Demokratie ist nicht gratis

Von 2002 bis 2015 war ich Mitglied des Zürcher Gemeinderats. Der Rücktritt kam infolge meiner Wahl in den Nationalrat. Ich war also etwas mehr als drei Legislaturen im Zürcher Gemeinderat – im Nationalrat habe ich eben meine dritte Legislatur begonnen. Ich war, als ich zurücktrat, eine der Amtsältesten im Rat, aber die Dauer war keine Ausnahme. Die Erwartung war immer, dass man mindestens zwei, wenn nicht drei Legislaturen im Rat bleibt. Der frühere Präsident und Nationalrat der BDP (später in der Mitte) Martin Landolt sagte mir einst, in der ersten Legislatur lerne man, wie der Laden läuft, in der zweiten könne man anfangen zu gestalten, und ab der dritten Legislatur beginne man zu ernten. Das ist als Faustregel ziemlich treffend. Tatsächlich braucht es eine gewisse Zeit, bis man versteht, wie Politik funktioniert, bis man Beziehungen aufgebaut und Regeln verinnerlicht hat.  Es gibt einige besonders talentierte Politiker:innen, die schon in der ersten Legislatur wirkungsvoll sind. Aber auch die sind oft froh, wenn es noch ein paar alte Häsinnen und Hasen hat, die wissen, wie der Laden läuft.

Im Zürcher Gemeinderat ist mittlerweile die Fluktuation enorm. Das hat verschiedene Gründe, einige durchaus auch selbstverschuldet, aber sie sind auch strukturell. Der Zeitaufwand für das Mandat ist gestiegen und es war schon zu meiner Zeit nicht ohne. Arbeitgeber sind nicht unbedingt offener geworden für Mitarbeitende mit einem Milizamt und die Vereinbarkeit von Politik und Familie ist schwierig. Gerade in einem Gemeinderat, einem Amt, das auch viele Abendtermine mit sich bringt. Denn eine Gemeinderätin ist meist nicht nur im Gemeinderat, sondern in vielen weiteren Ämtern, vielleicht im Quartierverein, im Vorstand der Partei oder einem Kulturinstitut. 

Viele der vielen Rücktritte sind also durchaus verständlich, sie erfolgen in der Regel aus beruflichen, familiären oder gesundheitlichen Gründen. Der eine oder die andere hat vielleicht auch gemerkt, dass ein Parlamentsamt nicht das Richtige ist. Was komplett legitim ist. Ohne jetzt über die heutige Jugend und die angeblich nicht leistungsbereite Generation Z zu klagen, ist es sicher auch so, dass die Menschen etwas weniger generell bereit sind, einfach etwas durchzustehen, weil man das einfach so macht. 

Es ist also verständlich und auch richtig im Einzelnen, im Grossen aber hochproblematisch. Denn die vielen Wechsel sind ein Problem. Für die Parteien, denen viel Know-how und politischer Einfluss entgeht. Und natürlich entsteht daraus auch eine Negativspirale. Diskussionen werden wiederholt, Vorstösse werden wieder eingereicht, auf die man hätte verzichten können, wenn man gewusst hätte, dass man dies schon einmal versucht hat und es aus guten Gründen nicht erfolgreich war. Aber es ist auch ein grundsätzlich demokratisches Problem, weil wir damit schwache Parlamente haben, die weder über die Kapazitäten noch über die Fähigkeiten verfügen, der Exekutive und der Verwaltung auf die Finger zu schauen. Kombiniert mit einer Medienkrise, die sich insbesondere lokal auswirkt, kann das zu einem Grundsatzproblem werden.

Früher hiess es, «all politics is local», es galt, dass die Lokalpolitik am nächsten bei den Menschen ist. Und tatsächlich hat Lokalpolitik eine Relevanz für den Alltag, die kantonale und nationale Politik seltener haben. Ist es nicht der Schulweg, die fehlende Veloroute, die Wohnungssuche, meinetwegen der fehlende Parkplatz genau das, was Menschen umtreibt und wo sie Lösungen erwarten? Gleichzeitig wird die Politik immer nationaler ausgerichtet, in der Themensetzung wie auch beim Personal. 

