Menschen nicht greifbar. Der lokale Faktor des Leu ist darum essenziell. Mit dem Leu unterstützen wir Zürcher KMU, kurbeln die lokale Wirtschaft an, indem wir lokal und saisonal einkaufen.

M. E. B.: Hinter dem Leu steckt der Verein Encointer. Und da verfolgen wir eine globale Vision. Weltweit haben, laut der Global Findex Datenbank, über eine Milliarde Menschen keinen Zugang zum Finanzsystem. Sei es, weil sie keinen oder den falschen Pass oder kein Geld haben. Diese Probleme wollen wir angehen. Und klar, diese Gruppe Menschen ist in Zürich nicht so stark ausgeprägt. Hier können wir aber aufzeigen, dass das System funktioniert und gesellschaftliche Mehrwerte schaffen. Wir haben vielleicht nicht zu wenig Geld und der Franken ist stabil, aber trotzdem gibt es in Zürich Personen, bei denen 132 Leu im Monat einen echten Unterschied machen.

Sehr plakativ und oberflächlich: Mein Eindruck vom ersten Treffen war nicht, dass vor allem Sans-Papiers und Menschen ohne Bankkonto da waren. Worin besteht der soziale Mehrwert?

M. E. B.: Der Leu funktioniert nicht, wenn nur von Armut Betroffene oder Geflüchtete mitmachen – er ist eine Währung für alle. Die Diversität ist wichtig. Nur so können auch die Schwächeren mitgetragen werden und der Leu bleibt zugänglich. Mit diesem Wissen kann ich mit gutem Gewissen behaupten, dass der Kafi, der mit Leu bezahlt wurde, besser schmeckt als jener, der mit Franken bezahlt wurde. 

G. F.: Der Leu kann ein Umdenken fördern und neues, zusätzliches Einkommen garantieren. In Zürich wird nicht gern über Geld gesprochen. Wir dürfen aber nicht davon ausgehen, dass es in Zürich keine Armut gibt, nur weil wir sie im Alltag nicht sofort sehen. Für manche Menschen macht es einen Unterschied, ob sie alle zehn Tage 44 Franken bekommen. Und auch Menschen, die genug Geld haben, sollen teilnehmen. Je mehr teilnehmen, desto mehr Geld wird geschöpft und so kann das Projekt langfristig getragen werden. Es geht nicht darum, reich zu werden, sondern ums Mitmachen und dass der Leu im Umlauf bleibt.

Einkaufen im Berg und Tal, Yoga machen oder einen Kaffee im Kafi Hardi oder im Sphères trinken – die Möglichkeiten, die der Leu bietet, sind derzeit noch sehr beschränkt. Am Treffen äusserte ein Teilnehmer seine Bedenken, dass das Netz zu klein sei und die Geschäfte nicht wissen, wohin mit den Leuen. Was können Lokale mit der lokalen Währung machen? 

M. E. B.: Als Unternehmen gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann die Lieferanten in Leu bezahlen, oder man reicht ihn als Bonus oder zusätzlichen Lohnbestandteil an die Mitarbeiter:innen weiter. Der Leu ist nicht zum Sparen gedacht. Es soll ein Kreislauf entstehen.

Heisst, es braucht eigentlich mehr Geschäfte, Lokale und Lieferanten, die den Leu akzeptieren, damit dieser Kreislauf funktioniert. 

G. F.: Den Leu gibt es noch nicht mal ein Jahr, vieles ist noch im Aufbau. Wir  sind offen für mehr Akzeptanzstellen, damit er attraktiver für weitere Unternehmen und ihre Mitarbeiter:innen wird. Im letzten Monat sind wieder einige Geschäfte zum Ökosystem dazugestossen. Zudem haben wir mittlerweile auch mehrere potenzielle Lieferanten. Da ist jedoch definitiv noch Luft nach oben. 

Der Leu ist eine Kryptowährung. Also ein digitales Zahlungsmittel auf der Grundlage eines Blockchain-Systems. Das Vertrauen in Krypto ist derzeit nicht gerade auf dem Höhepunkt – inwiefern tangiert das den Leu?

