«Den Graben, der uns angedichtet wird, gibt es nicht»

Zwischen Juso und SP 60+ liegen Welten – oder etwa doch nicht? Marianne de Mestral, Präsidentin SP 60+, und Juso-Schweiz-Präsidentin Tamara Funiciello tauschen sich anlässlich des europäischen Tages der Generationensolidarität von morgen Samstag im Gespräch mit Nicole Soland dazu aus.

Wer steckt hinter dem «Europäischen Tag der Generationensolidarität», und was soll er bezwecken?
Marianne de Mestral: Seit 2009 wird europaweit jeweils am 29. April an die Generationensolidarität erinnert. In der Schweiz gab es 2007 einen grossen Anlass. Damals hat die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Jugendfragen zusammen mit der VASOS (Vereinigung aktiver Senioren- und Selbsthilfegruppen) ein Projekt lanciert, aus dem eine spannende Untersuchung hervorgegangen ist.

Der Tag wird somit nicht jedes Jahr mit einer grossen Aktion begangen?
Marianne de Mestral: Es braucht natürlich interessierte Junge wie Alte, die sich engagieren wollen. Meines Wissens ist das erwähnte Projekt bislang das einzige, das stattgefunden hat. Doch seit letztem Jahr ist die SP 60+ Mitglied bei der European Senior Organisation ESO, der mehrheitlich sozialdemokratische Organisationen aus verschiedenen Ländern angehören. Ich bin seit letztem Sommer Co-Vizepräsidentin der ESO, und der neue Präsident Jos Bertrand hat uns aufgefordert, in unseren Ländern etwas zu diesem Tag zu organisieren. Dabei ist alles möglich, von gemeinsamen Veranstaltungen bis zu Tauschhändeln wie etwa Vermitteln von Computerkenntnissen gegen Knöpfe-Annähen.
Tamara Funiciello: Jos Bertrand hat auch am diesjährigen YES-Kongress geredet, dem alle zwei Jahre stattfindenden Treffen der jungen europäischen SozialistInnen, und zwar sehr gut. Speziell hervorgestrichen hat er, wie wichtig die europäische Zusammenarbeit ist und dass man den Internationalismus vorantreiben sollte, statt ins Nationalstaaten-denken zurückzufallen.

Dennoch: Warum sollten Menschen, die nach dem Mauerfall auf die Welt gekommen sind, ausgerechnet mit Menschen etwas unternehmen, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden?
Tamara Funiciello: Im Moment werden ältere und jüngere Menschen ziemlich krass gegeneinander ausgespielt, beispielsweise bei der Altersreform 2020. Das finde ich eine Frechheit. Ich bin dezidiert der Meinung, dass sich die Generationensolidarität nicht nur über das Monetäre regelt. Zwar heisst es stets, die Jungen müssten für die Alten zahlen, doch seien wir ehrlich: Es fehlen schweizweit 50 000 Krippenplätze. Wenn wir keine Gross­eltern hätten, die unsere Kinder betreuen, würde das System zusammenkrachen. Das müssen wir stärker hervorstreichen. Kommt hinzu: Wir haben sehr viele Verbündete unter der Generation 60+ – möglicherweise können sie sich eine gewisse Radikalität eher leisten als die mittlere Generation, die noch voll im Berufsleben steht. Wir haben jedenfalls viele inhaltliche Parallelen.
Marianne de Mestral: Stimmt, wir haben festgestellt, dass wir politisch oft die gleiche Meinung haben, auch wenn wir sie wahrscheinlich auf weniger laute, weniger provokative Art äussern. Wir sind auch von den Strukturen her verwandt: Sowohl Juso als auch SP 60+ bilden eine Art Klammer um die Partei herum, wir befinden uns beide an den Rändern. Eine weitere Gemeinsamkeit sehe ich darin, dass beide Gruppen eine gewisse Narrenfreiheit haben: Wir Alten müssen keine Angst mehr haben, es werde uns gekündigt beziehungsweise wir verbauten uns die Karriere, und ihr Jungen seid oftmals noch nicht so weit, dass ihr eine Stelle zu verlieren habt. Diese Unbeschwertheit teilen wir.

