«Das Velo als Transportmittel ist eine Klimaschutz-Maschine»

An einer Veranstaltung im Kulturpark Zürich West stand am 14. April ein umkämpftes Thema zur Debatte: «Die Stadt neu denken: Wie schaffen wir in Zürich die Verkehrswende?» Ja, wie schaffen wir das? P.S. hat bei den Veranstalter:innen nachgefragt.

Die meisten Zürcher:innen «ziehen eine klimafreundliche Mobilität dem motorisierten Verkehr vor»: Mit dieser Aussage startete der Hinweis auf eine Veranstaltung vom 14. April im Kulturpark Zürich West. Mit der Annahme des Verkehrsrichtplans und der Veloinitiative, der Aufhebung des historischen Parkplatzkompromisses und mit dem Netto-Null-Ziel 2040 bestehe «eine gute Ausgangslage für eine Verkehrsplanung, die den Menschen, den Klimaschutz und die Umwelt in den Mittelpunkt stellt», schrieben die Veranstalter:innen Klimastadt Zürich, VCS, Umverkehr, Pro Velo und Fussgängerverein. Sie stellten aber auch Fragen in den Raum, namentlich, wie sich ein System erreichen liesse, mit dem sich «das Bedürfnis des Menschen nach sauberer Luft und Ruhe befriedigt, hitzemindernden Bäumen und klimafreundlichen Fortbewegungsmitteln Platz schafft und mehr Freiräume ermöglicht».

Und die Antworten?

Auf der Suche nach Antworten hat P.S. den Referent:innen der Veranstaltung schriftlich
Fragen gestellt. Einige haben jede Frage beantwortet, andere einen Überblick über ihr jeweiliges Referat abgeliefert – der folgende Text ist demnach als Collage zu verstehen, mit bestem Dank an alle!

Die erste Frage lautete, was genau die jeweilige Organisation unter der «Verkehrswende» versteht und woraus sie aus deren Sicht konkret besteht. Silas Hobi, Geschäftsleiter umverkehR, hält dazu fest: «Unter dem Begriff ‹Verkehrswende› verstehen wir einen Paradigmenwechsel in Verkehrsplanung und -politik. Dabei sollen neu der Fuss- und Veloverkehr sowie der öV im Zentrum stehen und nicht mehr das Auto. Das tönt jetzt vielleicht banal oder so, als wäre das schon lange Alltag, das stimmt aber nicht.» In der Vergangenheit seien unsere Städte voll auf das Auto ausgerichtet worden: «Auch wenn seit ein paar Jahren langsam ein Umdenken stattfindet, ist die Verkehrswende noch keine Realität.» Yvonne Ehrensberger, Geschäftsleiterin Pro Velo Kanton Zürich, bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: «In unserer Städte-Vision ist das Velofahren eine soziale Tätigkeit. Auf der einfachen, sicheren und direkten Velo­infrastruktur lässt es sich gemütlich nebeneinander fahren, schwatzen und den Wind in den Haaren spüren. Jeder Mensch ist frei in der Entscheidung, für die eigenen Wege in der Stadt das Velo zu nutzen. Man muss nicht speziell sportlich, mutig oder erfahren sein – Velofahren ist eine Selbstverständlichkeit für alle.»

Zivilgesellschaften und Parteien vorne dabei

Für Markus Knauss, Co-Geschäftsführer VCS Zürich, ist klar, dass Organisationen der Zivilgesellschaft und Parteien «Treiberinnen der Verkehrswende» sind: «Wir haben in den letzten Jahren sehr intensiv an den Grundlagen für eine Verkehrswende gearbeitet. Umsetzen muss es dann aber eine Verwaltung, die auf diese Aufträge in den seltensten Fällen gewartet hat.» SP und Grüne hätten im Gemeinderrat immer neue Ideen eingebracht, schreibt er weiter.

