«Den Abbautrend stoppen»

Am 12. Februar 2017 finden in Winterthur die Ersatzwahlen für den zurückgetretenen Stadtrat Matthias Gfeller (Grüne) statt. Auf der Seite der ‹Sparer› kandidieren für die SVP Daniel Oswald und für die GLP Michael Zeugin. Die EVP sucht aus der Mitte heraus mit Barbara Huizinga-Kauer ihr Glück, während die Grünen mit Jürg Altwegg und die SP mit Christa Meier in den 1. Wahlgang starten. Matthias Erzinger sprach mit den beiden Kandidierenden des rot-grünen Lagers.

 

Sowohl Jürg Altwegg wie auch Christa Meier nehmen die Herausforderung, gegeneinander zu kandidieren, sportlich. Dass die SP gegen die Grünen antrete, habe zum Ziel, eine möglichst breite Mobilisierung zu erreichen, um so eine weitere Verstärkung der Spar- und Abbaupolitik im Stadtrat zu verhindern. SP und Grüne haben die Absicht, für den sich abzeichnenden zweiten Wahlgang ihre Kräfte zu bündeln.

 

Was ist Ihre Wahlkampf-Strategie, wenn der Glaube mehr zählt als Fakten?

Jürg Altwegg (JA): Als Elek­troingenieur sind mir Fakten wichtig. Aber ich verbinde die Fakten mit zwei wichtigen Aspekten: Kommunikation und Herz. Ich will nicht nur Fakten sprechen lassen, sondern sie auch erlebbar machen und mit Emotionen verknüpfen. Ich will die Faszination vermitteln, gerade auch für Winterthur. Unsere Stadt hat mehr verdient als Sparen und Abbau.

Christa Meier (CM): Ich finde es eine dramatische Situation, dass Fakten immer weniger wichtig sind. In der Politik geht es um Fakten, wir müssen diese der Bevölkerung an konkreten Beispielen aufzeigen können. Aber es geht eben auch um den Alltag der Menschen, wie sie ihn erleben. Hier mit meinen politischen Ideen anzuknüpfen, ist mein Ziel.

 

Was steht im Vordergrund, wenn Sie in diesen Wahlkampf steigen? Wie präsentiert sich Winterthur aktuell?

CM: Winterthur ist finanziell in der Schieflage. Nicht weil zuviel ausgegeben wurde, sondern weil wir durch Steuergeschenke und eine ungerechte Soziallastenverteilung zuwenig Einnahmen haben. Wenn wir Winterthur konstruktiv und kreativ weiterentwickeln wollen, müssen wir einen Weg finden, die Einnahmenseite zu korrigieren.

 

Konkret: Steuererhöhungen?

CM: Nein, das ist nicht das Ziel. Ich engagiere mich aber aktiv gegen die Unternehmenssteuerreform III, weil genau diese die Schieflage noch verstärkt und der Stadt schadet.

 

Was heisst das, «die Stadt konstruktiv und kreativ weiterentwickeln?

JA: Ich möchte die finanzielle Situation nicht dramatisieren. Wir haben zwar eine grosse Schuldenlast. Aber wir haben auch einen Investitionsstau. Wir müssen es schaffen, neue Firmen nach Winterthur zu bringen – und das schaffen wir nicht ohne Investitionen. Bei den Unternehmen haben wir ein starkes Verbesserungspotenzial, zum Beispiel gegenüber Zürich. Wenn jemand eine Hypothek aufnimmt und ein Haus kauft, gilt das als Investition, und niemand spricht von Schulden. Wenn die Stadt investiert, so spricht man dagegen nur von den hohen Schulden. Das ist falsch.

 

Und warum soll man überhaupt etwas entwickeln?

CM: Wir haben Prognosen, wonach die Einwohnerzahl bis 2030 nochmals um ca. 20 000 Menschen ansteigt. Das kann Winterthur nicht selbst beeinflussen. Wir sind dazu gezwungen, die Stadt weiterzuentwickeln – nur schon zum Beispiel beim Schulraum. Es kommt nicht gut, wenn solche Entwicklungen erst im letzten Moment berücksichtigt werden. Welche Schwerpunkte setzen wir? Wo können bestehende Strukturen verstärkt werden? Das ist für mich eine kreative Entwicklung.

