Denkverbote bei der Denkfabrik
Einst hielt sich die wirtschaftsliberal ausgerichtete Denkfabrik Avenir Suisse aus der Tagespolitik heraus. Doch Peter Grünenfelder baute sie als Direktor zur parteipolitischen Plattform der FDP um – und tritt nun auch noch als Regierungsratskandidat an.
Ende März veröffentlichte Avenir Suisse eine Analyse zur Steuersituation im Kanton Zürich. Fazit: Zürich habe in den letzten Jahren das Potenzial für Steuersenkungen nicht genutzt. Als Mitautor der Analyse zeichnete Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder. Einen Tag später forderte er – dieses Mal in seiner Rolle als Regierungsratskandidat der FDP Zürich – in der NZZ eine Steuersenkung von sieben Prozent.
Diese Episode steht stellvertretend dafür, wohin sich Avenir Suisse unter Grünenfelder entwickelt hat: Die Denkfabrik, die einst gegründet wurde, um langfristige wirtschaftsliberale Denkkonzepte zu entwickeln, betreibt vermehrt Politlobbying. Das zeigen Gespräche von P.S. mit über einem halben Dutzend Personen aus dem Umfeld von Avenir Suisse – Gründern, ehemaligen Angestellten und Beratern. «Inzwischen ist Avenir Suisse ein Stück weit zu einer FDP-Denkfabrik geworden», sagt etwa der Ökonom Peter Buomberger, einer der Initiatoren der Denkfabrik. Ehemalige Angestellte zeichnen zudem ein wenig schmeichelhaftes Bild von Grünenfelders Führungsstil: Sie beschreiben den Direktor als autoritär und sprunghaft, werfen ihm «illiberale Selbstzensur und publizistische Einflussnahme» vor.
30 Millionen in zwei Monaten
Avenir Suisse wurde Ende der neunziger Jahre von einer Gruppe rund um den damaligen UBS-Chefökonomen Peter Buomberger lanciert. Darunter der damalige Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion Gerhard Schwarz und der spätere Swissair-CEO Mario Corti.
Die Grundidee: Die liberale Schweiz brauche neben den politischen Parteien und Verbänden, die sich mit Tagespolitik beschäftigen, eine Denkfabrik für langfristige wirtschaftsliberale Lösungen. Die Idee stiess in der Wirtschaft auf viel Gegenliebe: «Innert zwei Monaten konnten wir dreissig Millionen Franken Startkapital organisieren», erzählt Buomberger heute.
Mit der Zeit jedoch wuchs der Machthunger von Avenir Suisse. Der Stiftungsrat jedenfalls suchte 2016 eine Führungsperson, die für mehr «policy impact» sorgen sollte. Dafür also, dass Reformvorschläge von Avenir Suisse vermehrt in die «politischen Prozesse einfliessen». Sie fanden: Peter Grünenfelder. Dieser hatte sich als Staatsschreiber im Kanton Aargau den Ruf eines «hartnäckigen Modernisierers» und «sechsten Regierungsrats» erworben. Als der Aargauer Regierungsrat 2013 ein Sparpaket im Umfang von 120 Millionen Franken ankündigte, das vor allem die Bereiche Bildung, Soziales und Kultur betraf, vertrat Grünenfelder das Geschäft vor den Medien. Seine Staatskanzlei war gemäss ‹Aargauer Zeitung› stark an der Leistungsanalyse beteiligt, auf der die Regierung das Sparpaket stützte.
Unschöne Abgänge
Grünenfelders Ära bei Avenir Suisse begann im April 2016 mit einem Knall. Noch bevor der Vertrag seines Vorgängers Gerhard Schwarz abgelaufen war, musste dieser sein Büro räumen. Auch Buomberger und andere Vertreter der alten Garde mussten gehen. Buomberger und Schwarz wollen heute nicht über die Details dieser Übergangsphase sprechen. Sie sagen nur so viel: Es sei unschön gewesen.
Zu Beginn hatte der Stiftungsrat Grünenfelder den Ökonomen Patrik Schellenbauer als stellvertretenden Direktor zur Seite gestellt. Als Unterstützung und als Gegengewicht. Als dieser aber 2018 gesundheitshalber ausfiel, sei auch die einzige Person weg gewesen, die Grünenfelder Paroli bieten konnte, erzählen mehrere ehemalige Mitarbeiter P.S. unabhängig voneinander, die anonym bleiben wollen. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern sei Grünenfelder weniger akademisch interessiert, sagt eine mit den Arbeiten von Avenir Suisse seit Jahren vertraute Person. «Sondern vom Naturell her eher ein Lobbyist.» Dass die Denkfabrik näher an die Tagespolitik gerückt ist, zeige sich vor allem vor Abstimmungsterminen: Vor Grünenfelder äusserte sich Avenir Suisse im Vorfeld von Abstimmungen nicht, weil die Denkfabrik dies als Aufgabe politischer Parteien und von Verbänden wie Economiesuisse betrachtete.