Markus Knauss (Grüne) selber zum Beispiel hat zusammen mit Marco Denoth (SP) und Sven Sobernheim (GLP) das Velovorzugsroutennetz mit seinen 130 Kilometern Länge im kommunalen Richtplan eingebracht. Auch Themen des VCS wie Tempo 30 und das Schleifen des historischen Kompromisses brachte Knauss in den Richtplan, und der Eintrag von 16 neuen Grünflächen mit rund 77 000 m2 im Strassenraum ist gänzlich auf seinem Mist gewachsen. Bei der Veloförderung hingegen sei die Stadtverwaltung bereit gewesen, hält er fest: «Hier ist die Umsetzungsgeschwindigkeit zur Zeit am raschesten, und auch die immer wiederkehrenden Einsprachen werden aufgrund der klaren Rechtslage wohl nur eine Verzögerung von einem bis zwei Jahren bedeuten.»

Beat Locher von Klimastadt Zürich erinnert daran, dass Autos schon CO2-Schleudern seien, «bevor sie herumfahren»: «Bei der Fahrzeugproduktion fallen für einen Mittelklassewagen bis acht Tonnen CO2 an. Für einen Luxus-SUV sind es bis 25 Tonnen und selbst für einen 100 Prozent elektrisch betriebenen Kleinwagen bis elf Tonnen.» Und damit nicht genug: «Die Autos sorgen für Staus, Lärm, Unfälle und Umweltverschmutzung in der Innenstadt. Vor allem die Feinstaubbelastung der Verbrennungsmotoren wirkt sich negativ auf die Gesundheit der Stadtbewohner:innen sowie der Pflanzen- und Tierwelt aus. Das Auto ist der grösste Platzfresser in der Innenstadt und sorgt für mehr Tropennächte – und auch E-Autos verstopfen die Strassen und sind eine Gefahr für Fussgängerinnen und Radfahrer.»

Was brauchts für die Wende?

Damit zur zweiten Frage: Welche Massnahmen sind nötig, um diese Wende zu schaffen? «Es braucht die 15-Minuten-Stadt», schreibt Silas Hobi: «Es geht darum, dass sämtliche alltäglichen Bedürfnisse innerhalb von 15 Minuten zu Fuss oder mit dem Velo befriedigt werden können. Dafür braucht es unter anderem eine Verbesserung der Infrastruktur für Velos, attraktivere öffentliche Räume für die Quartierbevölkerung und die Wiederansiedlung von lokalem Gewerbe.»

Hier kann Yvonne Ehrensberger nahtlos anknüpfen: «Diese Zukunft ist nicht nur eine Utopie, sondern eine zwingende Realität, auf die wir mit Hochdruck hinsteuern müssen. Denn das Velo als Transportmittel ist eine wahre Klimaschutz-Maschine: Es ist ökologisch, leise, platzsparend, günstig, gesundheitsfördernd und sehr flexibel einsetzbar. Wir müssen eine nachhaltige Stadt gestalten, in der bereits Kinder unbeschwert das Velo nutzen können – das sind wir ihnen schuldig.»

Beat Locher erinnert daran, aufgrund der Berichterstattungen über die Klimaerwärmung habe die Reduktion von CO2-Ausstoss in der heutigen Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert erlangt. Die Vorherrschaft des Autos müsse deshalb infrage gestellt werden. Zudem seien die Vorteile, die weniger Autos in der Innenstadt brächten, unbestreitbar: «Bessere Luftqualität, weniger Lärm, mehr Platz für Menschen, die zu Fuss oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, mehr Sicherheit und mehr Klimaschutz sowie Aufwertung des historischen Stadtteils auch bezüglich Touristenattraktion», zählt er auf.

Der öV sei nach wie vor das Rückgrat eines ökologischen Verkehrs in der Stadt, gibt Markus Knauss zu bedenken: 2015 sei das Velo auf einen Anteil am Gesamtverkehr von acht Prozent gekommen, Tendenz: stark wachsend, «aber der öV liegt konstant bei über 40 Prozent». Er verweist auf Erfolgsgeschichten beim öV, bei denen der VCS die Finger im Spiel hatte wie etwa der Durchmesserlinie oder dem Ausbau des Bahnhofs Stadelhofen. Es gebe aber auch «Strassenprojekte, die mit einem öV-Mänteli versehen werden, die man nur als Stadtzerstörung bezeichnen kann», hält er fest. «Der Rosengartentunnel ist so ein Fall, wo die Quartierbevölkerung zusammen mit Parteien und dem VCS die Vorlage bachab geschickt hat.» Auch das geplante Tram Affoltern, «eine Co-Produktion von Regierungsrätin Carmen Walker Späh und Stadtrat Filippo Leutenegger», könnte «ein reines Strassenprojekt werden». 

