«Der Geheimdienst braucht eine Good Governance»

Die unterdessen aufgelöste Zuger Firma Crypto AG gehörte dem amerikanischen und deutschen Geheimdienst und lieferte manipulierte Chiffriergeräte in alle Welt, wie im Februar – erneut – bekannt wurde. Die Geschäftsprüfungsdelegation des eidgenössischen Parlaments legte letzte Woche einen Untersuchungsbericht dazu vor. Warum Grüne und SP dennoch weiterhin eine Parlamentarische Untersuchungskommission fordern, erklärt Nationalrat Balthasar Glättli (Grüne) im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Laut einem ausführlichen Artikel in der ‹Washington Post› vom 11. Februar 2020 zeigen ihr zugespielte Dokumente von CIA und BND auf, dass die Schweizer Behörden «seit Jahrzehnten» von den Verbindungen der Crypto AG zu den amerikanischen und deutschen Geheimdiensten gewusst haben mussten. Im Bericht der Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) vermisst man solch klare Ansagen: Was weiss man in Bern, was wissen Sie über die Crypto-Affäre?

Balthasar Glättli: Ich lese auch Zeitung… (lacht). Und ja, auch ich hatte erwartet, mit der Lektüre dieses Berichts noch mehr Informationen zu bekommen. Dass die GPDel ihr Hauptaugenmerk auf die letzten 30 Jahre legt, verstehe ich und finde ich richtig. Sie widerlegt klar Stimmen aus FDP und GLP, die im Februar monierten, es handle sich um eine Geschichte aus dem Kalten Krieg, sprich, damit müsste sich eine Historikerkommission befassen und nicht die Politik. Ich hätte vom Bericht aber klarere Empfehlungen erwartet, einerseits auch die Vergangenheit aufzuklären, und andererseits auch zur Führung des Nachrichtendienstes. Dass das nur Erfolg haben kann, wenn die Politik will, dass die Affäre ernsthaft untersucht wird, versteht sich dabei von selbst.

 

Das scheint in der Vergangenheit nicht der Fall gewesen zu sein: Laut dem Bericht der GPDel fand der Strategische Nachrichtendienst «ab Herbst 1993» heraus, dass die Crypto AG «im Besitze ausländischer Nachrichtendienste» war und «schwache» Geräte exportierte – und er arbeitete fortan mit den Amerikanern zusammen, ohne dass die jeweils zuständigen BundesrätInnen etwas davon erfuhren: Wie ist das möglich? Zumindest theoretisch gibt es doch in einer Demokratie Kontrollmechanismen, die allfällige Selbstläufer im Geheimdienst aufdecken müssten?

Kontrollmechanismen gibt es auf drei Ebenen: Erstens ist es die Aufgabe des Parlaments, die Aufsicht über den Bundesrat und die Verwaltung auszuüben. Zweitens hatte der Bundesrat die Kontrolle über den Strategischen Nachrichtendienst, den damaligen Auslandsgeheimdienst, und er hat sie heute über den Nachrichtendienst des Bundes (NDB), zu dem der Inland- und der Auslandsgeheimdienst fusioniert wurden. Und drittens gab bzw. gibt es natürlich auch innerhalb des Nachrichtendienstes eine Führung. 1993 hat es offensichtlich auf jeder dieser Ebenen an der nötigen Aufsicht und Kontrolle gemangelt.

 

Was genau ging schief?

Die GPDel war damals neu, sie war erst im Nachgang der Fichenaffäre geschaffen worden; vor den 1990er-Jahren fehlte eine parlamentarische Aufsicht. In der Verantwortung standen somit der Bundesrat und der Strategische Nachrichtendienst, und sie hatten grosse Probleme damit, eine «gute Verwaltungsführung» zu gewährleisten. Es war aber nicht etwa so, dass sie an dieser Aufgabe gescheitert wären, was ja durchaus vorkommen kann. Vielmehr hat man offensichtlich bewusst weggeschaut.

 

Und heute? Laut dem GPDel-Bericht hat sich zum Beispiel der ehemalige Nachrichtendienstchef Markus Seiler, heute Generalsekretär im Aussendepartement von Bundesrat Ignazio Cassis, geweigert, eine schriftliche Notiz darüber entgegenzunehmen, dass der NDB die manipulierten Geräte für eigene Zwecke nutzen konnte. Er soll auch seinen Nachfolger Jean-Philippe Gaudin nicht informiert haben.

