Demokratie unter Zeitdruck

Nach dem für viele zwiespältigen Ja zum sogenannten Mantelerlass für eine sichere Stromversorgung hier ein paar Blicke in hochkomplexe Wälzer zum Prozess einer tatsächlich nachhaltigen sozialökologischen Transformation. Wem die nötige Zeit dazu fehlt: «Suffizienzpolitik» ist auch kürzer zu erklären.
Bild: Laura Kapfer
Nach dem für viele zwiespältigen Ja zum sogenannten Mantelerlass für eine sichere Stromversorgung hier ein paar Blicke in hochkomplexe Wälzer zum Prozess einer tatsächlich nachhaltigen sozialökologischen Transformation. Wem die nötige Zeit dazu fehlt: «Suffizienzpolitik» ist auch kürzer zu erklären.

Wer hat vor dem letzten Wochenende das Abstimmungsbüchlein und dort die knapp dreissig Kleindruckseiten zum Stromgesetzespaket gelesen? Schon diese Lektüre war Beleg dafür, dass die direkte Demokratie in Krisenzeiten zunehmend alle überfordert – auch in Bern um gute Kompromisse bemühte Parlamentsmitglieder. Komplizierter, widersprüchlicher konnte die Vorlage kaum sein.

Ein weitschweifender Gang …

Während sich rundum vereinfachende Ja- und Nein-Parolen häuften, kämpfte ich mich durch «Politik im Zeitnotstand» von Jürgen Rinderspacher. Er befasst sich am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Uni Münster bereits seit Längerem mit dieser zusätzlichen Belastung des Politbetriebes. Prompt tauchte im Kapitel, welches die Verschärfung «vom Zeitdruck zum Zeitnotstand» erläutert, das Versprechen der deutschen Ampel-Koalition auf, mit einer Gesetzesnovelle «zur Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus» den Anteil der Alternativenergien am Bruttostromverbrauch in weniger als einem Jahrzehnt zu verdoppeln. Mit der Verankerung des «überragenden öffentlichen Interesses» lasse sich juristisch sichern, dass konkrete Einzelprojekte «auch dann fortgesetzt werden, wenn dies dem Artenschutz widersprechen sollte», zum Beispiel. Dies faktische Abwertung auch anderer umweltpolitischer Zielsetzungen wecke diverse Bedenken, merkt der Autor dazu an, so wichtig die Energiewende sei. So stelle sich immer die Frage, ob nicht andere Strategien möglich wären. «Stichwort Verhältnismässigkeit.» Und dann schlägt er noch einen Bogen zur Corona-Pandemie. Da habe ein Experte zum ausgebrochenen Streit um die bestmöglichen Massnahmen bemerkt: «Zeit schlägt Perfektion.» Mit dieser Devise würden auch die «sozial-ökologischen Transformationsprozesse» durchgezogen. Was bei davon Betroffenen natürlich das Misstrauen befördert.

Jürgen P. Rinderspacher: Politik im Zeitnotstand. Katastrophen, Krisen, Kriege, Transformationsprozesse. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2024, 364 Seiten, ca. 89 Franken.

In der Klimapolitik löste die anspruchsvolle Zielsetzung des Pariser Abkommens ein globales Seilziehen aus. Wer trägt wie viel zur Abkühlung im Treibhaus bei und bis wann? Durch die wissenschaftlichen Hinweise auf Kipppunkte, welche das Geschehen bald völlig unberechenbar machen könnten, verschärfte sich der politische Streit weiter. Bewegungen mobilisierten zu Protesten. Parteien, Parlamente und Regierungen rangen um Fristen und konkrete Reduktionsziele. Gerichte mahnten rascheres Handeln an. So hielt das deutsche Bundesverfassungsgericht schon 2021 als Kern einer Klage gegen das Klimaschutzgesetz fest, dass «ein Fortschreiten auf dem bisherigen Pfad» künftige Gestaltungsmöglichkeiten beschränke. Das aber setze «demokratische Teilhabe, Freiheitsrechte und Subjektqualität zunehmend aufs Spiel». Und es folgte im Urteil den Bedenken, verlangte weitergehende und schnellere Schritte. Damit, so der Autor, griff das Gericht in Entscheidungsbereiche ein, «die unseres Erachtens eigentlich der Politik vorbehalten sein sollten». Es habe weder Folgewirkungen für die Wirtschaft noch mögliche soziale Verwerfungen reflektiert, sei also der «Komplexität, die Politik im Auge behalten muss», nicht gerecht geworden. Doch dies sei ja schliesslich «auch nicht die Kernaufgabe von Gerichten» …