Wo harzt es (noch)?

Damit sind wir bei der dritten Frage angelangt: Worin bestehen die grössten Hindernisse auf dem Weg zur Verkehrswende, und wie lassen sich diese Hindernisse überwinden? Yvonne Ehrensberger schreibt, bei der Umsetzung der Velostadt habe es in den letzten Jahren gleich an mehreren Stellen geharzt: «Es harzt am Status quo auf der Strasse und in den Köpfen. Und es harzt daran, dass wir eine Veloinfrastruktur im städtischen Kontext nicht einfach ‹dazu addieren› können. Es braucht eine deutliche Umverteilung, eine Priorisierung zugunsten der aktiven und nachhaltigen Mobilität und eine deutliche Einschränkung der Privilegien, die dem Autoverkehr über Jahrzehnte eingeräumt wurden.»

In «Konzepten, Plänen und Lippenbekenntnissen» hätten die Verantwortlichen der Stadt Zürich das bereits erkannt: «Jetzt müssen sie die eigenen Pläne kompromissloser beim Wort nehmen und den Handlungsdruck aufgrund der Klimakrise als Fahrtwind nutzen. Sie müssen das versprochene durchgehende, sichere und attraktive Velonetz endlich umsetzen», hält sie fest.

Silas Hobi ergänzt, aktuell sei der Widerstand gegen den Abbau öffentlicher Parkplätze gross – «obwohl nicht nachvollziehbar ist, warum eine Minderheit der Stadtbevölkerung einen exklusiven Anspruch auf den öffentlichen Raum hat». Ähnlich gross sei der Widerstand gegen die Einführung von Tempo 30 oder Begegnungszonen (Tempo 20): «Dabei können mit dieser einfachen Massnahme über 100 000 Menschen von übermässigem Strassenlärm geschützt werden, was deren Lebensqualität deutlich erhöht und die Allgemeinheit von Gesundheitskosten entlastet. Dagegen helfen nur gute Argumente, positive Beispiele und Hartnäckigkeit», ist er überzeugt. Markus Knauss ortet bei Tempo 30 ein «Systemversagen der institutionalisierten Politik». Dem VCS reiche es nicht, «dass irgendwelche Umweltziele in Richtplänen oder in der Gemeindeordnung entsorgt werden, also reine Absichtserklärungen sind. Dem VCS geht es darum, dass diese Ziele in vernünftiger Frist auch auf der Strasse stattfinden», stellt er klar: «Seit 1985 gibt es den Auftrag des Bundesrates, die Bevölkerung vor übermäs­sigem Strassenverkehrslärm zu schützen. Der Stadtrat von Zürich ist sehr, sehr, sehr besorgt über die rund 140 000 Lärmbetroffenen. Was aber hat der Stadtrat zwischen 2011 und 2021 für Tempo 30 getan? Gar nichts!»

Rund 20 Einsprachen des VCS in dieser Zeit habe der Stadtrat abgewiesen: «Wir haben dann zusammen mit den Gerichten dafür gesorgt, dass jegliche Stras­senbautätigkeit in der Stadt entlang von lärmigen Hauptachsen zum Erliegen gekommen wäre. Und mit dem kommunalen Richtplan sorgten wir dafür, dass Tempo 30 behördenverbindlich ist.» Es gebe zwar einen ambitionierten Geschwindigkeitsplan, fügt er an, «aber schon das nächste Umsetzungskonzept sieht lediglich bei 30 von 270 Strassenabschnitten Tempo 30 in den nächsten vier Jahren vor». 

Und es dauert…

Die vierte Frage lautet folgerichtig, wie denn der zeitliche Fahrplan aussieht, beziehungsweise: wie kurz- oder langfristig lässt sich die Verkehrswende schaffen? Die Klimawissenschaft spreche klare Worte, bis 2030 müssten wir die Emissionen so weit wie möglich senken, sagt Silas Hobi: «Im Verkehrsbereich ist das einfach möglich. Tram, Velo, S-Bahn sind vorhandene und lang bewährte klimafreundliche Konzepte. Mit dem E-Bike beziehungsweise dem E-Cargo-Bike gibt es ausserdem neu einen echten Game-Changer. Gemäss dem Richtplan Verkehr, den die Zürcher Bevölkerung mit 57 Prozent Ja-Stimmen angenommen hat, muss im Verkehrsbereich bis 2030 Netto-Null erreicht werden.» Wir hätten also noch gut sieben Jahre Zeit, um den Restanteil des Autoverkehrs von heute rund 25 Prozent auf zirka fünf bis zehn Prozent am Gesamtverkehr zu reduzieren, fügt er an.