Ab dem Moment, als die Schweiz die Geräte voll nutzen konnte, war sie imstande, selbst direkt Erkenntnisse zu gewinnen. Im Sommer wurde die Information, dass man von einem solchen Arrangement auch selber profitierte, aus dem NDB wohl gezielt JournalistInnen gesteckt. Die Absicht dahinter war klar: Man wollte die Geschichte des NDB neu schreiben, à la «der Zweck heiligt die Mittel». Das aber ist grundsätzlich falsch: Es gab immer eine Führungsverantwortung der Direktion, die diese jedoch nicht wahrgenommen hat. Und für eine solche Zusammenarbeit muss auch der Bundesrat gemäss Gesetz das O.K. geben. Dazu äussert sich der GPDel-Bericht viel zu schwammig. Und weshalb hat das, was in diesem Bericht steht, keine personellen Konsequenzen für Markus Seiler? Entweder war Seiler unfähig als Chef des NDB und hatte den Laden überhaupt nicht im Griff, oder er hat, wie die GPDel annimmt, bedeutendes Wissen auch dem Bundesrat und seinem Nachfolger vorenthalten. Dass er damit einfach davonkommen soll, geht nicht. Dass sich hier die GPDel hinter der Personalzuständigkeit des Bundesrats versteckt und keine klaren Forderungen stellt, erstaunt mich noch aus einem anderen Grund sehr.

 

Der da wäre?

Die GPDel sagt in anderen Bereichen ja durchaus, welche Schlüsse sie zieht und wo sie den Bundesrat in der Pflicht sieht: Sie schreibt zum Beispiel, der Bundesrat müsste die Ermächtigung zurückziehen, die er abgegeben hat, um eine Strafverfolgung der Crypto International AG, einer Nachfolgefirma der Crypto AG, zu ermöglichen. Hier gibt sie den Tarif durch, indem sie dem Bundesrat erklärt, was er zu tun hätte. Bei Seilers Rolle jedoch bleibt sie wolkig. Das ist nicht konsistent.

 

Einigermassen seltsam mutet im GPDel-Bericht die Beschreibung des gescheiterten Versuchs an, von Alt-FDP-Nationalrat Georg Stucky, der ab 1992 Verwaltungsrat der Crypto AG war, zu erfahren, wem die Firma wirklich gehörte. Dass es Alt-Bundesrat Kaspar Villiger (FDP) und Parteikollege Stucky innert eines guten Jahres nicht geschafft haben sollen, diese einfache Frage zu erörtern, tönt ebenso unglaubwürdig wie das, was Stucky der GPDel im Mai 2020 ausrichten liess: Er habe nicht gewusst, dass er für eine Firma im Besitz der amerikanischen Geheimdienste tätig gewesen sei.

Hier hat die GPDel nicht tief genug gegraben: Der Minerva-Bericht* zeigt auf, dass Villiger gewusst haben muss, dass die Crypto AG etwas mit Spionage zu tun hatte. Gegenüber der GPDel hat er das verneint. Dieser Widerspruch ist im GPDel-Bericht zu wenig herausgearbeitet – zumal Villigers Stellungnahme vom Februar bei Weitem nicht so eindeutig ausfiel, wie sie zum Beispiel der ‹Tages-Anzeiger› wiedergegeben hat. Auf ‹infosperber.ch› wurde die Stellungnahme sprachlich analysiert und schön aufgezeigt, wie viel sie in Tat und Wahrheit offenlässt: Je nachdem, was möglicherweise in Zukunft noch ans Licht kommt, dürfte Villiger damit stets auf der sicheren Seite sein.

 

Sie denken, dass Kaspar Villiger es gewusst hat?

Das vermute ich. Ich finde es schwierig, dass als Argument dafür, dass man das so nicht sagen könne, stets angeführt wird, es gebe in der Schweiz kein Dokument, das dies belege. Das mag stimmen, doch es gibt den Minerva-Bericht. Natürlich ist dieser geprägt von Männern, die dabei waren, natürlich sind es ihre Memoiren, die sie präsentieren, und natürlich zeigen sie sich darin als die ‹Helden›, die sie in ihren Augen waren. Aber das heisst noch lange nicht, dass alles unglaubwürdig ist, was in diesem Bericht steht, und deshalb sollten wir dieses Dokument ernst nehmen und nicht so schnell aufgeben, wie die GPDel es getan hat.

 

Nichtwissen-Wollen kann auch gefährlich werden: Der frühere Crypto-Verkäufer Hans Bühler, der offensichtlich nicht wusste, dass er mit manipulierten Geräten unterwegs war, sass monatelang in Iran, wo er der Spionage beschuldigt wurde, im Gefängnis und wurde nach seiner Rückkehr von der Crypto AG entlassen. War dafür wirklich niemand in der politischen Führung mitverantwortlich?

Innerhalb der Crypto AG wussten offenbar nur sehr wenige MitarbeiterInnen von den manipulierten Geräten. Sie wären in erster Linie dafür verantwortlich gewesen, Schaden von ihren nicht-eingeweihten KollegInnen abzuwenden. Ob der Verwaltungsrat seine Sorgfaltspflicht gegenüber den Angestellten verletzt hat, kann ich als Nicht-Jurist nicht abschliessend beurteilen. Davon wissen müssen hätte er meiner Meinung nach aber schon, gerade auch, um eingreifen zu können, falls etwas entgleist, wie es bei Bühler der Fall war. Hierzu äussert sich die GPDel nicht weiter. Wer war politisch verantwortlich? Falls der Strategische Nachrichtendienst tatsächlich handelte, ohne dass der Bundesrat sein Okay gegeben hatte, dann müssten auch andere Akteure ins Schussfeld geraten als Villiger und Stucky.