… bis zum Unaussprechlichen

Noch unzählige weitere Zitate und Exempel wären anzuführen; die Argumentationen sind abwechslungsreich, schweifen aber weit aus. Schon wegen des Preises ist ein Kauf des Buches höchstens einschlägigen Bibliotheken zu empfehlen. Wer dort darin blättern kann, sollte nach dem kurzen zweiseitigen Zwischenfazit auch das 13. Kapitel nicht auslassen, wo es um «öffentliches Reden in der Krise» sowie «Unsagbares und Unaussprechliches» geht. Was, wenn die Veränderung katastrophaler Lagen nur auf Kosten von Teilen der Bevölkerung möglich erscheint, also unter Inkaufnahme von «Opfern»? Womöglich sollen diese ja sogar aus Sorge bewusst verschont bleiben. Doch das Ver- und Beschwiegene kursiert dann in digitalen Medien, wo sich Fakten und Meinungen zunehmend vermischen, allerlei «Privatethiken» entstehen, die sich vernetzen, in Echokammern verfestigen können. Bleibt «die für eine liberale Demokratie unerlässliche Wächterfunktion des Journalismus» als Korrektiv? Auch in diesem Metier wächst der Zeitdruck rasant, gibt es wirtschaftliche Abhängigkeiten und Ängste. Das illustrieren politische Tabus, die in Kriegszeiten plötzlich andere sind als im Frieden. In der dazu gelieferten Teilanalyse werden vorab «kriegerische Gesellschaften und Handelsgesellschaften» unterschieden. Der aktuelle Ukraine-Konflikt dient Rinderspacher dazu, räsonierend heroische und postheroische Haltungen sowie konfrontative Weltbilder vorzuführen.

Global lebbare Nachhaltigkeit?

Konzentrierter kommt ein weiteres dickes Buch daher, in dem es um stattfindende und auch notwendige Veränderungen in Natur, Umwelt und Gesellschaft geht. Dies unter einem für Nichtfachleute fürchterlichen Titel: «Prozessontologische Transformationsethik». Was heisst das, was soll das? In der Einleitung dieser Dissertation, die als Band 36 der «Beiträge zur Nachhaltigkeitsforschung» erschienen ist, werden die Wortmonster erklärt. Eine editorische Vorbemerkung betont, dass es zur Realisierung von dauerhaft wie global durchhaltbaren Lebens- und Wirtschaftsweisen wissenschaftliche Analysen und Konzepte «in weitem Umfang» brauche. Nicht nur naturwissenschaftliche oder technische, sondern auch geistes- und sozialwissenschaftliche Problemstellungen seien einzubeziehen, um Leitwerte zu überprüfen, neue Massstäbe für Fortschritt und Innovation zu finden.

Ivo Frankenreiter: Prozessontologische Transformationsethik. Versuch einer Epistemologie des Wandels in Natur, Umwelt und Gesellschaft. Band 36 der Beiträge zur Nachhaltigkeitsforschung. Metropolis-Verlag, Marburg 2024, 483 Seiten, ca. 65 Franken. Digital als Open-Access-PDF kostenfrei.