Yvonne Ehrensberger erinnert ebenfalls daran, dass die Stadt den entsprechenden Auftrag schon längst erhalten habe: «Auch wenn der vermeintliche Widerstand (Aufschrei bei Parkplatz-Abbau! Angst vor dem Kanton! Einsprachen!) laut ist, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass diese Stimmen nicht die Mehrheit sind.» 73,6 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung hätten den Bundesbeschluss Velo angenommen: «Das Veloweggesetz verpflichtet den Kanton und die Städte zur Umsetzung ihrer Velonetze bis 2042 – und die Stadt will ihre eigenen Ziele sogar bis 2030 realisieren. Sieben Jahre sind wenig, einiges ist angestossen, wir müssen aber zwingend einen Gang höher schalten, um hier nicht vom Besenwagen aufgelesen zu werden.»

Und es braucht politische Mehrheiten, die gar nicht so einfach zu schaffen seien, fügt Markus Knauss an: «Wir dürfen nicht vergessen, dass Zürich politisch mitten in einem Kanton liegt, dem die Verkehrswende komplett schnurz ist. Deshalb ist der VCS immer wieder gezwungen, Kampagnen zu führen, die diese Verkehrswende bringen.» Die bereits erwähnte gegen den Rosengartentunnel habe der VCS «weitgehend getragen und gestaltet». Und Tempo 30 wolle die SVP mit ihren «potenten Sponsoren von der Goldküste» in der Stadt Zürich sabotieren, «bevor es überhaupt begonnen hat», warnt er: «Auch im Kanton haben SVP und FDP die Initiativen gegen Tempo 30 schon eingereicht.» 

Von neuer Initiative träumen

Doch so trist soll weder die Verkehrswende noch dieser Artikel enden, deshalb zur fünften Frage: Wie sähe die Verkehrswende in einer idealen Welt aus, und was muss zwingend bis in fünf Jahren realisiert sein? Hier sieht Silas Hobi klar: «Die meisten Quartierstrassen sehen aus wie die Binzallee – es hat Bäume und Platz zum Spielen für die Kinder. Tempo 30 ist Standard, aber die meisten Quartierstrassen sind Begegnungszonen mit Tempo 20. Es gibt ein sicheres und zusammenhängendes Velowegnetz, der öV steckt nie im Stau, und die Tramlinien ermöglichen auch Tangentialverbindungen. Bis in fünf Jahren soll die Stadt Zürich zehn autoarme Quartierblocks umsetzen, und die Hälfte der autofreien Velovorzugsrouten sind Realität.

Und Beat Locher hat gar einen Traum: «Wir lancieren eine Volksinitiative für eine autofreie Innenstadt!» Zur Begründung fügt er an, es gebe keinen verbindlichen Absenkpfad für CO2 beim Verkehr auf lokaler Ebene: «Mit der Lancierung einer Volksinitiative können wir eine öffentliche Diskussion zum Thema Verkehr und Klima lancieren und die Politik und Verwaltung zum Handeln zwingen. In Zürich haben wir mit der Annahme des Richtplanes und der Aufhebung des historischen Parkplatzkompromisses gute Voraussetzungen, eine autofreie Innenstadt zu verwirklichen: Die Innenstadt ist mit dem öffentlichen Verkehr gut erschlossen, Parkhäuser gibt es genug (Urania, Opernhaus, etc.), und die meisten Strassen in der Innenstadt sind kommunale Strassen unter der Hoheit der Stadt Zürich.» Zudem sei der Trend zu autofreien Städten in Europa auf dem Vormarsch, fügt er an, und vor allem: «Das Klima zwingt uns zum Handeln.» Da kann ja nichts mehr schiefgehen…

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