 

Entspricht Ihre «kreative Entwicklung» nicht eher der Aussage, dass es darum geht, den Standard auch bei mehr Einwohnenden halten zu können?
CM: Wenn wir den Standard halten können, ist das schon mal gut. Aber die Entwicklung geht in eine andere Richtung. Im Moment baut die rechte Mehrheit ab – die Quartierentwicklung ist ein Beispiel dafür. Mittlerweile merkt sie selber, dass dies ein Fehler war und die Quartierentwicklung, beispielsweise in Töss, mit viel Aufwand wieder aufgebaut werden muss. Wieder auf den Standard zu kommen, den wir vor ein paar Jahren hatten, das wäre ein grosser Erfolg.

JA: Ein konkretes Beispiel ist Neuhegi. Da wurde mit einer Planungszone gearbeitet, und es bietet sich nun die Möglichkeit, einen unserer wichtigsten positiven Faktoren, nämlich dass wir Hochschulstandort sind, auszunützen. Gerade im Bereich Digitalisierung gibt es noch viele ‹grüne Wiesen›, und in Neuhegi können nun gezielt Firmen aus diesen Bereichen angesiedelt werden. Dazu braucht es auch das richtige Umfeld. Ich bin überzeugt, dass die ZHAW noch ein grosses Potenzial an Startups hat. Diese sollten in Winterthur bleiben, und nicht abwandern.
Dazu ist es ganz wichtig, dass Wohnen und Arbeiten nahe beieinander sind. Auch weil die traditionellen Familienmodelle immer mehr verschwinden. Neuhegi ist so eine Chance, Wohnen und Arbeiten ohne lange Pendlerwege zu verbinden.

 

Ihr habt jetzt von den Leuten gesprochen, die kommen soll(t)en … Was bietet ihr denjenigen an, die schon da sind – und aus verschiedenen Gründen frustriert sind?

CM: Der aktuelle Abbautrend geht auf Kosten der Bevölkerung. Wir konnten die Teilabschaffung der Gemeindezuschüsse für benachteiligte AHV- und IV-BezügerInnen verhindern. Aber wir wollen auch gestalten, wie beispielsweise beim Werk 1, wo dank uns mehr bezahlbarer Wohnraum entsteht. Winterthur hat sich seit den achtziger Jahren in eine Kultur- und Bildungs- und Wohnstadt entwickelt. Die Lebensqualität hat stark zugelegt. An dieser Entwicklung und an diesem Gestaltungswillen müssen wir wieder anknüpfen.

JA: Die Enttäuschten haben die Blütezeiten von Sulzer und Rieter erlebt, hadern mit dem Niedergang und finden, «Mist, alles ist schlecht». Wir können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Wir müssen in die Zukunft schauen, aber die wird anders aussehen. Wir wollen vermitteln, dass auch diejenigen, die sich auf der Verliererseite wähnen, davon profitieren. Und richtig: Es geht allen in Winterthur heute besser als vor dreissig Jahren.

 

Wie sieht das inhaltlich aus, falls Sie in den Stadtrat gewählt werden. Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf? Und wie wollen Sie ihren Anliegen zum Durchbruch verhelfen?

JA: Nehmen wir einmal die sogenannten grünen Anliegen. Die hatten es teilweise tatsächlich schwer, vor allem seit der bürgerlichen Stadtratsmehrheit. Ich bin überzeugt, dass wir auch für solche Anliegen Mehrheiten finden können. Wichtig ist, dass jemand im Gremium darauf achtet und das Gremium immer wieder auch sensibilisiert. Natürlich können wir keine radikalen Massnahmen durchsetzen. Aber es ist wichtig, dass in einem solche Gremium jemand auf diese Aspekte hinweist. In der Verkehrspolitik beispielsweise. Lassen wir doch die freie Marktwirtschaft bei den Parkplätzen spielen: warum nicht bedarfsabhängige Parkplatzgebühren einführen? Zu Zeiten von grossem Bedarf sind sie teurer, zu Zeiten mit geringerem Bedarf billiger. Solche Modelle gibt es, und sie funktionieren.

CM: Der Verkehr ist eines der Probleme, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Der öffentliche Verkehr leidet unter der Blechlawine. Auch in der Energiepolitik müssen wir jetzt Weichen stellen und die Winergie 2050 umsetzen. Dazu haben wir einen klaren Auftrag der Winterthurer Bevölkerung. Als Präsidentin des Grossen Gemeinderats habe ich bewiesen, dass ich lösungsorientiert arbeite und es mir gelingt, die Leute für eine gute Sache ins Boot zu holen.

 

Was heisst das für die Bevölkerung konkret?