Diese Zurückhaltung hat die Denkfabrik abgelegt. Zuletzt veröffentlichte Avenir Suisse einen Monat vor der Abstimmung über die Stempelabgabe und das Mediengesetz je einen Wochenkommentar, in dem man sich klar im Sinne der FDP positionierte. Der Wochenkommentar ist ein Format, das Grünenfelder 2019 einführte und das er seither oft selbst bespielt.
Parteinähe benennen
Nun wäre die Nähe zur Tagespolitik an sich noch kein Problem – kandidierte nicht ausgerechnet Grünenfelder bei den Zürcher Wahlen 2023 für die FDP als Regierungsrat. Die Frage, ob er Avenir Suisse dann im Wahlkampf als Plattform benutzen will, liegt damit auf der Hand. Dazu kommt mangelnde Transparenz: Wenn deutsche Medien die Friedrich-Ebert-Stiftung zitieren, schreiben sie von einer «SPD-nahen Stiftung». Avenir Suisse hingegen betont stets ihre Unabhängigkeit – und bis auf wenige Ausnahmen wird das von Politik und Medien nicht hinterfragt.
Zwar wird Avenir Suisse strukturell diesem Anspruch gerecht: Seit 2005 finanziert sich die Denkfabrik über eine Förderstiftung, in der bei Amtsbeginn von Grünenfelder 129 Unternehmen jährlich durchschnittlich einen fünfstelligen Beitrag beitrugen, inzwischen beläuft sich ihre Zahl auf über 150. Dank dieses breiten Förderkreises sei Avenir Suisse «frei von Partikularinteressen» und könne «auch unbequeme Themen oder politische Tabus» aufgreifen, steht auf der Homepage.
Doch hatte Avenir Suisse immer eine wirtschaftsliberale Ausrichtung und einen freisinnigen Stallgeruch – obwohl Grünenfelders Vorgänger Thomas Held und Gerhard Schwarz keine FDP-Mitglieder waren. Und mit Peter Grünenfelder ist Avenir Suisse ideologisch nun so nahe am Freisinn, dass kaum mehr ein Blatt zwischen Partei und Denkfabrik passt. Das sagen nicht etwa linke KritikerInnen, das sagt Avenir Suisse-Urgestein Peter Buomberger: «Es ist nicht verwerflich, wenn eine Partei eine Denkfabrik hat. Aber wenn Avenir Suisse jetzt ein FDP-Thinktank sein soll, muss das transparent ausgewiesen werden.»
Zensur statt eigenständigen Denkens
Peter Grünenfelder war nie einfach nur irgendein FDP-Mitglied, er ist tief im Freisinn verwurzelt. Seinen beruflichen Werdegang startete er Mitte der 1990er-Jahre als politischer Sekretär der FDP Schweiz. Und sein grosses Beziehungsnetz in Verwaltungen und Regierungen auf Bundes- und Kantonsebene war einer der Gründe, warum die Headhunter Grünenfelder als idealen Direktor für Avenir Suisse identifizierten. Wie gut sein Beziehungsnetz funktioniert, zeigt sich etwa daran, dass Ignazio Cassis das erste Interview nach seiner Wahl in den Bundesrat nicht etwa einer Zeitung, sondern der Kommunikationsabteilung von Avenir Suisse gab – lange vor Ablauf der üblichen 100 Tage im Amt.
Bei der Denkfabrik herrsche inzwischen eine illiberale Selbstzensur, sagen mehrere ehemalige Mitarbeiter. «Du hast gar nicht mehr frei gedacht, weil du ja wusstest, dass es nicht veröffentlicht wird», beschreibt jemand die Stimmung. Nach verschiedenen Aussagen waltet Grünenfelder als Zensor: Jede Publikation, jede Studie, jeder Blogbeitrag, «eigentlich jedes Komma» – müsse von ihm abgesegnet werden. Er greife regelmässig in fertige Texte ein, Aussagen, die nicht passten, würden kommentarlos gestrichen. Linientreue sei stets wichtiger gewesen als spannende Konzepte, meint ein anderer ehemaliger Mitarbeiter. «Ironischerweise habe ich mich gedanklich nie so unfrei gefühlt wie bei der angeblich liberalen Avenir Suisse.»
