«Es ist irgendwie paradox, dass wir Wahlkampf betreiben müssen», findet SP-Bezirksrat Matyas Sagi-Kiss. (Bild: Claudia Brandberger/Personality Photography)

«Dass die Arbeit nicht so sichtbar ist, macht mir nichts aus»

Matyas Sagi-Kiss (SP) ist seit 2018 Bezirksrat in Zürich. Damals eigentlich noch gleichzeitig in den Gemeinderat gewählt, hat der gelernte Jurist für Sozialversicherungsrecht und Wirtschaftsrecht auf den Gemeinderat verzichtet, um im Bezirksrat zu wirken. Am 9. Februar will er sich im Rahmen der Gesamterneuerungswahl wiederwählen lassen. Im Gespräch mit Sergio Scagliola erklärt Matyas Sagi-Kiss, was man als Bezirksrat eigentlich macht und wieso es schwierig ist, mit diesem Amt Wahlkampf zu machen.

Der Bezirksrat ist keine Behörde, die extrem in der Öffentlichkeit steht. Deshalb ist es nicht immer einfach, sich ein Bild von diesem Gremium zu machen. Wie kann man sich die Arbeit als Bezirksrat vorstellen? Wie sieht eine gewöhnliche Woche für Sie aus?

Matyas Sagi-Kiss: Grundsätzlich haben wir einfach jede Woche eine gewisse Anzahl Fälle, die wir bearbeiten – von Sozialhilferekursen über Beschwerden gegen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) bis zu Personalrechtsfällen. Nehmen wir etwa einen Personalrekurs: Wenn jemand zum Beispiel von der Stadt entlassen wurde und damit nicht einverstanden ist, kann er:sie das anfechten. All diesen Beschlüssen des Bezirksrates geht ein Zirkulationsantrag voraus, der von unseren hervorragenden juristischen Sekretär:innen in Rücksprache mit uns vorbereitet wird. 

Kann man den Bezirksrat als Kontrollorgan verstehen, vielleicht ähnlich zur Ombudsstelle, nur mit einem Fokus auf konkretes juristisches Prozedere im Zusammenhang mit Behörden?

Nein, das ist einer der weitverbreiteten Irrtümer. Die Beschlüsse des Bezirksrats stehen aber letztlich im Kontext eines juristischen Prozesses. Je nach Art der Beschwerde besteht die Anfechtungsmöglichkeit unserer Entscheide beim Verwaltungsgericht, beim Regierungsrat, beim Obergericht oder anderen Instanzen. Wenn es sich zum Beispiel um eine Aufsichtsbeschwerde handelt, landet man beim Regierungsrat, wenn es um die Lex Koller geht, beim Baurekursgericht, wenn es ein Personal- oder Sozialhilfefall ist, beim kantonalen Verwaltungsgericht. 

Sie sitzen seit sechs Jahren in dieser Behörde – und wollen sich nun wieder wählen lassen. Eigentlich wird diese Wahl meistens als stille Wahl durchgeführt. Weil nun aber eine weitere Person zusätzlich zu den von der interparteilichen Konferenz (IPK) aufgestellten Kandidat:innen in den Bezirksrat will, sind Sie gezwungen, sozusagen Wahlkampf zu betreiben. Warum wollen Sie weiterhin im Bezirksrat amten?

Die Arbeit ist wichtig und auch erfüllend. Natürlich ist man im Handlungsspielraum etwas limitiert – man ist nicht gestalterisch tätig, wie man das als Parlamentarier:in in der Gesetzgebung oder als Exekutivpolitiker:in wäre, aber man kann über seine Erfahrungen, die man mitbringt, im Kleinen etwas bewirken. Zwar sind wir alle an das Gesetz gebunden, aber jeder der fünf Bezirksräte nimmt bei der Rechtsanwendung auch einen eigenen Hintergrund, eine eigene Perspektive mit. Damit gibt es dennoch eine Grundlage für spannende rechtliche Diskussionen.  Wir bewegen uns in der Regel im Rahmen der  Rechtsprechung der oberen Gerichte, aber je nachdem gibt es Spielraum, den man für die betroffenen Menschen und ihre Anliegen nutzen kann und soll. Und das macht Freude. 

Was begeistert einen gelernten Juristen mit Fokus auf Wirtschafts- und Sozialversicherungsrecht?

Ich kann keine konkreten Beispielfälle erwähnen – aber ein generelles Beispiel für etwas, was ich spannend finde, sind Aufsichtsbeschwerden gegen eine beliebige städtische Behörde. Manchmal sind sie gerechtfertigt, manchmal werden sie aus einer grundsätzlichen Unzufriedenheit erhoben. In solchen Fällen laden wir zum Gespräch, hören zu und versuchen, irgendwie zu helfen. Das ist grundsätzlich genugtuend. Wenn man dann merkt, es ist eine Beschwerde erhoben worden, aber es geht gar nicht um das, was in der Beschwerde steht, ist die Lösungsfindung vielleicht schwieriger, aber es gibt auch Einzelfälle, in denen man ganz konkret merkt, mit dem eigenen Wissen etwas Wichtiges beitragen und eine Lösung ausarbeiten zu können. 

Gibt es in der Bezirksratsarbeit auch eine gewisse mediatorische Funktion?

Eigentlich nicht. Es hilft aber sicher für die Akzeptanz von Entscheiden für alle Parteien, wenn diese möglichst verständlich, klar und auch einfühlsam begründet werden. Dazu muss man auch sagen: Das gelingt natürlich selten. Im Grunde genommen macht man sich in dieser Funktion ständig und überall immer irgendwo unbeliebt. Angenommen, man heisst einen Rekurs der Sozialbehörden gut, dann haben zwar die Rekurrent:innen Freude, die Behörden aber weniger. Oder man macht einen verwaltungsrechtlichen Entscheid, zum Beispiel wenn ein Beschluss des Gemeinderats angefochten wird und bei uns landet, je nach Entscheid ist die eine oder die andere Seite des Parlaments unzufrieden. Dann heisst es auch schnell mal von der unzufriedenen Seite, es sei ein politischer Entscheid – und da muss man sich damit zufriedengeben, dass man immer sein Bestes versucht.   

