«Das wichtigste ist Zweifel»

Mitte Juni nahm der Schriftsteller Jonas Lüscher den Max Frisch-Preis 2022 in Empfang. Kurz zuvor äusserte er sich an einer gemeinsamen Veranstaltung der «SP Bildung» und der «SP-PS-Section.EU» zum Thema «Populismus und Zeitenwende in Europa». P.S. war an beiden Veranstaltungen dabei. Im Anschluss daran unterhielt sich Hermann Koch mit Jonas Lüscher zum Thema Populismus und EU. Das Interview wurde schriftlich geführt.

 

Hermann Koch

 

Populismus in der EU?

Das Buch «Der Populistische Planet» bildete die Grundlage für eine gemeinsame Veranstaltung der «Stiftung SP Bildung» und der «SP-PS-Section.EU» mit dem Titel: «Populismus und die Zeitenwende in Europa.» Mitherausgeber und -autor des Buches Jonas Lüscher gab im Rosa Luxemburg-Saal im Café Boy eine kurze Einführung zur Entstehung und zum Inhalt des Buches sowie zu den vorläufigen Schlüssen zum Populismus, seinem Einfluss und seinen Auswirkungen auf Europa. Im fast vollen Saal wurde er vom ehemaligen SP-Regierungsrat Markus Notter sowie von Nicole Nickerson, Juristin und Vorstandsmitglied der SP-PS-Section.EU, zum Buchinhalt befragt. Einig war man sich auf dem Podium und im Publikum, dass gegen Populisten mit Fakten aktiv Widerstand geleistet werden muss, nicht geschwiegen werden darf. Nur so können sie an der Machtübernahme gehindert oder von der Macht entfernt werden. Dies habe die EU mit Sanktionen gegen einige Mitgliedsländer in Angriff genommen. Gemeinsamer Widerstand lohne sich, trotz Rückschlägen, längerfristig immer.

 

Wann begann für Sie die «Zeitenwende»?

Jonas Lüscher: Das kann ich klar benennen: 2014 mit der Annexion der Krim. Davor bin ich unausgesprochen davon ausgegangen, dass meine Generation in Europa vermutlich ohne einen Krieg durchs Leben kommt. Mit der Annexion der Krim kam eine überwunden geglaubte Form der brutalen, expansiven Geopolitik zurück. Dieser ganze breitbrüstige Maskulinismus, den Putin ja auch schon immer in seiner Bildsprache benutzt hat. Ende 2014 war ich dann auch noch auf einer vierwöchigen Lesereise in Russland, von Archangelsk, über Moskau bis runter nach Taganrog am Asowschen Meer und bis in den Sibirischen Osten – das war leider sehr ernüchternd.

 

Was zeichnet Populisten aus?

Populisten haben in den unterschiedlichen Ländern je eigene Handschriften, die mit historischen, kulturellen und religiösen Bezügen zu tun haben. Es gibt aber so ein paar Eigenschaften, die die populistische Politik überall auf der Welt vorzuweisen hat. Zum ersten natürlich: Elitenkritik. Es ist immer die Rede von einer angeblichen Elite, die den Bezug zum ‹kleinen› Mann verloren habe. Nur man selbst, behauptet der Populist, nehme die Ängste und Sorgen des Volkes ernst. Damit geht auch immer eine Verachtung der Intellektuellen einher. Das behaupten dann ausgerechnet Milliardäre wie Blocher, Berlusconi und Trump. Dann brauchen Populisten immer ein Wir gegen Die. D.h. innere und äussere Feindbilder. Deswegen sind Populisten immer Nationalisten. Und sie pflegen und befeuern die Ressentiments ihrer Wähler. Und dann natürlich die Verklärung einer glorreichen Vergangenheit, die es so nie gegeben hat. Als Männer noch Männer waren, als man noch sagen durfte, was man denkt, als die Nachbarn noch so ausgesehen haben wie man selbst …

 

Gibt es auch linke Populisten? 

Der Ursprung der Sozialdemokratie ist Selbstbildung, sich aus der Unmündigkeit befreien, seine eigenen Ressentiments überdenken. Vielleicht müsste die Linke vermehrt wieder auf Selbstbildung statt auf reine Ausbildung setzen. Und natürlich ist die Linke, zumindest ihrem Selbstverständnis nach, solidarisch und damit anti-nationalistisch. Wer «linken Populismus» betreibt, verliert doch den Kern des linken Denkens. 

 

An der Veranstaltung im Café Boy zum Thema «Zeitenwende» zitierten Sie aus dem Roman «Die kalte Schulter» des Schriftstellers Markus Werner den Satz, «rasch hätten sich die Stiernackigen vermehrt und für Zuwachs an Unheil gesorgt». Was verstehen sie unter «stiernackig»?

In der deutschen Sprache steht der Büffel oder der Stier – und auch das schöne Wort Stiernackigkeit – für das Dumpfe, Grobe, Brutale, Maskulinistische, also für die Bolsonaros, Trumps, Erdogans, Orbáns, Höckes und Putins dieser Welt.

 

Was kann die EU gegen den Populismus unternehmen?

Mehr als sie bislang getan hat. Sie hätte Orban und Kaczynski schon längst engere Grenzen aufzeigen müssen. Und nur die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip wird die Macht der Populisten brechen. Wenn das der EU gelingt, dann wird sie eine enorme integrative und ausgleichende Kraft entwickeln. Eine Kraft, die sie übrigens auf dem Balkan schon längst unter Beweis stellt. Ohne die Aussicht auf einen EU-Beitritt wären auf dem Balkan die extremen Kräfte vermutlich noch viel stärker.