Als Gemeinderätin und insbesondere als Fraktionspräsidentin war mein Arbeitspensum sicher bei sehr konservativ geschätzten vierzig Prozent Arbeitsaufwand. Ich habe deswegen, auch ohne Familie, immer Teilzeit gearbeitet. Das führt zu den entsprechenden Lücken in der Altersvorsorge. Das Mandat führte auch dazu, dass ich gewisse Stellen weder gesucht, noch gefunden habe oder auch keine längeren Auslandsaufenthalte machen konnte. Das ist alles nicht dramatisch und ich möchte mich auch nicht beklagen. Aber es ist klar, das Milizsystem baut auch auf die Selbstausbeutung einzelner (vermutlich die ganze linke Politik, aber das ist ein anderes Thema).

Es gibt zwei Strategien, Menschen für eine Miliztätigkeit zu gewinnen. Zum Beispiel für ein Vereinspräsidium oder einen Vorstand. Die eine ist zu sagen, es gäbe nicht viel zu tun (Spoiler: Das stimmt fast nie). Die andere ist es, den Leuten reinen Wein einzuschenken. Als Jugendliche war ich bei Amnesty International aktiv. Unser Sektionspräsident sagte damals allen, die sich für eine aktive Mitgliedschaft interessierten, sie müssten damit rechnen, dass dies mindestens einen Tag Aufwand pro Woche bedeute, was 99 Prozent der Interessierten so abschreckte, dass sie es sich anders überlegten. Das halte ich auch nicht für eine richtige Strategie. Insbesondere, wenn es um Leute geht, die in die Politik einsteigen wollen. Das Ziel muss sein, die Leute auch über eine gewisse Zeit hin zu halten und nicht gleich zu verbrennen. Das heisst auch anzuerkennen, dass man nicht immer und ständig verfügbar ist.

Ich habe heute vielleicht etwas mehr Verständnis für Absenzen oder Phasen mit geringerer Aktivität, als ich es vielleicht als Fraktionschefin hatte. Aber ich finde nach wie vor, Gemeinderat oder Gemeinderätin ist eine wichtige Funktion und man sollte sie auch ernst nehmen. Das heisst aber auch, dass man diese politische Tätigkeit etwas normalisieren muss. Dass sie zu einem Job wird und weniger eine Berufung ist. Ein Job heisst aber auch, dass man erscheinen und sich ordentlich vorbereiten muss.  Und vielleicht auch nicht grad im Unterleibchen oder den Badelatschen auftaucht, aber da bin ich vielleicht einfach zu altmodisch.

Das heisst aber auch, dass es eine entsprechende Bezahlung und soziale Absicherung geben soll. Am 9. Februar wird die Stadtzürcher Stimmbevölkerung über die Entschädigungsverordnung des Gemeinderats abstimmen. Diese sieht eine substanzielle Erhöhung vor, sowie eine bessere Absicherung in der zweiten Säule. Die Gemeinderatsentschädigung würde sich jener des Kantonsrats annähern. Dieser hatte vor rund vier Jahren die Entschädigung erhöht. Dies war wohl auch deshalb möglich, weil es keine Volksabstimmung geben soll. Bei der nächsten wird dies anders sein, der Kantonsrat hat auf Bestreben der SVP eine entsprechende Änderung des Kantonsratsgesetzes beschlossen.

Die Chancen für eine Ablehnung an der Urne sind gross, sind doch Politiker:innen grundsätzlich und quer durch alle Lager unbeliebt. Und Lohnerhöhungen für diese wohl sowieso. Man sollte sich dann einfach nicht über die Qualität der Politiker:innen wundern, wenn man für diese nur den Discount-Preis zahlen will.