Das zweitdringendste Problem der Jugend

Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen scheint sich zu verschlechtern, und die Gesundheitsversorgung kommt nicht hinterher. Eine kantonale Initiative will das ändern. 

 

Anahí Frank

 

Schon am Freitagmittag stehen junge Menschen mit Clipboard und orangenen Flyers am Bellevue und warten auf die ersten Unterschriften. Nur ein paar Stunden zuvor hat Benedikt Schmid, Präsident des Initiativkomitees und Co-Präsident der Jungen Mitte Zürich, die Lancierung der Initiative «Gesunde Jugende Jetzt» bekannt gegeben. «Wir wollen den Kanton in die Pflicht nehmen: Die psychische Gesundheitsversorgung muss für alle zugänglich, präventiv und ausreichend sein», fasste Schmid das Anliegen an der Pressekonferenz zusammen. Es geht also nicht um die körperliche, sondern um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Und der Antrag kommt von jungen Menschen selbst.

 

Dass es Kindern und Jugendlichen psychisch schlecht gehen könnte, fällt vielen Erwachsenen erst auf, wenn sie die Suizidstatistiken sehen. Von den 11- bis 25-Jährigen sind 2017 in der Schweiz 87 junge Menschen an einem Suizid gestorben. Damit ist Suizid die häufigste Todesursache bei Kindern und Jugendlichen. Ein bisschen weniger düster präsentieren sich die Zahlen vielleicht, wenn man sie mit den letzten dreissig Jahren vergleicht: In diesem Zeitraum hat sich die Suizidrate nämlich mehr als halbiert. Doch laut dem nationalen Gesundheitsbericht 2020 ist die Suizidrate nicht primär zurückgegangen, weil es jungen Menschen heute besser geht. Stattdessen sei die Suizidmethode ausschlaggebend: In den letzten zwanzig Jahren sind immer weniger Schusswaffen eingesetzt worden. Insbesondere die Militärreform von 2003 habe einen grossen Effekt gehabt, heisst es im Bericht. 

 

Wenig sichtbare Probleme

Marjana Minger, Präsidentin der Vereinigten Schulpsychologinnen und Schulpsychologen des Kantons Zürich, setzt sich dafür ein, dass nicht bis zum Äussersten gewartet wird. «Der Suizid ist nur die Spitze des Eisbergs. Und auf diese Spitze reagieren die psychiatrischen Dienste relativ gut und rechtzeitig.» Doch der wesentlich grössere Anteil der psychischen Bedürfnisse von Jugendlichen bleibe unversorgt. «Als Schulpsychologin oder -psychologe ist man immer am Brändelöschen. Uns fehlen die Ressourcen für präventive Massnahmen», so Minger. 

 

Wie gross der untere Teil des Eisbergs ist, zeigt ein weiterer Blick in die Statistik. Denn auf einen tödlichen Suizid kommen rund hundert Versuche. Doch wie viele Kinder und Jugendliche insgesamt mit einem psychischen Problem zu kämpfen haben und welche Probleme wie oft vorkommen, ist nur schwer zu beantworten. Denn dazu fehlen dem Bund die Zahlen. Eine unabhängige Umfrage unter 17- bis 22-Jährigen zeigte, dass 2018 rund ein Viertel mit Symptomen einer Depression, Angststörung oder ADHS lebte. Denoch waren laut Gesundheitsbericht 2017 nur ein Zwanzigstel aller 16- bis 25-Jährigen wegen eines psychischen Problems in Behandlung. 

 

Alters- und Generationenfrage

 

«Das psychische Leiden von jungen Menschen ist das dringendste Problem unserer Generation», sagt Benedikt Schmid gegenüber P.S. und schiebt sofort nach. «Nach dem Klimawandel natürlich.» Es sei diese Überzeugung, die ihn ursprünglich dazu motiviert habe, in die Politik einzutreten. «Wie wichtig das Thema psychische Gesundheit ist, weiss ich aus meinem eigenen Umfeld. Eine sonst immer fröhliche Person aus meinem Bekanntenkreis starb an einem Suizid, und ich musste einsehen: Wie sich jemand gibt, ist nicht gleich, wie es jemandem geht», erzählt Schmid. Und auch von seinen KollegInnen habe er immer wieder gehört, welche inneren Leiden sie erdulden würden. 

 

Die Jugend sei zwar an sich eine schwierige Zeit, findet Schmid. Doch seine AltersgenossInnen müssten auch mit anderen Situationen umgehen als vergangene Generationen: «Der Druck auf die heutigen Kinder und Jugendlichen ist gestiegen. An der Uni und auf dem Arbeitsmarkt müssen wir uns mit Menschen aus aller Welt messen, die sozialen Medien gaukeln uns vor, dass alle anderen perfekt sind, und ständig prasseln verängstigende Nachrichten auf uns ein.» Dass der Druck auf die jungen Menschen grösser geworden ist, findet auch Marjana Minger. «Kinder und Jugendliche stehen heute unter grossem Druck in der Schule und bei der Berufswahl.» Zwar gestaltet sich ein generationenübergreifender Vergleich schwierig. Doch im Gesundheitsbericht sieht man, dass psychische Probleme in den letzten Jahrzehnten tendenziell zugenommen haben. Und dann kommt noch die Pandemie dazu: Fast 50 Prozent der Jugendlichen fanden 2021 gemäss einer UNICEF-Studie, dass sich ihre psychische Gesundheit seit Pandemiebeginn verschlechtert hatte. 

 

Mit Prävention gegen Überlastung

 

Diese Verschlechterung – schon vor der Pandemie – war auch in den psychiatrischen Kliniken spürbar. 2017 wurden 37 Prozent mehr Minderjährige hospitalisiert als 2012. Damit wuchsen die Fallzahlen vier- bis fünfmal mehr als die Bevölkerung. «Weil die Kliniken häufig ausgelastet sind, müssen manche Kinder auf die Erwachsenenstation, das traumatisiert sie doch zusätzlich», erzürnt sich Schmid. Doch auch ambulante Therapieplätze sind knapp: «Manche jungen PatientInnen müssen monatelang warten», berichtet Minger. «SchulpsychologInnen versuchen manchmal, die Wartezeiten zu überbrücken. Doch das resultiert in einem Dominoeffekt, da die Wartelisten der SchulpsychologInnen länger werden.» 

 

Ohne Prävention kann das Problem nicht gelöst werden, findet das Initiativkomitee und die unterstützenden Verbände wie «Pro Juventute» und der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband. Expertin Minger schlägt vor: «Die SchulpsychologInnen könnten beispielsweise in die Schulen gehen und über Depressionen sensibilisieren. Gesundheitsfördernde Massnahmen könnten noch lange einen positiven Effekt haben Ein Grossteil aller psychischen Probleme fangen im Jugendalter an.» Prävention könnte sich auch aus Sicht derer lohnen, die sich vor allem für die schwarzen Zahlen interessieren: «Laut einer WHO-Studie zahlt sich Prävention vierfach aus», berichtet Celine Schneider, Ärztin und Mitinitiantin, an der Pressekonferenz. Da bleibt doch vor allem die Frage: Wieso ist das alles nicht früher geschehen?

 

Leiden Sie unter Suizidgedanken oder anderen psychischen Problemen und brauchen Hilfe? Rund um die Uhr erreichbar ist die Nummer 147 für Kinder und die 143 für Erwachsene, auch auf www.147.ch und www.143.ch. Auch auf www.reden-kann-retten.ch finden Sie Hilfe.

 

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