JA: Das heisst, dass das Wärmeprojekt im Neuwiesenquartier forciert wird und die Ölheizungen ersetzt werden. Rund die Hälfte des gesamten Energiebedarfs wird für Wärme verwendet. Wenn wir weg vom Öl kommen, können wir sehr viel erreichen. Das geht mit verhältnismässig einfachen Mitteln. Aber auch da müssen wir zuerst investieren. Langfristig wird sich das auszahlen. Zudem stärkt das unsere Unabhängigkeit. An sich haben wir genügend Wärme hier und können für uns selbst sorgen, ohne von Saudis, Katar oder wem auch immer abhängig zu sein.

CM: Wir müssen in neue Technologien investieren. Die Wärmegewinnung aus Grundwasser muss ausprobiert werden, auch wenn das Stadtwerk da jetzt ein Imageproblem hat. Das darf uns nicht davon abhalten, den Auftrag der Bevölkerung umzusetzen.

 

Wie soll eine Investitionsstrategie überhaupt funktionieren, wenn nun der Gemeinderat von links bis rechts nach mehr Kontrollen ruft und das Stadtwerk stärker kontrollieren will?

JA: Es braucht nicht mehr Kontrollen. Was schief gelaufen ist, sind nicht die inhaltlichen Entscheide, wir haben leider keine Fehlerkultur. Diese müssen wir aufbauen. Mehr sprechen miteinander ist wichtiger als mehr Kontrolle. Man muss Probleme angstfrei ansprechen können. Man muss auch mal sagen können, «wir haben einen Fehler gemacht, wie können wir das jetzt lösen?». Im Moment getraut sich niemand, ein Pro­blem auch nur anzusprechen. Da brauchen wir einen fundamentalen Kulturwandel. Dafür werde ich mich sehr stark einsetzen. ‹Kontrollitis›, wie sie jetzt gerade auch von bürgerlicher Seite gefordert wird, bringt nur mehr Bürokratie und fördert die Lähmung in der Verwaltung.

 

Die SP wehrt sich ja gegen Privatisierungen ganz allgemein. Zeigt das Beispiel des Stadtwerks jetzt nicht gerade, dass das jetzige Kon­strukt nicht mehr zeitgemäss ist und das Stadtwerk mehr unternehmerische Freiheit braucht?

CM: Ich finde es sehr wichtig, dass Stadtwerk unter demokratischer Kontrolle bleibt – schliesslich geht es hier um Grundversorgung, wie beispielsweise auch beim KSW. Aber wir können die Kompetenzen genauer definieren und dem Stadtwerk zum Beispiel mehr Spielraum geben. Die Prozesse sind viel zu langsam, wenn das Stadtwerk für jeden Franken zum Parlament rennen muss. Das lähmt. Hier braucht es neue Kompetenzabsprachen. Das ist gar keine Hexerei. Dafür braucht es keine private Aktiengesellschaft.
Kommen wir nochmals auf den Stadtrat als Gremium. Aktuell besteht ein Verhältnis von 4 zu 3 …

CM: Und genau da liegt ein Problem, das sich noch verschärft, wenn der freiwerdende Sitz an die SVP geht. Der jetzige Stadtrat ist schon sehr stark am Gängelband der Wirtschaftsverbände. Beispiel Parkplatzverordnung. Die wurde aus rein ideologischen Gründen abgesägt. Das macht mir extrem Sorgen. Es finden keine politischen Auseinandersetzungen mehr statt. Die Wirtschaftsverbände bestimmen einseitig, was gemacht wird. Wie etwa die absurde Idee, das Stadttheater abzubrechen. Dass es uns gelungen ist, dies zu verhindern, bestärkt mich darin, für unsere Kulturstadt zu kämpfen. Wichtig ist auch: Wir müssen das Schwarz-Peter-Spiel stoppen, das SozialhilfeempfängerInnen, Asylsuchende oder Arbeitslose für Abbauprogramme verantwortlich macht und diese dann auch zur Kasse bittet. Wir dürfen nicht ganze Bevölkerungsgruppen ins Abseits schieben. Und gerade auch dafür ist es wichtig, diese Tendenz im Stadtrat nicht noch zu verstärken.

JA: Ich glaube, wir müssen alles da­ran setzen, dass dieser Sitz auf unserer Seite bleibt. Und in vier Jahren wieder versuchen, die Mehrheit zu drehen. Natürlich finde ich es wichtig, dass das grüne Element im Stadtrat eher gestärkt wird. Wichtig ist aber im Moment, dass wir möglichst viele Menschen dafür mobilisieren, eine weiteres Abdriften auf die Seite der Sparallianz zu verhindern.

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