Dazu passt die Leitfrage dieser Untersuchung. Längst ist klar, dass die gegebenen planetaren Grenzen und das in Paris proklamierte 1,5- bis 2-Grad-Ziel grundlegende Veränderungen verlangen. Was aber sind die Ursachen des auf allen Ebenen nach wie vor unzureichenden Umgangs mit den Herausforderungen? Wie könnten sie behoben werden? Es geht also «um die Kluft zwischen ökologischem Wissen und einer Kultur der Nachhaltigkeit». Oder um «grünes Wachstum», das vielen als Ideal einer harmonischen Lösung, andern aber als gefährliche Illusion erscheint, und generell um Modernisierung und deren Schattenseiten. Immer weitere, immer tiefere Dimensionen, zumal ethische, auch theologische Aspekte kommen in den Blick. Schliesslich ist Ivo Frankenreiter an einer Münchner Universität für Christliche Sozialethik zuständig. Wer in seiner Studie stöbern will, bekommt sie über die Website des Verlages als PDF kostenfrei.

Kultureller Wandel, so oder so

Beim dritten, dem voluminösesten der drei Brocken rate ich zum Kauf, obwohl ich erst gut hundert Seiten gründlich gelesen habe. «By Disaster or by Design?» fragt Davide Brocchi. Das ist wohl tatsächlich die Alternative, vor der wir stehen. «Die gegenwärtige Polykrise ist keine unerwartete Naturkatastrophe, sondern das Resultat einer bestimmten Entwicklung und von bewussten Entscheidungen.» Auf den Wohlstandsinseln lässt sich die Unordnung, deren Ursache unsere Gesellschaftsordnung ist, vorerst noch ausblenden, obwohl Folgen des Klimawandels spürbar werden; sie sind nur Teile des sich abzeichnenden Desasters. «Wie können Massen von Menschen diese Entwicklung hinnehmen oder ertragen, selbst wenn sie deren Opfer sind?» Das wird nicht so bleiben. Je länger wir in nicht-nachhaltigen Denkmodellen verharren, desto wahrscheinlicher werden harte gesellschaftliche Brüche auch bei uns. Zumindest in Demokratien könnten wir noch ohne Androhung von Gewalt andere Wege wählen. Zu beantworten wären dafür allerdings sehr grundsätzliche Fragen: «Warum und wozu müssen wir immer weiter wachsen, wenn wir auch miteinander teilen und gerecht umverteilen können?» Nachhaltigkeit lasse sich nur durch eine Wiedereinbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft erreichen.

Natürlich suchte ich im Buch auch zu gegebenem Anlass passende Anmerkungen zur Energiewende. Da seien die Fronten derzeit unübersichtlich, und zwar auf allen Ebenen: «So wie Unternehmen erneuerbare Energien vorantreiben können, so protestieren manche Bürgerinitiativen gegen Windparks.» 2018 habe die von der deutschen Bundesregierung eingesetzte «Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung» ein Ende der Kohleverstromung bis 2038 postuliert. Gewerkschaften wie Umweltorganisationen waren am Aushandeln des Kompromisses beteiligt, was «den sozialen Konflikt» beruhigte, aber der «Umweltlogik» nicht gerecht werden konnte. Lebensstile blieben ausgeklammert. Bei den gängigen Effizienzstrategien gelten nach wie vor alle Bedürfnisse des Menschen als berechtigt. «Man darf weiterhin Auto fahren, aber bitte mit dem Elektroauto.» Fliegen nur mit spritsparenden Flugzeugen. Ob es die gibt oder nicht. Wirtschaftswachstum wird nicht infrage gestellt, im Gegenteil: Die «grünen Technologien» werden als potenzieller Antrieb dafür propagiert. So können sich Krisen trotz Kompromissen weiter verschärfen.

Davide Brocchi: By Disaster or by Design? Transformative Kulturpolitik: Von der multiplen Krise zur systemischen Nachhaltigkeit. Springer, Wiesbaden 2024, 656 Seiten, ca. 41.50 Franken.

