Der erste Grünliberale zuoberst auf dem ‹Bock›

 

Am Mittwochabend wählte der Zürcher Gemeinderat Matthias Wiesmann zum Präsidenten für die Amtszeit 2015/16. Was sich der erste Grünliberale auf diesem Posten für sein Amtsjahr vorgenommen hat, erklärt Matthias Wiesmann im Gespräch mit P.S..

 

Sie sind Wirtschaftshistoriker und haben unter anderem das Buch mit dem schönen Titel «Bier und wir» verfasst. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Matthias Wiesmann: Ich habe bereits meine Lizentiatsarbeit über die Brauerei Hürlimann geschrieben. Hauptgrund für die Themenwahl war die Tatsache, dass es über diese Branche noch keine wissenschaftliche Literatur gab. Der nächste Schritt lag dann nahe: In «Bier und wir» liefere ich einen Überblick über die Geschichte der Bierbrauereien in der Schweiz.

 

Aus rein wissenschaftlichem Interesse? Das Buch ist reich bebildert und so geschrieben, dass auch eher allgemein am Thema Bier interessierte LeserInnen Freude daran haben…

Das war mein Antrieb: Ich wollte Wissen vermitteln, aber gleichzeitig auch die LeserInnen fürs Thema begeistern. Staubtrockene geschichtliche Werke, wie man sie aus früheren Zeiten kennt, sind heute nicht mehr gefragt. Ich wollte eine gute Mischung finden zwischen den wunderbaren Bildern, die das Buch illustrieren, und dem Inhalt.

Letzterer besteht aus viel Wissen in verdichteter Form, das ich in gut lesbarer Sprache festzuhalten versuchte. Einfach nur süffig zu schreiben, ist allerdings nicht mein Bier: Die Fakten müssen stimmen, und zwar bis ins Detail. Die Balance zu finden zwischen Detailtreue und ansprechender Sprache ist stets von neuem eine Herausforderung, und das macht die Arbeit spannend.

 

WissenschaftlerInnen bleiben doch sonst lieber unter sich – auch sprachlich.

Mir war es schon an der Uni wichtig, nicht nur für den Professor zu schreiben. Nach der Uni arbeitete ich im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel, dem auch die wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek der Uni Basel angegliedert ist.

Die Abteilung, in der ich arbeitete, hätte ich nach ein paar Jahren übernehmen können, doch mir war damals schon klar, dass ich eher der Vermittler als der Sammler bin. Also hörte ich dort auf, schrieb das Buch übers Bier und kam danach über ein weiteres Buchprojekt an meine jetzige 50-Prozent-Stelle in einer Kommunikationsagentur in Zug.

 

Womit Sie wohl nicht mehr dazu kommen, Bücher zu schreiben?

Ich bin verantwortlich für die Beilage «Aus- & Weiterbildung», für die unsere Agentur im Auftrag des ‹Tages-Anzeigers› die Redaktion besorgt – eine spannende Aufgabe, in der es ebenfalls um Balance geht: Hier die objektive Information über Angebote im Bereich Aus- und Weiterbildung, dort die AnbieterInnen, die sich in der Beilage möglichst gut präsentieren möchten. Neben dieser Hauptaufgabe habe ich das Glück, einen Teil der Zeit zum Schreiben brauchen zu dürfen. Mein aktuelles Buchprojekt über die Chemische Fabrik Uetikon erscheint 2018 zu deren 200-Jahre-Jubiläum.

 

Wem Ihr Bier-Buch noch nicht bekannt ist, der oder die kennt möglicherweise die CD des Schaffhauser Liedermachers Dieter Wiesmann, die den Titel «Matthias» trägt: Damit sind doch Sie gemeint?

Ja, Dieter Wiesmann ist mein Götti, und er hat die CD eingespielt, als ich etwa zwei Jahre alt war. Ein solches Geschenk ist natürlich einmalig, zumal alle aus meiner Generation diese CD kennen. Vor allem aber sind die Geschichten relativ zeitlos, weshalb sie mich bis heute faszinieren. Apropos Geschichten: Als ich in Basel arbeitete, spielte ich in einem Laientheater mit, und das würde ich gern wieder mal machen; doch es ist ein zeitintensives Hobby, weshalb es momentan nicht drinliegt.

 

Sie haben zum Glück noch die Bühne der Politik.

Genau, und dort bin ich in nächster Zeit immerhin als Regisseur tätig…

 

Als solcher geben Sie im Gemeinderat auch die Einsätze, beispielsweise bei mehrstufigen Abstimmungsverfahren: Wunschjob oder Albtraum?