Sich ständig mit einer unzufriedenen Seite he­rumzuschlagen, klingt aber auch anstrengend…

Ja, man muss damit umgehen können. Und sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Aber letztendlich – ich habe es ja bereits erwähnt, dass der Handlungsspielraum klein ist – geht es um die Rechtsprechung und darum, den Gesetzen zu folgen. Und die Gesetze mache ja nicht ich, sondern die Legislative. Aber diese Herausforderungen kennen auch die klassischen Richter:innen. Ich glaube, das muss irgendwie gegeben sein: Entweder man kommt damit klar oder nicht.  

In Ihrer Doppelfunktion als Bezirksrat und als Linker sind Sie mit strukturellen Problematiken konfrontiert – sozusagen als Grundlage ihrer Arbeit. Wie gehen Sie damit um?

Ja, das ist nicht immer einfach. Ich, und das ist meine Ansicht, würde beispielsweise das Kinder- und Erwachsenenschutzrecht anders ausgestalten, wenn ich das könnte. Nur ist das nicht meine Funktion und wenn ich das anpacken wollen würde, müsste ich auf Bundesebene Parlamentarier werden. In dem Rahmen, den ich nutzen kann als Bezirksrat, nutze ich meinen Spielraum – ohne ihn zu über- oder unterschreiten. Letztendlich braucht es den Menschen in dieser Funktion, wenn das nicht der Fall wäre und individuelle Auslegungen der Rechtslage keine Rolle spielen würden, könnte man uns ja einfach durch einen Computer ersetzen, der immer nur über richtig und falsch entscheidet. Aber die Realität ist nun mal nicht so. Bei gleicher Rechtslage gibt es verschiedene Auffassungen – das eine ist die Feststellung des Sachverhalts und das andere die Anwendung der Gesetzgebung auf den Sachverhalt. Jeder Fall ist dabei anders und jeder Mensch wertet in diesem Prozess Dinge anders. Natürlich ist das Resultat deswegen keine Lotterie, aber es gibt Fälle, die interessant und nicht eindeutig einzuordnen sind, und diese Schwierigkeit muss man mögen, sonst verzweifelt man irgendwann. Und wichtig ist, dass man in dieser Funktion immer neutral ist. Man sollte nicht aktivistisch versuchen, die Welt zu retten. Deshalb ist es vielleicht auch schwierig, mit diesem Amt Wahlkampf zu machen – wir machen selten Wahlkampf für dieses Amt und sollten auch keinen machen, aber es gibt zumindest die Gelegenheit, einmal über unsere Arbeit und über unsere Funktion zu sprechen.

Trotzdem würden Sie gerne unter anderem Ihren Namen auf den Wahlzettel geschrieben sehen – wieso?

Es ist ja nicht so, dass ich per Definition auf eine bestimmte Art und Weise entscheide, und man mich deshalb wählen soll. Unsere Fälle werden entschieden, wie sie nach bestem Wissen und Gewissen entschieden werden müssen. Ich erfinde nichts, suche nicht nach Schlupflöchern, kann die Gesetzgebung nicht neu erfinden. Es wäre falsch, wenn ich das würde. Ich kann einfach mein Bestes in diesem Amt geben und mit meinem Hintergrund und meiner Lebenserfahrung etwas dazu beitragen, dass alle Sichtweisen, die in unserer Gesellschaft existieren, auch bei der Rechtsprechung beachtet werden. Darum sind wir ja auch zu fünft im Bezirksrat. Wir alle sind Mitglieder verschiedener Parteien und bringen verschiedene Dinge mit. Das ist ein Weg, wie sichergestellt werden kann, dass möglichst viele Perspektiven in einem Entscheidungsgremium vertreten sind.  Es kann zu Diskussionen kommen, ohne dass man sich findet. Dann entscheidet die Mehrheit, deren Meinung sich im Beschluss des Bezirksrates wiederfindet.  Die Zusammenarbeit ist trotz unterschiedlicher Weltanschauungen und Werthaltungen sehr angenehm. Der Zeitaufwand, den wir für unsere Arbeit auf uns nehmen, geht in den meisten Fällen über unser Pensum hinaus. Weil es uns wichtig ist, unsere Funktion gut wahrzunehmen – Personen und ihren Anträgen gerecht zu werden und sich nicht als politische Spielbälle verwenden zu lassen.

Stresst Sie der Wahlkampf?

Nein. Aber ich finde, man darf nichts für garantiert nehmen. Auch nicht, wenn man, wie ich und meine drei Kolleg:innen, von der IPK empfohlen wird. Darum finde ich es schön, die Gelegenheit zu haben, zu beschreiben wie es ist, als Bezirksrat tätig sein zu dürfen. Ich empfinde das als Riesenprivileg. Ich hoffe, dass man zum Schluss kommt, dass ich und wir alle das gut machen, auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist. Das ist die Schwierigkeit. Man macht sich ständig unbeliebt, obwohl die Gesetzgebung ja durch das Parlament geschieht. Wenn man sich nicht unbeliebt machen will, müsste die Gesetzeslage in gewissen Fällen anders sein. Wir alle leben gut damit, dass wir uns unbeliebt machen. Deshalb ist es auch irgendwie paradox, dass wir gleichzeitig Wahlkampf betreiben müssen. Aber es ist halt so.