Dass sich der um die Jahrtausendwende aus Italien nach Köln gezogene Soziologe auch als Aktivist versteht, ist beim Lesen zu spüren. Auf seiner Website finden sich unzählige Praxisprojekte aus dem – im weitesten Sinne – kulturellen Bereich. Denn dieser ist nach seiner Einschätzung zentral, wenn Transformation gestaltet, also «by Design» gelingen soll. Auch für das Scheitern wären «die gesellschaftlichen und die kulturellen Verhältnisse entscheidender als das Klima», steht auf der letzten Seite seiner Publikation, von der jetzt eine zweite, umfassend überarbeitete Auflage vorliegt. Trotzdem bleibe, was er aus vielen Quellen zusammentrug, nur ein Zwischenergebnis. «Als offenes Werk kann es von jedem Leser und jeder Leserin umgeschrieben oder weitergeschrieben werden.» Ich werde bald mit Spannung beim Abschnitt über «Fortschrittslogik» weiterlesen. Bisher habe Fortschritt sich vorab durch «eine progressive Abwendung der Gesellschaft von der äusseren und inneren Natur» ausgezeichnet, heisst es da, und durch «starke, progressive Zunahme des Naturverbrauchs». Auch beim kommenden Volksentscheid über eine vermehrte Förderung der Biodiversität wird es um solche kulturellen Grundhaltungen gehen. Vielleicht lassen sich dann wieder Einsichten aus dieser Lektüre weitergeben.

Die bescheidenere Schwester

Dass viele schlicht keine Zeit für solche Wälzer haben, weiss ich. Für sie hier noch eine andere Empfehlung. Das neue Jahrbuch der Reihe ‹Die Wirtschaft der Gesellschaft›, herausgeben von zwei kooperierenden Forschungsgemeinschaften, hat nur 173 Seiten! Auch wer darin nicht alles liest, wird ‹Suffizienz› künftig zumindest neu gewichten und in ihr mehr als ‹die kleine Schwester› der politisch omnipräsenten ‹Effizienz› sehen. Sicher ist sie die Bescheidenere der beiden, doch bezüglich Nachhaltigkeit kämen wir mit ihr wahrscheinlich weiter. Leider hat sie es, wie etwa Uta von Winterfeld feststellt, in der kapitalistischen Konsumgesellschaft schwer, da sie den Betrieb «stört, während sich mit energieeffizienten Kühlschränken gute Geschäfte machen lassen». Für die Suffizienzidee günstiger und sicher zukunftstauglicher wäre eine Postwachstumsgesellschaft, deren Richtung sie mit Hinweisen auf viele «E’s» skizziert: Entschleunigung, Entflechtung, Entrümpelung, Entkommerzialisierung, Emanzipation, Eleganz der Einfachheit …

Speziell aktuell und brisant fand ich den Beitrag von Felix Ekardt über «Suffizienz als Governance- und Rechtsproblem». Er geht vom Zeitdruck aus, unter dem die Politik steht, weist auf das Zusammenspiel freiwilliger und unfreiwilliger Verhaltensänderungen hin, die es «ergänzend zu technischen Umweltstrategien» braucht, wenn wir nicht «eine Welt der Klimakriege» riskieren wollen. In dem Zusammenhang beleuchtet er durchaus differenziert auch «den globalen Megatrend Digitalisierung», wo sich die Suffizienz-Frage besonders deutlich stellt. Ein ungeregeltes Vorantreiben digitaler Technologien könnte nämlich den Energieverbrauch in noch kaum geahntem Mass steigern und zugleich die Demokratie weiter gefährden. Also wäre auch «ein neues Freiheitsverständnis» nötig.

Suffizienzpolitik. Möglichkeiten und Grenzen in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Band 9 der Jahrbuch-Reihe ‹Die Wirtschaft der Gesellschaft›. Metropolis, Marburg 2024, 173 Seiten, ca. 34.50 Franken.