- Gönner:innenanlass
Den Drogen auf der Spur
Samstagnachmittag, 8. März, die Stadt zeigte sich im besten Sonnenlicht, die P.S.-Gönner:innen trafen sich um 14 Uhr bei der Schiffanlegestelle beim Landesmuseum, und sogleich ging es los mit einer Stadtführung der besonderen Art. Nicola Behrens von Stattreisen Zürich erklärte der rund 30-köpfigen Gruppe zur Begrüssung, worauf sie sich eingelassen hatte: «Die offenen Drogenszenen im Platzspitz und am Letten machten die Stadt Zürich in den 1990er-Jahren weltbekannt. Im Mittelpunkt dieser Führung sollen Fragen danach stehen, wie und weshalb sich diese soziale Katastrophe entwickeln konnte, und wie es schliesslich gelang, den Konsum von Heroin stadtverträglich zu gestalten.» Insbesondere der Zeitraum der 1980er- und 1990er-Jahre werde angeschaut, und der Untertitel der Führung, «von der Riviera zum Letten», sei «sowohl ein geografischer als auch ein historischer Hinweis».
Vom Protest…
Die Zürcher:innen seien nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wohlhabender geworden, als ihre Eltern es waren, fuhr Nicola Behrens fort, und die Jugend habe sich gefragt, wozu das denn dienen sollte, wenn man es nicht geniessen darf: «Der Ort des Protestes gegen diese bürgerliche Welt befand sich anfänglich um das Bellevue herum, und hier nahm auch die Drogengeschichte ihren Anfang.» Seit Mitte der 1950er-Jahre trafen sich die Existentialist:innen im Café Select. Die Besitzerin, die Malerin Anna Indermauer, habe meistens Französisch gesprochen, «da sie Deutsch seit der Machtergreifung Hitlers für eine Unsprache hielt». Also wurde der Ort zum Treffpunkt der frankophilen Zürcher:innen, wobei die Stadt damals noch viel stärker von der französischen Kultur geprägt gewesen sei als heute, sagte Nicola Behrens mit Verweis darauf, dass die Hälfte der damals gezeigten Filme aus Frankreich stammte, die Werke von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ebenso disktuiert wurden wie jene von Albert Camus – und geraucht wurden selbstverständlich Gitanes. «Die Frankophilen konnten aber nicht ständig nach Frankreich reisen und erhoben darum diesen Ort am Limmatquai zu ihrer ‹Riviera›.» Die Riviera war zudem bis in die 1980er-Jahre der einzige direkte Zugang zum Wasser und wurde der natürliche Treffpunkt der Hippies von Zürich: «Für die damalige Zeit schockierend war besonders, dass es kaum bis keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Kleidung gab.»
…zu den Drogen
Die erste Droge, die in Zürich auftauchte, war Cannabis – ein Bestandteil der europäischen Volksmedizin, der auch in vielen Klostermedizinen seinen Platz hatte und gegen rheumatische und bronchiale Erkrankungen ebenso angewendet wurde wie gegen Migräne oder Schlafstörungen: «Cannabis wurde erst Mitte des 20. Jahrhunderts fast weltweit verboten.» Damit leitete Nicola Behrens zur nächsten Droge über und damit auch zu einer bekannten Figur, zu «Mister LSD» Timothy Leary. Dieser habe allerdings gesagt, «LSD ist nicht für jedes Gehirn etwas – nur die Gesunden, Glücklichen, Schönen, Hoffnungsvollen, Humorvollen und Agilen sollen nach einer solchen Erfahrung suchen». Denn dieser «Elitismus» sei «gänzlich selbstbestimmt», und wer nicht selbstbewusst, selbstgesteuert und selbstbestimmt sei, solle es sein lassen. Was Leary nicht daran gehindert haben soll, LSD zum Allheilmittel zu verklären.
Auch Heroin war einst als Medikament beliebt: «Bayer vermarktete Heroin mit einer massiven Werbekampagne in zwölf Sprachen als ein oral einzunehmendes Schmerz- und Hustenmittel», erzählte Nicola Behrens. Zwar sei bereits 1904 bekannt geworden, dass Heroin genau wie Morphin, beziehungsweise gar noch stärker, zur Abhängigkeit führe. Doch erst 1931 gab die Firma Bayer dem politischen Druck nach, stellte die Produktion ein und konzentrierte sich fortan auf ihre zweite bahnbrechende Entdeckung, das Aspirin.
Polizeiliche Verzeigungen wegen Cannabiskonsum gab es in Zürich schon in den 1960er-Jahren, während das Heroin der Stadtpolizei erst Anfang der Siebzigerjahre aufgefallen sei: «Wie und warum das Heroin in Zürich auf den Markt kam, ist nicht bekannt.» Vermutlich sei es aber aus den Garnisonen der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland gekommen – zehn bis fünfzehn Prozent der Soldaten, die in den Vietnamkrieg geschickt wurden, sollen dort heroinsüchtig geworden sein. 1972 starb erstmals ein Mensch in Zürich den Drogentod. Ab 1974 tauchte Kokain in der Polizeistatistik auf.
