Der 68er-Aktivist, der die Brände der ‹Bewegig› löschen half

Aufgezeichnet von Tobias Urech

 

In einer Genossenschaftssiedlung, die den architektonischen Geist des Bauhauses atmet, gelegen am Ende von Wollishofen, wo das Stadtgrau schon den grünen Wiesen und blühenden Bäumen weicht, wohnt Leonhard Fünfschilling, Präsident der SP Stadt Zürich während den Opernhauskrawallen. Auf diese unruhige Zeit angesprochen meint er: «Die 80er-Unruhen haben nur wenig mit mir zu tun und bilden eigentlich einen Fremdkörper in meinem politischen Leben.»

Geboren und aufgewachsen ist Leonhard Fünfschilling im Baselbiet. Nach Abschluss einer Lehre als Bauzeichner studierte er an der von Max Bill gegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm Architektur – ein Thema, das ihn sein Leben lang begleitete.

Seine ersten Eindrücke von Sozialismus habe er 1956 im Zuge des Ungarn-Aufstandes erhalten, der bei ihm eine antikommunistische Grundhaltung hinterliess. Später, auf einer Studienreise nach Weimar, habe sich dieser Eindruck bestätigt. «Ich hegte eine tiefe Abneigung gegen die merkwürdig muffige Atmosphäre der DDR. Diese Studienreise sollte die einzige in den Ostblock bleiben – eine zweite geplante Reise im Jahr 1961 wurde im letzten Moment abgesagt. Der Grund hiess Mauerbau. Nach Abschluss des Studiums 1962 beteiligte Leonhard sich an der Planung der Grosssiedlung Le Lignon bei Genf. 1964 kam er nach Zürich, wo er sich bei der eben erst gegründeten Zentralstelle für Baurationalisierung vor allem mit der technischen Entwicklung der Grossplattenbauweise befasste. «Wie man darin lebt», erzählt er, «hat uns damals wenig interessiert, im Vordergrund stand die Lösung technischer Probleme.»

Hier unterbricht er sich kurz und meint: «Wie man sieht, habe ich zu dieser Zeit mitten im ganz normalen, kapitalistischen Geschehen gestanden.» Im Laufe der 1960er-Jahre sei er diesem Geschehen gegenüber zunehmend kritisch geworden. Doch der zündende Moment seien erst die Studentenrevolten von 1968 gewesen, an deren Demos er mitmarschierte. Leonhard schmunzelt: «Anfangs habe ich gar nicht in solche Gruppen hineingepasst, mit meiner geschniegelten Kleidung.» Doch: «Die Kleider wurden bald weiter und die Haare länger – wie man es damals halt so trug.» In diesem Umfeld wurde er politisiert und engagierte sich zunächst in der von ihm mitbegründeten parteiunabhängigen Studiengruppe «Bauen für Zeitgenossen», die Analysen zur Stadtentwicklung anfertigte. Es sei eine aufgewühlte Stimmung gewesen, eine kulturelle Revolution. «Alle wollten die Gesellschaft verändern», stellt Leonhard fest. Bald habe sich für ihn die Frage gestellt, wie er sich dafür politisch engagieren soll. «Unsere Studiengruppe ist schliesslich kollektiv der SP 1 beigetreten, obwohl wir die SP für einen eher verstaubten Laden hielten, der sich aber sicher verändern liess.»

Kaum in die Partei eingetreten, wählten die neuen SP-Mitglieder den bestehenden Vorstand ab und übernahmen die Sektion. Als nächstes formulierten sie das sogenannte Programm Z, mit dem sie eine neue Entwicklungspolitik für die Stadt finden wollten. Im Programm Z kann man Forderungen nachlesen wie: «Alle geplanten grösseren Investitionen in den Ausbau des Strassennetzes für den privaten Verkehr sind zu verhindern.» Oder: «Die bestehenden öffentlichen Verkehrsmittel sind ab sofort stark zu fördern.» Konkret setzte sich die Gruppe für die Verhinderung der Y-Autobahnverbindung und der U-Bahn in Zürich sowie für den Wohnschutz ein. Die Geschäftsleitung der Stadtpartei stand diesen Bestrebungen positiv gegenüber und bemühte sich um eine Integration der 68er. Ein Jahr nach seinem Eintritt in die Partei wurde Leonhard bereits in den Gemeinderat gewählt, nochmals ein Jahr darauf in den Kantonsrat. Als Parlamentarier standen für ihn weiterhin Probleme der Stadtentwicklung und der Raumplanung im Vordergrund.