 

An einer Veranstaltung an der ETH Zürich zeigten Sie sich erschüttert über fehlende Utopien. Was meinten Sie damit?

Die totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts haben uns mit einem neurotischen Verhältnis zur Utopie zurückgelassen. Fantasien eines neuen Menschen – da werden wir mit gutem Grund skeptisch. Aber nun sitzen wir da, mit dem Kapitalismus als einzig denkbare Gesellschaftsform, sehen aber, das der Kapitalismus auch viel Grausamkeit produziert, dass er uns auch nicht besonders glücklich macht und aus ökologischer Per­spektive ins Verderben führt. Wir brauchen also wieder den Mut, über neue Lebensmodelle und Gesellschaftsformen nachzudenken, ohne wieder in die totalitäre Falle zu treten. Vielleicht suchen wir mal nach Utopien, die aus vielen unterschiedlichen kleinen Erzählungen bestehen, die wir zu einem Netz verknüpfen, statt nach der einen grossen Erzählung.

 

Vielfach wird befürchtet, bei einem EU-Beitritt der Schweiz verliere sie die Identität. Sehen Sie das auch so?

Ist Frankreich heute irgendwie weniger französisch als in den 1950ern? Italien weniger italienisch? Natürlich sehen die Fussgängerzonen von Helsinki bis Athen mittlerweile ziemlich gleich aus. Aber das sind eher Effekte des Kapitalismus und der Globalisierung. Und die Behauptung, die Schweiz sei zu klein, um sich in der EU zu behaupten, ist natürlich Blödsinn. Würde die Schweiz heute der EU beitreten, wäre sie in der Grössentabelle der Mitgliedstaaten ungefähr in der Mitte. Länder wie Belgien und Österreich haben gezeigt, dass man auch als kleiner Mitgliedstaat durchaus Einfluss haben kann.

 

Verstehen die Menschen in der EU die aktuelle Haltung der Schweiz?

Ja, die ablehnende Haltung der Schweiz gegenüber der EU macht die Schweiz zum Vorbild aller Rechtspopulisten… Das alleine sollte uns zu denken geben. Applaus kommt immer von der AfD, vom Rassemblement National und der Lega. Die grösseren Medien in Deutschland blicken auch gerade deswegen mit Erstaunen und Befremden auf die Schweiz. Die meisten Bürger interessiert das aber nicht. Die EU hat grössere Probleme als ein Abkommen mit der Schweiz, so die Osterweiterung, der Krieg in der Ukraine, der Balkan, die Migration.

 

In Ihrer Dankesrede zur Preisverleihung erwähnten Sie die derzeit beiden Selbstvernichtungsmöglichkeiten der Menschen durch die Atombomben und den Klimawandel. Eigentlich eine hoffnungslose Situation. Was dagegen tun?

Frisch sagte mal sinngemäss: Die Enttäuschung über den Lauf der Dinge sei das eine, das Aufgeben der Hoffnung aber etwas ganz anderes. An anderer Stelle sagte er aber auch, mit dem Aufruf zur Hoffnung sei die Pflicht zum Widerstand verbunden. Widerständig müssen wir also sein. Und das bedeutet zumindest für mich als Schriftsteller, den Zweifel hochzuhalten, Gewissheiten zu untergraben und immer wieder darauf hinzuweisen, wenn die Sprache missbraucht wird, missbraucht zur Lüge, zur Unterdrückung, um den Status quo und die Machtverhältnisse zu sichern.

 

Wie lautete der letzte Satz Ihrer Dankesrede, mit dem Sie die Hoffnung angesichts der aktuellen Lage nicht aufgeben?

Die Vorstellung, dass irgendwann, irgendw, zwei Menschen sich lieben werden, ist mir Grund genug, auf das Überleben des Menschengeschlechts zu hoffen.

 

Zur Person

Jonas Lüscher wurde 1976 in Schlieren geboren und wuchs in Bern auf. Nach dem Besuch des Lehrerseminars studierte er an der Hochschule für Philosophie in München und schloss 2009 mit dem Magister ab. Nach zwei Jahren am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften (TTN) der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität begann er ab 2011 an der ETH Zürich eine Dissertation auf dem Feld der Philosophie. Als Gastforscher war er neun Monate am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University.

Für sein Buch «Frühling der Barbaren» (2013), die erste Novelle von Jonas Lüscher, befasste er sich mit der Finanzkrise am Beispiel des Fabrikerben Preising und seiner Verirrungen. Das Buch wurde für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert und mit dem Franz-Hessel- sowie mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet. Der Roman «Kraft» (2017) war ein Erfolg und bekam durchwegs begeisterten Zuspruch. Jonas Lüscher wurde im gleichen Jahr mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

2021 zeichnete Jonas Lüscher als Mitherausgeber mit Michael Zichy für das Buch «Der populistische Planet. Berichte aus einer Welt in Aufruhr» (Besprechung im P.S. vom 13.5.22). Im März 2020 erkrankte Lüscher an Covid-19 und lag nach dem Auftreten einer schweren Lungenentzündung sieben Wochen im Koma auf der Intensivstation. Am 19. Juni wurde ihm der Max Frisch-Preis 2022 übergeben.

Jonas Lüscher besitzt neben dem Schweizer- auch den EU-Pass. Er ist Mitglied der SPD in München und Gründungsmitglied der Sektion SP-PS-Section.EU mit Sitz in Solothurn.

 

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