Prävention oder Abstinenz?
Damit begann auch die Prävention, die damals durch drei Denkstile geprägt gewesen sei, berichtete Nicola Behrens: erstens durch den autoritativen Denkstil, geprägt durch Polizei und Politik, der vor allem die Wiederherstellung der alten Ordnung zum Ziel hatte. Zweitens durch den psychologischen Denkstil, der sich auf die psychischen Ursachen von Suchtentwicklung konzentrierte. Und drittens durch den alkoholgegnerisch-präventivmedizinischen Denkstil, der in der Schweiz eng mit der Abstinenzbewegung verbunden war. 1971 wurde eine städtische Arbeitsgruppe Drogenprobleme gegründet, der Vertreter:innen von Schulamt, Polizei und Sozialamt angehörten. Im Jugendamt entstand die städtische Jugendberatung. Bis das Dreisäulenprinzip Prävention, Repression und Therapie entstand, dauerte es seine Zeit: «Ab 1975 setzte das jahrelange Katz- und Maus-Spiel zwischen Süchtigen, Dealern und der Polizei ein.» Das löste Ängste bei der Bevölkerung aus, damals vor allem rund um den Hirschenplatz im Niederdorf, und die Einwohner:innen wurden gar mit dem Tod konfrontiert: «An gewissen Plätzen, wie dem Löwenplätzli oder dem Predigerplatz in den Nischen der Kirche ist man regelmässig auf halb oder ganz tote Fixerinnen und Fixer gestossen.» Die Idee hinter der Repression war, «dass es den Süchtigen so dreckig gehen sollte, dass sie aus den Drogen ausstiegen». Doch bereits Ende der 1970er-Jahre sei klar geworden, dass die Repressionsstrategie ihre Ziele nicht erreichte.
Zeit für die P.S.-Gruppe, sich ein paar Schritte zu bewegen: Das Autonome Jugendzentrum AJZ, das sich dort befand, wo heute der Carparkplatz ist, stand ursprünglich für den «Traum vom menschlichen Umgang mit der Sucht». Es wurde 1980 als Reaktion auf den Opernhauskrawall eröffnet. Anfänglich sei das Heroin kein Problem gewesen, erzählte Nicola Behrens, sondern wenn schon die Alki-Szene, die sich breitmachte. Die Junkie-Szene nahm est nach der Wiedereröffnung des AJZ 1981 überhand, wobei sich die Junkies, im Gegensatz zu den Alkis, immerhin als «Arbeitsgruppe Drogen» organisierten und sich schliesslich einen Fixerraum erkämpften. Da dieser aber gegen geltendes Gesetz verstiess, war ihm nur ein kurzes Leben beschieden. Bald darauf kam der totale Absturz – das AJZ wurde im März 1982 abgebrochen. Mitte der Achtziger wurde dann ein Problem der Drogensüchtigen zu einem Problem der ganzen Gesellschaft: Aids. Es folgte der aus heutiger Sicht bizarre Streit, ob die Abgabe von sauberen Spritzen eine strafbare Beihilfe zum Suchtmittelkonsum sei, wie es der damalige Kantonsarzt sah. Der Arzt André Seidenberg hingegen, der sich öffentlich dazu bekannte, sterile Spritzen abzugeben, musste um seine Zulassung kämpfen.
Platzspitz: Leicht zu kontrollieren
Im Laufe der 1980er-Jahre kam zu den bisher bekannten Orten für den Drogenhandel ein weiterer dazu, der Platzspitz. Die offene Drogenszene sei damals noch überschaubar gewesen und dieser Standort eine Entlastung für die Stadt, erzählte Nicola Behrens: «Es gab keine direkten Anwohner:innen, das Gelände hinter dem Landesmuseum war nicht direkt einsehbar und zudem von der Polizei leicht zu kontrollieren, weil es nur drei Eingänge hatte.» Wer aber waren die Drogensüchtigen? Das Sozialamt der Stadt Zürich stellte 1991 eine Studie über die Drogenszene Zürich vor. Je ein Viertel der Drogensüchtigen stamme aus der Ober- bzw. der Unterschicht, hiess es darin, die Hälfte aus der Mittelschicht. «Mehr als ein Drittel führte ein unauffälliges Leben in normalen Verhältnissen, mit Arbeit und Wohnung», sagte Nicola Behrens, wobei eines doch auffällig gewesen sei: Ein Drittel der befragten Junkies hatte keinen Freundeskreis, die Hälfte hatte nur sehr wenige Freund:innen. Beinahe die Hälfte hatte schon einen Suizidversuch hinter sich, und unter den Frauen, die sich prostituierten, war der Anteil «entscheidend höher». Die Beschaffungskriminalität war hoch, und fast 40 Prozent der Frauen verdienten sich ihr Geld auf dem Drogenstrich.