Gerhard Schwarz relativiert: Dass der Direktor Einfluss auf die Publikationen nehme, sei nachvollziehbar. «Als Direktor hat er auch die Verantwortung für die Publikationen. Er muss dahinterstehen.»
Doch glaubt man den ehemaligen Angestellten, ist die Freiheit, auch unkonventionelle Ideen oder andere politische Stossrichtungen zu verfolgen, bei Avenir Suisse unter Grünenfelder verloren gegangen.
Personeller Aderlass
Was in den Gesprächen ebenfalls deutlich wird: Grünenfelders Führungsstil hat eine hohe Personalfluktuation zur Folge. Wie viele MitarbeiterInnen Avenir Suisse seit seinem Amtsantritt verlassen haben, weiss nur die Personalabteilung der Denkfabrik. Gemäss öffentlicher Quellen aber verliessen zwischen 2017 und 2019 rund 40 Prozent der MitarbeiterInnen die Denkfabrik.
Als Grund dafür geben die ehemaligen Angestellten, mit denen das P.S gesprochen hat, die Arbeitsatmosphäre unter Grünenfelder an. Diese sei zum Teil vergiftet gewesen, Grünenfelder hätte einzelne Angestellte auf dem Kieker gehabt. Diese seien plötzlich nicht mehr auf wichtigen E-Mailverteilern erwähnt oder an Sitzungen eingeladen worden. «Das ist seine Art, den Leuten zu zeigen, dass sie nicht mehr willkommen sind: Er ignoriert sie so lange, bis sie von allein gehen wollen. Wenn sie das dann tun, sind sie oft psychisch angeschlagen», sagt eine ehemalige Angestellte. Ein anderer ehemaliger Angestellter beschreibt Grünenfelders Führungsstil als «autoritär» und «opportunistisch»: «Die Richtung seiner Positionen hat gewechselt, je nachdem, woher der Wind wehte. Das machte seinen Stil unberechenbar.»
Das gilt allerdings nicht für alle. Eine Angestellter schreibt, sie habe nur positive Erfahrungen in ihrer Zeit bei Avenir Suisse gesammelt, eine andere, die im Büro in Genf gearbeitet hatte, hat zwar von den Fluktuationen im Zürcher Büro mitbekommen. «Aber bei uns herrschte eine gute Arbeitsatmosphäre.» Zudem betonen auch jene Angestellten, die die Arbeitsatmosphäre bei Avenir Suisse kritisieren, dass sie in kleineren Teams durchaus positive Erfahrungen gemacht hätten.
Was viele der ehemaligen Angestellten zudem irritiert habe, seien zum Teil rückschrittliche Arbeitsbedingungen, die in einem Widerspruch gestanden hätten zu dem, was Avenir Suisse gegen aussen propagiert. In einem seiner Wochenkommentare schrieb Grünenfelder Ende 2021, dass die Gewerkschaften mit ihrem «antiquierten Verständnis der Arbeitswelt» modernen Arbeitsbedingungen im Weg stünden. Besonders das Homeoffice stellt er dabei ins Zentrum, das den Angestellten eine individuelle Zeitplanung und mehr Flexibilität ermögliche.
Nur: Peter Grünenfelder war bis zum Ausbruch der Pandemie intern Gegner von Homeoffice, wie die ehemaligen Angestellten sagen. Statt fortschrittlicher Arbeitsbedingungen hätte eine kuriose Mischung aus Privatwirtschaft und Beamtentum geherrscht, erinnert sich ein ehemaliger Angestellter. «Auf der einen Seite hat er allen viel abverlangt: Arbeiten am Wochenende, jederzeit erreichbar sein.» Auf der anderen Seite habe aber ein starrer Arbeitstag von 9 to 5 gegolten. Und wer von zu Hause arbeiten wollte, hätte das drei Tage vorher anmelden müssen.
Das P.S. hat Peter Grünenfelder mit den Vorwürfen konfrontiert. Konkret darauf eingehen will er nicht. Er verweist aber auf verschiedene jüngere Erfolge der Denkfabrik, die «Resonanz bei politischen und wirtschaftlichen EntscheidungsträgerInnen querbeet durch die Parteienlandschaft» erzielt hätten. «Der heutige Erfolg von Avenir Suisse und die wissenschaftlich fundierten Studien sind denn auch nur dank einer ausgeprägten Teamleistung und einer offenen Diskussionskultur möglich, wo wir uns als kleines, hoch qualifiziertes Team gegenseitig zu Höchstleistungen anspornen.»
Dieser Text ist in Kooperation mit der WOZ entstanden und erscheint dort zeitgleich in leicht gekürzter Form.
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