Als mir die bisherige Ratspräsidentin Dorothea Frei einmal das Feld zum Üben überlassen hat, ist alles gut gegangen. Unklarheiten kann es natürlich immer geben, doch man ist ja zum Glück nicht allein. Erstens bereiten die Parlamentsdienste die Sitzungen stets sehr gut vor, und zweitens kann ich deren Leiter auch bei laufender Sitzung noch etwas fragen oder mich kurz mit den FraktionspräsidentInnen beraten, wie Dorothea Frei es einmal während der Budgetdebatte machte. Oder ich kann auch nach bestem Wissen und Gewissen eine Entscheidung treffen – denn sollte jemand damit gar nicht einverstanden sein, kann er oder sie immer noch an den Bezirksrat gelangen.

 

Das würde wohl ziemlich Aufsehen erregen.

Es gäbe eine gewisse Aufregung, das ist klar, aber die unklare prozedurale Frage wäre damit geklärt. Ich habe aber während den zwei Jahren als 2. beziehungsweise 1. Vizepräsident auch gelernt, dass man sich auf die Ratssitzungen stets sehr gut vorbereiten und insbesondere die einzelnen Geschäfte mit allen möglichen Abstimmungsvarianten durchdenken muss, um auf der sicheren Seite zu sein.

 

Sie sind so gut vorbereitet, dass es Ihnen gleich noch gelingt, den Lärmpegel im Ratssaal zu senken und dafür zu sorgen, dass sich künftig selbst die notorischsten Dreinschwatzer im Griff haben?

Mit dem Wunsch, die Disziplin im Rat zu erhöhen, ist in den letzten Jahren jede Präsidentin und jeder Präsident angetreten, aber viel erreicht hat trotzdem keineR. Auch ich werde die RednerInnenliste schliessen, wie es Albert Leiser angefangen und zuletzt Dorothea Frei fortgeführt hat, aber ich mache mir keine Illusionen: Im Ratssaal sitzen keine Schulkinder, sondern Erwachsene, und ich kann niemanden zum Schweigen und Zuhören zwingen oder vor die Türe stellen.

 

Was ist mit unflätigen Äusserungen oder Provokationen?

Sollte sich jemand wirklich daneben benehmen, würde ich ein Einzelgespräch führen. Aber selbst wenn es um Aussagen geht, die sich unter der Gürtellinie bewegen, hat man immer noch einen Ermessensspielraum; klemmt man den einen ab, dann provoziert man nur noch mehr Diskussionen, sobald man dem nächsten etwas Vergleichbares durchgehen lässt. Ich habe keine Lust, Polizist zu spielen oder eine Liste verbotener Ausdrücke anzulegen. Der Gemeinderat ist nun mal eher der Dorfplatz, während der Umgang im Kantonsrat steifer ist. Das hat sich über viele Jahre so eingeschliffen. Diesen Kahn auf die Schnelle zu wenden, schafft einer allein kaum.

 

Sie sind der erste Vertreter der Grünliberalen, der den Zürcher Gemeinderat präsidiert. Wie hart war die interne Konkurrenz?

Die war inexistent (lacht). Im Ernst: 2010, als wir Grünliberale im Gemeinderat Einzug hielten, hatten wir alle keine Ahnung davon, wie der Ratsbetrieb läuft. Zum Glück hatte es ein paar, die uns halfen, zum Beispiel Markus Knauss von den Grünen. Doch unser Hauptproblem war, dass wir noch kein einziges Geschäft auf der damals gut gefüllten Traktandenliste kannten, womit wir uns als Fraktion zu jedem Punkt erst eine eigene Meinung bilden mussten.

 

Und Sie waren derjenige, der am schnellsten drauskam?

Ich übernahm die Aufgabe, die Tagliste in den Griff zu bekommen. Ich musste erst mal herausfinden, was die Kürzel wie E, A oder ** bedeuten, und dann nachlesen, worum es bei den einzelnen Geschäften inhaltlich geht. Da die Sitzungen damals oft bis gegen 23 Uhr dauerten, war diese zusätzliche Aufgabe ein recht anstrengender Job. Mein neu erworbenes Wissen schrieb ich sodann nieder und verteilte den so entstandenen «Kleinen Führer durch den Dschungel der Tagliste» an meine FraktionskollegInnen. Im Zuge dieser Arbeit lernte ich quasi nebenbei erstens, wie der Gemeinderat funktioniert, und zweitens wurde mir bewusst, dass ich eher der Beobachtertyp bin als einer jener Politiker, die hinter jeder Ecke einen Vorstoss wittern. Als dann die Anfrage fürs Präsidium kam, war es fraktionsintern klar, dass ich das übernehmen würde.

 

Auch wenn Sie nicht überall Vorstösse wittern: Hat es Sie nie gestört, dass man sich als Vize und als Präsident politisch nicht äussern kann?

Doch, und zu Beginn meiner Zeit auf dem ‹Bock› musste ich auch lernen, meine Mimik nicht entgleisen zu lassen, wenn mir etwas ganz schräg reinkommt… Ich freue mich darauf, in einem Jahr wieder mitreden zu dürfen, wenn mir etwas am Herzen liegt, denn manchmal sitze ich schon wie auf Nadeln.

