Das vernachlässigte Experiment

Mit dem Koch-Areal verliert Zürich eines seiner Vorzeigebeispiele, wie kooperative Stadtplanung aussehen kann. Und die Art und Weise, wie mit dem Areal umgegangen wird, zeigt, wie linear Stadtplanung heute gedacht wird. 

 

Am Mittwochmorgen hätte das Koch-Areal geräumt werden sollen. Aber aus dem morgendlichen Nebelschleier fährt bis acht Uhr nie eine Armada in weiss-orange zur bekanntesten Besetzung Zürichs auf. Vor dem «blauen Haus», dem ehemaligen Bürogebäude mit der kleinen Holzhütte auf dem Dach, wo ein riesiges Transpi die Hauswand ziert, lachen zwei grüne Gesichter des Stadtrats an der Ecke zur Flüela­strasse den Passanten ins Gesicht: Karin Rykart und Daniel Leupi. Grün ist das neue Blau, steht auf dem Aufkleber. Der Ton ist bitterböse. Aber ist er gerecht? 

 

Eine undankbare Aufgabe

Als linke PolitikerInnen für das Koch-Areal zuständig zu sein, ist eine undankbare Aufgabe – egal wie man die Angelegenheit angeht. Alt-Stadtrat Richard Wolff (AL) musste – obwohl er durchaus Besetzungen geräumt hat – das Dossier zum Koch-Areal auf einen kleinen Skandal für die bürgerlichen Medien hin an Stellvertreter Leupi abgeben, weil sein Sohn angeblich da verkehrte (mehr dazu auf S. 12-13). Nachfolgerin des Sicherheitsdepartements Karin Rykart konnte das Dossier behalten, wohl auch, weil sie mit der Räumung konsequent blieb. Es gab keinen weiteren Aufschub für die BesetzerInnen, keine Möglichkeit zur Verlängerung. Denn nun sollen 368 gemeinnützige Wohnungen entstehen. Baustart war gestern Donnerstag, am 16. Februar. Für die Bürgerlichen ist das wohl Grund zur verhaltenen Freude. Das Koch als ihr persönlicher Schandfleck des Quartiers ist zwar weg, aber deren Wunschszenario ist trotzdem nie eingetreten. Denn die FDP wollte 2017 das Koch-Areal noch an Private verscherbeln und nur einen Bruchteil der Wohnungen gemeinnützig machen. 

 

Die damals lancierte Initiative dazu scheiterte – aber die FDP hat mittlerweile anscheinend einen Sinneswandel durchgemacht. Der Präsident der städtischen FDP Përparim Avdili erklärte zu Beginn der Woche gegenüber dem Zürcher Unterländer: «Nun sollen endlich günstige Wohnungen entstehen.» Plötzlich braucht es also günstigen Wohnraum. Auf Nachfrage meint Avdili, die FDP hätte mit der Initiative 2017 bezwecken wollen, dass die Arealentwicklung rascher vorangeht: «Gut möglich, dass heute bereits Wohnungen bezugsbereit gewesen wären», so Përparim Avdili.

 

Von Wert, Zweck und Gesundheit

Dass sich die Besetzung aber doch so lange halten konnte, hat neben dem ewigen Hin und Her, was da genau hin soll und wie es aussehen könnte und welchen Zweck es haben müsse, einen anderen Grund. Die BewohnerInnen haben das Areal zu einem wertvollen Kulturort gemacht. Und die Politik erkennt den Wert solcher Kulturorte auch. Die kulturelle Zwischennutzung ist im Trend. Nur ist eine Zwischennutzung nicht gleichwertig wie eine Besetzung.

 

Im Oktober haben fünf ForscherInnen der ETH Zürich ein Paper herausgegeben: «Urban strategies for dense and green Zurich» – am Beispiel des Koch-Areals. Sie analysieren darin kooperative Planung als einen Faktor im Erschaffen einer «urbanen Gesundheit». Wie tragen Modelle der kollektiven Koordination zu einer gesunden Städteplanung bei?

 

Top-Down-Politik

Für eine gesunde urbane Entwicklung habe die Schweiz eine gute Grundlage: wirtschaftlichen Wohlstand, ein stabiles politisches System, einen grundsätzlich positiven Umgang mit kultureller Vielfalt und funktionierende Kollaboration in raumplanerischen Strategien zwischen Staat und Privaten trotz gegensätzlichen Interessen. Dennoch wird im Paper erklärt: Die Schweiz hinkt hinterher, wenn es um die Verbesserung öffentlicher Partizipation und sozialer Inklusion geht – der pragmatische Ansatz und die geteilte Verantwortung über die Planung seien für diese Verbesserung nicht ausreichend. 