M. E. B.: Der Leu hat – bis auf die Blockchain-Technologie – nichts mit anderen Kryptowährungen zu tun. Die Konzepte sind anders. Den Gründern von Encointer war klar: Kryptowährungen haben ein wahnsinniges Potenzial. Sie funktionieren oftmals dank einem grossen Gefälle und der Gier des Markts: Wer früh dabei ist und mehr hat, der:die profitiert am meisten. Beim Leu ist das nicht so. Er ist ein gemeinschaftliches Projekt. Alle, die Teil davon sind, bekommen gleich viel. Und wer mehr anhäuft, hat zwar mehr im Sinne einer Zahl, aber der:die verliert auch mehr an Wert und hat nicht mehr Macht darüber, wohin es mit der Währung geht. 

Sie bevorzugen den Begriff «lokale Digitalwährung» statt «lokale Kryptowährung», auch wenn die Technologie dahinter dieselbe ist. Entgehen Sie damit dem schlechten Ruf, den Krypto innehat?

M. E. B.: Es ist frustrierend, wenn Menschen unwissend den Leu schubladisieren. «Aha, Blockchain und Bitcoin. Das ist unsozial und schlecht für die Umwelt», heisst es dann. Eine fundierte Auseinandersetzung mit der Technologie und deren Potenzial, aber auch Gefahren wird häufig ausgelassen. Die Encointer Blockchain, also das digitale System hinter Leu, braucht ähnlich viel Strom wie beispielsweise ein Mailserver. Das ist im Vergleich zu anderen Kryptowährungen wenig. Um diesem Vorurteil zu entgehen, bevorzugen wir den Begriff Digitalwährung.  

Wollen Sie eines Tages mit dem Leu den Franken in Zürich abschaffen oder konkurrieren?

G. F.: Den Franken können und wollen wir mit dem Leu nicht ablösen. Leu soll lediglich ergänzen. Geht es um Geld, dann ist es für Menschen wichtig, dass sie Sicherheit haben. Der Leu als Währung ist eine tolle Ergänzung, hat jedoch auch seine Limiten.

M. E. B.: Genau, nationale Währungen sind wichtig. Wir brauchen beispielsweise eine Altersvorsorge und Erspartes, mit dem wir in die Ferien reisen oder uns grössere Dinge wie ein Auto anschaffen können. Aber global gesehen gibt es krasse Unterschiede, wer Geld hat und wer nicht. Das sorgt für soziale Spannungen. 

G. F.: Und hier wollen wir einfach ansetzen und versuchen, die strukturellen Probleme, die Geld mit sich bringt, lokal auszuhebeln.

Interessant war, dass am Treffen zwei Teilnehmer:innen ihre Konten verglichen. Der eine hatte über 300 Leu, die andere knapp 10. Meine Annahme: Die ‹echten› Konten würden sich Fremde wohl kaum zeigen. Warum ist es beim Leu möglich?

M. E. B.: Da kann ich nur spekulieren. In der Schweiz wird nicht über Geld gesprochen – man hat es. Wenn man zu wenig hat, dann ist es unangenehm, und hast du viel Geld, willst du, dass das die Leute nicht wissen. Darum die Frage zurück: Haben Sie sich mit null Leu schlecht gefühlt?

Nein. Aber weil ich weiss, dass der Leu mir nicht die Sicherheit geben muss, dass ich Ende Monat meine Miete zahlen kann. Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass der Leu sich jetzt noch etwas wie Spielgeld anfühlt?

M. E. B.: Vielleicht. Aber das Wort Spielgeld ist nicht passend. Komplementärwährung trifft es besser. 

Mit der Digitalwährung wollten Sie ein Geldsystem, das Chancengleichheit fördert, schaffen und die lokale Wirtschaft unterstützen – hat das geklappt?

M. E. B.: Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber wir müssen schauen, dass alle Anschluss finden. Zum Beispiel ältere Menschen. Diese gilt es an die Technologie heranzuführen und in die Prozesse einzubinden.

G. F.: Oder auch, dass unsere Treffen um jeweils 11.50 Uhr stattfinden: Das schliesst automatisch Menschen aus. Wäre es besser um 19 Uhr? Aber auch dann grenzen wir wieder Menschen aus. Darum haben wir den Intervall von zehn Tagen, so wechselt zumindest der Wochentag. Aber uns ist bewusst: Das perfekte System gibt es nicht.

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.