Wenn sich die Juso mit Vorlagen wie der Altersreform 2020 befassen, schlagen sie sich mit einem Thema herum, das für sie in rund 40 Jahren akut wird. Müssten die Jungen nicht erst mal die nächste Revolution auf die Beine stellen?
Tamara Funiciello: Die AHV ist eine Revolution. Die AHV ist Klassenkampf! Man hängt es heute zwar nicht mehr an die grosse Glocke, doch es ist so: Die AHV wurde mit dem Generalstreik initiiert, der Kampf dafür zog sich über Generationen hin, und konkret aufgegleist werden konnte sie erst, nachdem endlich auch die FDP gemerkt hatte, dass eine Altersrente für alle eine gute Sache ist. Das ist bis heute eine spannende Geschichte: Bei der AHV hat die Linke nicht nur gewonnen, sondern es ist die grösste Errungenschaft, welche sie in diesem Land bis dato erreicht hat. Und diese Errungenschaft ist im Moment massiv unter Druck – die Junge SVP beispielsweise möchte sie abschaffen.
Marianne de Mestral: Die Katastrophe ist passiert, als man private Pensionskassen zugelassen hat. Das ist die grösste Bedrohung der AHV. Man hat kaum realisiert, welche Auswirkungen es haben würde, und entsprechend geht die Bedrohung bis heute weiter.

Dennoch erstaunt mich Ihr gemeinsames Engagement – die Alten bekommen die AHV bereits, und die Jungen haben immerhin von Anfang an eine Pensionskasse. Wer hingegen seit dreissig Jahren einzahlt, erhält dereinst wegen der sinkenden Umwandlungssätze weniger als ursprünglich gedacht, und die Frauen werden obendrein später pensioniert.
Tamara Funiciello: Umso wichtiger ist es, dass wir Juso uns engagieren, beispielsweise, indem wir die Abschaffung der Pensionskassen zur Diskussion stellen – natürlich nicht von heute auf morgen, sondern schrittweise, damit die Besitzstandwahrung garantiert ist. Zu diesem Thema hat das ‹Denknetz› interessante Modelle entwickelt. Vor allem aber muss die AHV in eine Volkspension umgewandelt werden, von der man tatsächlich leben kann. Diese Forderung müssen wir mit vollem Engagement vertreten, aber wir müssen uns sicher nicht gegen die Alten ausspielen lassen.
Marianne de Mestral: Ich denke, wenn seinerzeit die Initiative für eine Volkspension nicht von der PdA beziehungsweise den Kommunisten gekommen wäre, dann wäre sie durchgekommen. Dabei müssten wir doch langsam wissen, dass wir viel mehr erreichen, wenn wir inhaltlich diskutieren, anstatt nur aufs Parteibüchlein zu schielen.
Tamara Funiciello: Die Gewerkschaften sind doch abgesprungen, beziehungsweise sie haben erst ja und dann nein gesagt – die Gewerkschaften sind bekanntlich an einigen Pensionskassen finanziell beteiligt. Das war der Hauptgrund für ihre Ablehnung.
Marianne de Mestral: Aber das haben sie damals nicht laut gesagt…
Tamara Funiciello: Natürlich nicht, aber es ist trotzdem übel, vor allem, wenn man sieht, wo wir heute stehen. Wir bewegen uns momentan völlig in der Defensive; es ist höchste Zeit, dass endlich jemand in die Offensive geht.
Marianne de Mestral: Bei den Sozialversicherungen sind wir zurzeit auf der ganzen Linie in der Defensive. Gerade auch bei den Ergänzungsleistungen könnten Junge und Alte gemeinsam aktiv werden.

 

Ihr Interesse am Tag der Generationensolidarität versteht sich somit quasi von selbst?
Marianne de Mestral: Es geht darum, auch gegen aussen zu dokumentieren, dass wir dieselben Ziele haben. Wir sind natürlich bereit, über allfällige Differenzen zu diskutieren, doch wir möchten das in den Vordergrund stellen, was uns verbindet – und aufzeigen, dass es den Graben, der uns angedichtet wird, in der SP nicht gibt.
Tamara Funiciello: Diesen Graben gibt es grundsätzlich nicht. Ich weiss nicht, wieso man unterschiedliche Interessen haben sollte, nur weil man nicht gleich alt ist. Man nimmt möglicherweise unterschiedliche Perspektiven ein oder setzt nicht die gleichen Prioritäten…
Marianne de Mestral: …oder man hat unterschiedliche Methoden: Die Mitglieder der SP 60+ bringst du kaum dazu, sich auf Tramschienen zu setzen, denn sie könnten möglicherweise nicht mehr aufstehen…
Tamara Funiciello: Immerhin hat kürzlich eine 86-jährige Friedensaktivistin die Nationalbank versprayt…
Marianne de Mestral: Ich wollte damit sagen, dass es Dinge geben kann, welche die Ältereren physisch nicht mehr schaffen.