Bereits 1987 hatte der Stadtrat einen Strauss von Massnahmen beschlossen, darunter Kontakt- und Anlaufstelllen, Methadonprogramme, Notschlafstellen und eine Gassenküche. Auf dem Platzspitz waren aber auch viele Hilfsprojekte von Privaten präsent, vom Roten Kreuz, das Spritzen verteilte, über die Sozialwerke Pfarrer Sieber und der Zürcher Aids-Hilfe bis zur Gassenarbeit der Franziskaner mit Küche am Wasser. Das 1988 gegründete Zürcher Aids-Interventions-Pilotprojekt Zipp-Aids geht auf den damaligen Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes Ambros Uchtenhagen zurück und war das erste grössere Hilfsprojekt im Platzspitz. Zipp-Aids wandelte das dortige leer stehende Toilettenhäuschen in einen Anlaufpunkt um und gab pro Jahr zwischen 1,5 und 3,3 Millionen sterile Spritzen ab.
Überhastete Schliessung
1990 verabschiedete die Stadt zehn drogenpolitische Grundsätze und beauftragte 1991 den Drogenstab, dem Chefbeamten von Polizei-, Sozial-, Gesundheits-, Wirtschafts- und Tiefbauamt angehörten, einen Massnahmenkatalog zu erarbeiten. Darin hiess es unter anderem, das Experiment, die Drogenszene im Platzspitz irgendwie zu bewirtschaften, sei gescheitert, die offene Szene sollte spätestens ab Sommer 1982 schliessen. Dem kam jedoch der damalige Statthalter Bruno Graf zuvor: Er verfügte Mitte Oktober 1991, der Platzspitz sei bis Mitte November zu räumen. Der Stadtrat legte umgehend Rekurs ein, und so erfolgte erst einmal die Nachtschliessung von Platzspitz und Shop-Ville per 13. Januar 1982. Alle auswärtigen Drogenabhängigen wurden von Zürcher Einrichtungen ausgeschlossen, und am 5. Februar 1982 wurde der Platzspitz vergittert.
Weil die Schliessung derart überhastet erfolgen musste, verlagerte sich das Drogenproblem Richtung Industriequartier und Aussersihl, bis sich im Herbst 1982 im Letten eine offene Drogenszene bildete. Die Zahl der Süchtigen und der Drogentoten stieg stetig, doch die Stadt konnte nicht viel dagegen tun: «Für die Strafgesetzgebung im Bereich der Betäubungsmittel ist der Bund zuständig. Der Vollzug des Strafrechts liegt beim Kanton, die Gesetzgebung im Gesundheits- und Sozialwesen ebenso», fasste Nicola Behrens zusammen. Und die Polizei, die in der Zuständigkeit der Stadt war, konnte das Problem allein nicht lösen. Bei der Stadt blieben die negativen Auswirkungen des Drogenproblems – und die Kosten. Der damalige Stadtpräsident Josef Estermann versuchte, National- und Ständerät:innen ebenso zu sensibilisieren wie den Bundesrat, bekam jedoch vom damaligen Vorsteher des Departements des Inneren, Flavio Cotti, über ein Jahr lang keinen Termin. Erst dessen Nachfolgerin Ruth Dreifuss habe sich hilfsbereiter gezeigt.
Junkies beim Gemeindepräsidenten
In der Zwischenzeit begann man in Zürich, die auswärtigen Drogensüchtigen wegzuweisen: «Man telefonierte beispielsweise abends um elf Uhr dem Gemeindepräsidenten oder der Gemeindepräsidentin und kündigte eine Rückschaffung an. Eine Stunde später fuhr dann ein Polizeiauto der Stadt Zürich vor dessen oder deren Wohnung vor und deponierte den/die Junkie bei ihm oder ihr.» Während beispielsweise der Kanton Schwyz stets behauptet hatte, mit der Drogenszene in Zürich habe man nichts zu tun, zeigte sich anhand der Rückführungsaktion, dass alleine aus Küssnacht am Rigi sechzehn Drogenabhängige in Zürich verkehrten. Tatsächlich nahmen sich die Gemeinden ausserhalb der Stadt des Problems nach und nach an. Doch die Szene im Letten blieb und wuchs weiter, bis der Letten am 15. Februar 1995 geschlossen wurde. Die Junkies wichen nach Aussersihl aus, etwa an die Bushaltestelle Militär-/Langstrasse, wo bis heute Drogen gehandelt werden, und in die Bäckeranlage, die deswegen eine Zeitlang geschlossen wurde. Aus jener Zeit stammt die bis heute praktizierte ärztlich kontrollierte Heroinabgabe.
Und heute? Sowohl der Heroinkonsum als auch die Zahl der Drogentoten haben seither stetig abgenommen, und die städtische Vier-Säulen-Strategie in der Drogenpolitik ist weitherum akzeptiert. Mit einem ebenso unerwarteten wie anschaulichen Schlusswort beendete Nicola Behrens die Führung: «Wer hätte denn 1995 geglaubt, dass das grösste Problem im Letten heute ist, dass die Badi zu stark überlaufen ist?»
Weitere Infos zu den Führungen des Vereins Stattreisen siehe stattreisen.ch. Wer das P.S. gerne als Gönner:in unterstützen und dem Gönner:innenclub beitreten möchte, findet das Notwendige unter pszeitung.ch/goennerclub. Danke!