 

Sie sehen demnach das Präsidiumsjahr nicht als krönenden Abschluss Ihrer Zeit im Rat?

Nein, ich kehre sicher noch für mindestens ein Jahr zurück in die Fraktion; wie es danach weiter geht, habe ich noch nicht entschieden. Jetzt geniesse ich erst mal das Präsidiumsjahr.

 

Mit welchen Gefühlen blicken Sie den vielen Anlässen entgegen, an denen Sie den Rat repräsentieren werden?

Ich freue mich darauf. Den Rat zu repräsentieren, gehört zu den interessanten Aspekten des Präsidentenamts: Zürich ist eine tolle Stadt, und es ist eine schöne Aufgabe, die Politik der Stadt repräsentieren zu dürfen. Zudem kommt man dabei an Anlässe, die man sonst kaum besuchen würde, und erhält Einblick in einem unbekannte Szenen. Dort kann ich dann erst noch ‹Werbung› machen für den Gemeinderat – oder zumindest versuchen, die Begeisterung für die Politik und den Gemeinderat zu wecken und zu erklären, wie sie funktionieren.

 

Das ist sicher die bessere Idee, als die Leute auf die Tribüne einzuladen…

Wer zum ersten Mal auf der Tribüne im Rathaus sitzt, kann kaum einen anderen ersten Eindruck mitnehmen als den, der Gemeinderat sei eine einzige grosse Schwatzbude. Dabei gibt es nebst den Momenten, die tatsächlich nicht beste Werbung für den Rat sind, immer wieder spannende Debatten. Aber viele Leute wissen nicht, dass die eigentlichen Debatten und Verhandlungen in den Kommissionen stattfinden und die wöchentlichen Sitzungen gewissermassen nur noch für die Galerie und die Medien abgehalten werden. Solches kann der Präsident auf Repräsentationsmission den Leuten erklären, und das werde ich auch tun.

 

Sie sind der erste Grünliberale, der Ratspräsident wird. Was bedeutet das für Sie?

Es zeigt mir, dass wir Grünliberalen im Zürcher Politbetrieb angekommen und voll dabei sind; das finde ich toll. Ansonsten bleibe ich realistisch: Der Gemeinderatspräsident ist in einem recht engen Zirkel eine bekannte Persönlichkeit, obwohl derjenige, der diesen Titel trägt, offiziell höchster Zürcher ist. Es ist ein repräsentatives Amt von lokaler Bedeutung, und das ist gut so.

 

Was möchten Sie als Präsident inhaltlich erreichen?

Mir sind drei Dinge wichtig: Erstens möchte ich meinen Beitrag dazu leisten, mehr Begeisterung für die Politik zu wecken. Es reicht nicht, sich nur darüber aufzuregen, wenn wieder mal bloss 30 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne gehen; ich möchte den Leuten, die ich in diesem Jahr treffen werde, die Politik näher bringen – was natürlich einfacher ist, wenn ich von einem Parlament berichten kann, in dem spannende Debatten stattfinden und das wichtige Entscheidungen trifft.

 

Und weiter?

Zweitens liegt mir die Jugendinitiative am Herzen: Die GLP regte in einer Motion an, sich darüber Gedanken zu machen, wie man bereits die unter 18-Jährigen für Politik begeistern und auf ihren Einsatz an der Urne vorbereiten könnte.

Der Vorstoss wurde nur als Postulat überwiesen, da im Kanton Zürich die gesetzliche Grundlage fehle. Doch in Uster ist mit dem Jugendparlament etwas Vergleichbares möglich, und dort gelten die kantonalen Gesetze bekanntlich auch.

Da müssen wir dran bleiben. Das ist auch das Stichwort für den dritten Punkt; der ist etwas heikel.

 

Inwiefern?

Thema ist die Partizipation von AusländerInnen auf Gemeindeebene. Eine Initiative auf kantonaler Ebene ging vor ein paar Jahren an der Urne bachab, und selbst in der Stadt Zürich resultierte eine Nein-Mehrheit. Doch ich bin nach wie vor der Meinung, wer sich in seiner Gemeinde engagieren will, soll das auch dann tun können, wenn er oder sie keinen Schweizer Pass hat.

 

Womit wir bei Ihrer gelungenen Nicht-Integration angelangt wären, die ja auch Thema Ihrer Antrittsrede war…

Stimmt, ich bin da ein bisschen speziell: Ich konnte den Passus anderer AmtsinhaberInnen, die in ihren Reden jeweils darauf hinweisen, wie gut sie als Auswärtige in Zürich aufgenommen wurden, glatt weglassen. Denn ich bin in Zürich-Oberstrass aufgewachsen und wohne immer noch in der Gegend. Es ist zwar seit Albert Leiser nicht mehr vorgekommen, dass ein ‹richtiger Zürcher› dieses Amt innehatte, aber jetzt ist es wieder mal so weit: Ich bin der lebende Beweis dafür, dass man sogar als Stadtzürcher Gemeinderatspräsident werden kann…

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