Dass Alte und Junge gar nichts trennt beziehungsweise dass sie höchstens unterschiedliche Perspektiven einnehmen, tönt trotzdem nach zu viel «Friede, Freude, Eierkuchen», um wahr zu sein.
Marianne de Mestral: Ich meinte damit, dass uns weniger trennt, als man von aussen vermuten würde.
Tamara Funiciello: Die Jungparteien der Bürgerlichen spielen sich zurzeit als die Vertreter der Jungen auf und benehmen sich, als hätten sie ‹die Jugend› gepachtet. Die Juso hingegen vertreten 99 Prozent der Gesellschaft, zu der bekanntlich Junge und Alte gehören. Darum lancieren wir auch eine gleichnamige Ini­tiative, die die Gemeinsamkeiten hervorhebt, nämlich, dass wir allesamt Lohnabhängige sind: Die Alten erhalten den Lohn in Form der AHV, die sie einst einbezahlt haben, vom Staat, und die Jungen gehen einer Lohnarbeit nach. Im Unterschied zu denen, die von der Arbeit anderer leben, weil sie Geld haben. Deshalb sehe ich auch keinen Interessenskonflikt, sondern höchstens andere Priorisierungen. Jugendarbeitslosigkeit beispielsweise beschäftigt uns möglicherweise mehr als die Alten.
Marianne de Mestral: Arbeitslosigkeit ist auch bei uns ein Thema: Unsere zwischen 60- und 65-jährigen Mitglieder sind noch im Lohnarbeitsprozess drin und damit möglicherweise direkt betroffen von der Arbeitslosigkeit der Älteren, die es kaum mehr zurück in den Arbeitsmarkt schaffen. Werden sie ausgesteuert, fallen sie aus der Statistik heraus und werden damit nicht einmal mehr als Arbeitslose wahrgenommen.
Tamara Funiciello: Und die Jungen werden erst in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen, wenn sie schon mal einen Job gehabt und diesen verloren haben.
Marianne de Mestral: Längst nicht alle der hochgelobten Frühpensionierungen passieren freiwillig. Häufig handelt es sich um verschleierte Entlassungen.

 

Dafür haben die Leute dann Zeit, um sich bei der SP 60+ zu engagieren…
Marianne de Mestral: Auch in unserer Partei ist man nicht ganz gefeit vor dem Wunsch nach Verjüngung. Es gibt immer noch Leute, die zwar über 60 sind, aber finden, sie gehörten doch nicht zum alten Eisen, sie seien noch aktiv – die SP 60+ sei folglich nichts für sie. Damit anerkennen sie nicht, dass genau der Beitritt zur SP 60+ eine Möglichkeit wäre, aktiv zu sein. Ich bin bald 81 Jahre alt, mir ist es manchmal fast peinlich, zu sagen, dass ich noch ins Vizepräsidium der ESO gewählt worden bin – und dass es langsam an der Zeit wäre, an Rückzug zu denken … Das ist gleichzeitig etwas, was uns von den Jungen unterscheidet: Wir Älteren wurden anders sozialisiert bezüglich dessen, was ‹man› macht.
Tamara Funiciello: Wir gehören einer anderen Generation von Feministinnen an. Als ich geboren wurde, konnten die Frauen selbstverständlich abstimmen – ihr hingegen musstet euch dieses Recht erst erkämpfen.
Marianne de Mestral: Ihr habt kürzlich im Rahmen eines Aktionstags eure BH verbrannt. Mich hat das total gerührt, denn das haben wir auch gemacht, als ich jung war; ich lebte damals in den USA, und wir protestierten gegen die Miss-Universe-Wahlen beziehungsweise gegen die Barbie-Frauen, die geliftet zur Schönheitskonkurrenz antraten.
Tamara Funiciello: Wir knüpften mit unserer Aktion an die früheren feministischen Bewegungen an und mobilisierten damit für den Women’s March. Es waren verschiedenste Frauen auf dem Plakat, Migrantinnen waren dabei, Frauen mit unterschiedlichen Gendern und biologischen Geschlechtern – was als grosse Provokation aufgefasst wurde.
Gibt es eigentlich auch gemeinsame Aktionen von Juso und SP 60+?
Marianne de Mestral: Das ist punktuell der Fall; wir spannten etwa zusammen, als es um die Mutterschaftsversicherung oder um die Einheitskrankenkasse ging sowie bei AHV Plus.
Tamara Funiciello: Unsere neue Initiative oder eine Arbeitszeitverkürzung sind aktuell wichtige Themen, bei denen ich mir ein Zusammengehen vorstellen könnte.
Marianne de Mestral: Ob sich dafür bei der SP 60+ zurzeit eine Mehrheit fände, bin ich mir zwar nicht sicher – aber die Richtung stimmt auf jeden Fall.

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