 

Das Koch-Areal als Untersuchungsgegenstand der ForscherInnen zeigt dabei, wo die soziale Inklusion versagt. Denn ein entscheidender Faktor für eine gesunde, urbane Gesellschaft sei die kooperative Planung in einem Modell, das von unten nach oben strukturiert ist. Die Kritik ist, dass ein solches nicht existiert – respektive, dass solche Modelle, wie sie in Besetzungen existieren, nicht berücksichtigt werden. Kooperative Planung müsse, wenn Zürich diese als Norm sehen will, sich durch die Stärkung tatsächlicher ‹Bottom-Up-Approaches› weiterentwickeln mit einem Fokus auf einem breiten Einbezug der Community. Das Koch-Areal war somit ein Labor, das genau einen solchen Bottom-Up-Ansatz für sich versucht hat. 

 

Damit zurück zum Aufkleber an der Südecke des Koch-Areals. Grün sei das neue Blau. Das Interessante ist, dass auch das ETH-Paper zum Schluss kommt, dass die soziale Exklusion angesichts des globalen Vormarschs des Neoliberalismus erwartbar ist. Heisst: Es geht um Interessensvertretung. Denn was anstelle der Besetzung gebaut wird, ist nötig. Das Pro­blem aus Sicht der «urban health» ist nicht, dass 368 gemeinnützige Wohnungen gebaut werden, sondern wo. Der Fall Koch-Areal zeigt laut dem Paper, dass die neue Nutzung des Areals viele Elemente einer gesunden Stadt beinhaltet: ein grosser Freiraum im Innenhof und eine Aufstockung des Kontingents bezahlbarer Wohnungen. Die Rolle des Areals als Zentrum einer grossen Subkultur werde aber vernachlässigt und die Stimmen der Bevölkerung, die immer wieder den Wert solcher Orte betonen, übertönt. Den 72,7 Prozent, die die Initiative zum Verkauf des Koch-Areals abgelehnt hatten, ging es schliesslich sicher nicht nur um die Privatisierung, sondern auch um diesen Raum, wie er bestand. 

 

Kein Platz für Experimente?

Allerdings erschliesst sich aus dem Paper keine konkrete Idee, wie mit diesen Räumen umgegangen werden soll.  Eine offizielle Zwischennutzung, egal wie sie organisiert ist, ist automatisch Top-Down. Gleichzeitig fehlt es an Arealen, die selbstorganisierten Experimenten Platz bieten – und an einer genug grossen Bewegung, die solche Räume einfordert. 

 

Derweil sind die allermeisten Menschen, die im Koch gewohnt haben, nicht mehr da. Am Vortag der angekündigten Räumung haben einige von ihnen die momentan leerstehende Hardturmbrache besetzt, wo ab Sommer eine Unterkunft für Geflüchtete gebaut werden soll. Wie lange sie bleiben können, ist bislang unklar. Wie es weitergeht, ist aber keine Frage, die sich nur die BesetzerInnen stellen müssen. In den «Strategien Zürich 2035», 2016 herausgegeben vom Stadtrat, steht im Kapitel «Solidarische Gesellschaft» als strategisches Ziel: «Das städtische Handeln orientiert sich an gesellschaftlicher Vielfalt.» Darin wird erklärt, die Stadt erkenne das Potenzial der sozial vielfältigen Gesellschaft und nutze es. Zürich begegne vielfältigen Lebensentwürfen und Traditionen mit Offenheit, Respekt und Toleranz, sodass Menschen Freiräume finden, um ihr Leben nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Vielleicht müsste sich auch die Stadt fragen, ob sie diesem Auftrag an sich selbst nachkommt: Leidet die urbane Gesundheit, wenn solche Facetten der kollektiv-kooperativen Raumplanung, auch wenn sie selbstorganisiert ist, nicht berücksichtigt werden?

 

Nachtrag:  Brand und Krawalle

Nach Eskalationen zwischen BesetzerInnen und der Polizei in der Nacht zuvor hat ein Grossaufgebot der Stapo am Donnerstag frühmorgens das Koch-Areal geräumt.

 

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