 

Der GPDel-Bericht ist schlecht, und deshalb fordern Sie eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK)?

Nein, die Arbeit der GPDel ist nicht schlecht, und ihr Bericht ist wertvoll! Er stellt vieles zusammen, was man bisher nicht in dieser Präzision nachlesen konnte, und es handelt sich auch nicht um ein Gefälligkeitsgutachten. Die Delegation musste zudem wegen der Corona-Pandemie mit schwierigen Rahmenbedingungen zurechtkommen und konnte beispielsweise lange keine Befragungen durchführen. Was ich kritisiere, sind Lücken, die der Bericht aufweist.

 

Zum Beispiel?

Die GPDel hat Bundesrat Adolf Ogi, VBS-Vorsteher von 1995 bis 2000, nicht einmal befragt! GPDel-Präsident Alfred Heer erklärte dazu, Ogi würde sowieso nur sagen, er wisse nichts… Das mag sogar stimmen, doch man hätte ihn sicher befragen und im Bericht zitieren müssen. Auch mir ist bekannt, dass der ehemalige Chef des Strategischen Nachrichtendienstes Peter Regli und Ogi nicht die besten Freunde waren. Aber es könnte ja sein, dass Ogi Verdacht schöpfte, gerade weil er Regli misstraute. Dass der Bundesrat es schaffte, einerseits Regli abzusetzen – und ihn andererseits ins Archiv zu stecken, wo er in der Folge ungestört die Spuren, die er ansonsten hinterlassen hätte, schreddern konnte… wie Ogi das zulassen konnte, hätte ich gern erfahren. Auch Mitarbeitende der zivilen Nachfolgefirma der Crypto AG wurden nicht befragt, den ganzen Fragekomplex rund um die Vermutung, dass durch den Nachrichtendienst Wirtschaftsspionage durch Dritte auch zum Schaden von Schweizer Firmen zugelassen wurde, liess die GPDel ebenfalls ausser Acht. Zudem wird ausgeblendet, was vor den 1990er-Jahren passiert ist.

 

Was vermissen Sie sonst noch an Informationen?

Ich hätte substanzielle Forderungen dazu erwartet, wie man den Geheimdienst rasch an das heranführt, was er eigentlich sein müsste: eine Verwaltungsabteilung mit nachvollziehbarer Arbeit und, selbstverständlich ihrem inhaltlichen Auftrag angepasster, Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit. Es sollte sich um eine Organisation handeln, die eine Führung hat und dieser rapportiert. Ich habe kein Problem damit, wenn nicht alle Abteilungen wissen, was die anderen Abteilungen genau machen – aber die Chefs, die politischen Vorgesetzten und als Aufsicht die GPDel müssen wissen, was Sache ist. Gerade heutzutage, wo der NDB weit umfassender Überwachungskompetenzen hat, auch gegenüber Schweizer BürgerInnen, Kabelüberwachung beispielsweise oder verdeckte Operationen in Privatbereichen, müssten wir hier rasch aufräumen.

 

Die GPDel gibt zum Schluss des Berichts immerhin schon einige Empfehlungen ab…

Ja, und das finde ich auch gut: Sie hält zum Beispiel fest, wie wichtig es ist, Archive korrekt zu führen. Sie fordert, dass wieder alles archiviert wird, was per Gesetz archiviert werden muss, anstatt dass gewisse Dokumente einfach weggeworfen werden, die man dann zum Beispiel beim Erstellen eines GPDel-Berichts schmerzlich vermisst. Wir Grünen fordern auch, dass man den Bericht von Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer, auf den sich der GPDel-Bericht stützt, nicht einfach versteckt, sondern allenfalls mit geschwärzten Passagen veröffentlicht. Stattdessen wurde er nicht einmal den ‹normalen› Mitgliedern der beiden Geschäftsprüfungskommissionen zur Einsicht vor Ort überlassen!

 

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich eine PUK eingesetzt wird?

Die ist leider sehr klein: Sowohl wir Grünen als auch die SP haben im Parlament entsprechende Vorstösse eingereicht, doch wir haben bekanntlich keine Mehrheit. Wenn nicht noch etwas passiert, beispielsweise neue Enthüllungen ans Licht kommen, bevor die Vorstösse im Rat behandelt werden, war es das wohl.

 

* «Der MINERVA-Bericht wurde von den amerikanischen Diensten nach dem Jahr 2000 unter Einbezug von Vertretern des deutschen Nachrichtendienstes erarbeitet. Um das Jahr 2005 herum erhielt die deutsche Seite offenbar eine Kopie des Berichts und erstellte später ergänzende Beurteilungen dazu. Diese Version des amerikanischen Berichts gelangte zusammen mit den deutschen Papieren in den Besitz der Medien, welche ab der zweiten Woche des Monats Februar 2020 über einzelne, ausgewählte Passagen aus dem Papier berichteten. Den knapp hundertseitigen MINERVA-Bericht selbst machten die Medien jedoch der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich. Die GPDel hat den MINERVA-Bericht vom NDB erhalten und analysiert.» Quelle: GPDel-Bericht

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