In dieser Zeit liess er sich auch auf andere Engagements ein. Leonhard wirkte in der Stadtplanungskommission, war im Vorstand des Mieterverbandes und übernahm beruflich für lange Zeit die Geschäftsführung des Schweizerischen Werkbundes. Dann, Anfang 1980er-Jahre, liess sich Leonhard als Nachfolger von Moritz Leuenberger zum Präsidenten der SP Stadt Zürich wählen. Hätte er gewusst, was noch alles auf ihn zukommen würde: «Ich hätte es besser nicht getan.» Er sei gerade mit seiner Frau in Kreta gewesen, als die Opernhauskrawalle losbrachen. «Ich habe erst auf dem Rückflug aus dem ‹Tagi› davon erfahren.» Er sei völlig unvorbereitet gewesen. Es war eine schwierige Zeit für ihn. Plötzlich wurde er für gewisse Kreise zu einer der unbeliebtesten politischen Figuren in der Stadt. «Es war eine aufgewühlte Situation, in der ich polarisierte.» In dieser Zeit habe er viele Drohbriefe und anonyme Telefonanrufe erhalten. Sogar seine Katze fand er eines Tages tot vor seiner Haustür.

Er und seine 68er-KollegInnen in der Partei solidarisierten sich zu einem gewissen Grad mit den Forderungen der Jugendbewegung, weil sie sich ein Stück weit selbst darin wiedererkannten. Ältere SP-Mitglieder hingegen machten Opposition und mit ihnen auch die damaligen SP-Stadträte Jürg Kaufmann, Max Bryner und Emilie Lieberherr. Der Eklat folgte bei den nächsten Wahlen: Die SP-Stadträte liessen sich vom Gewerkschaftsbund aufstellen und nicht von der SP. Im Gemeinderat büsste die SP Sitze ein, ihre eigenen Stadtratskandidaten wurden nicht gewählt. Mit einem Anflug von Resignation betont Leonhard: «Diese Opposition gegen die Politik der Partei hat dieser nur geschadet.» Kein Wunder, sei er ein Jahr später als Präsident der Stadtpartei zurückgetreten. Und nachdem er auf der SP-Nationalratsliste vom neunten Platz fast zwanzig Plätze nach hinten rutschte, sagte er sich: «Jetzt reicht es mit der Politik.» Doch vier Jahre später wurde er von seiner Sektion prompt noch einmal angefragt, für den Gemeinderat zu kandidieren. Wieder gewählt, politisierte er noch weitere vier Jahre mit seinem Lieblingsthema Stadtentwicklung im Gemeinderat, bevor er der Parteipolitik in öffentlichen Gremien endgültig den Rücken kehrte.

Im Werkbund blieb Leonhard bis zu seiner Pensionierung aktiv, nachher engagierte er sich für die Ikea-Stiftung Schweiz, die jährlich eine halbe Million Franken für die Arbeit junger KünstlerInnen zur Verfügung stellt. Noch heute ist er Mitglied des Stiftungsrates.

Seinen letzten Auftritt in der Partei hatte Leonhard einmal mehr im Zusammenhang mit mit einem architektonischen Thema: Er riet an einer Delegiertenversammlung der SPZ vom Moneo-Bau ab – vergeblich. Stattdessen erlitt die Vorlage an der Urne und nicht parteiintern Schiffbruch. «Hoffentlich klappt es dieses Mal mit der Kongresshauserneuerung», meint Leonhard. Die Architektur und das Bauen beschäftigen ihn auch heute noch genauso wie damals, als er 1968 politisiert wurde.

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