Genossenschaftsurgestein Felix Woodtli ist mit dem Rössli erwachsen geworden – und das Rössli mit ihm. (Bild: Tim Haag)

«Das Rössli musste erwachsen werden»

Die Geschichte des Rössli Stäfa zeigt, wie genossenschaftliche Selbstverwaltung funktioniert – und wo ihre Grenzen liegen. Im Gespräch mit Tim Haag erzählt Genossenschafts-Urgestein Felix Woodtli, wie Utopie an die Realität stiess und welche Veränderungen nötig waren, um das Rössli über 50 Jahre hinweg zu einem Ort der Gemeinschaft und Kultur zu machen.

Vor 50 Jahren entstand an der Goldküste, im Rössli Stäfa, ein linkes Kulturzentrum. Wie kam es dazu?

Felix Woodtli: Ursprünglich war es eher eine WG als ein Kulturzentrum. 1974 kamen die ersten zehn Bewohner:innen mit Kind und Kegel nach Stäfa, weil die Tochter der damaligen Wirtsleute, die Mitglied der PdA war, ihnen die ungenutzten Räumlichkeiten des ehemaligen Hotel Rössli zur Verfügung stellte. Sie lebten nicht nur zusammen, sondern arbeiteten auch gemeinsam. Pro Kopf gab es einen Genossenschaftsanteil im Wert von null Franken. Es war ein antikapitalistisches Modell, in dem Jede:r, die/der mitarbeitete, auch mitbestimmen durfte. Die Utopie der Selbstverwaltung war von der Idee geprägt, dass man sich durch kollektives Arbeiten und Leben vom Kapitalismus abgrenzen konnte. Aber schon in den ersten Jahren zeigte sich, dass diese Utopie schwer umzusetzen war.

Wo haperte es?

Einerseits schon bei der Realität des Zusammenlebens: Putzpläne, Meinungsverschiedenheiten, die Gefahr, dass einem kurz nach dem Einzug die Freundin ausgespannt wurde – und es war schwer, alle Bewohner:innen gleichberechtigt einzubinden, wenn einige mehr Verantwortung übernahmen als andere. Kurz gesagt: An der Diskrepanz zwischen idealistischen Vorstellungen und der Realität. Das führte dazu, dass die Mitgliederfluktuation in der Rössli-Genossenschaft schon von Anfang an gross war.

Das Rössli war ja nicht immer nur ein kultureller Treffpunkt. Wie reagierte die lokale Bevölkerung in den Anfangsjahren auf das «linke Kollektiv»?

In den Anfangsjahren war das Rössli für viele in der konservativen Gemeinde Stäfa ein Dorn im Auge. Es gab viele Vorurteile gegen die Bewohner:innen als «Hippie-Kommune». Viel Mist wurde dem Rössli angedichtet, für die Armee wurde als Übungsanlage sogar die Planung eines Staatsstreichs angenommen. Wer im Rössli verkehrte, wurde zum Teil fichiert. Aber mit der Zeit hat sich das geändert. Mittlerweile ist das Rössli gut in die Gemeinde integriert, national wurde Stäfa wegen dem Rössli bekannt, die Rössli-Genossenschaft expandierte schnell: Mit dem Kulturkarussell organisierten die Bewohner:innen kulturelle Anlässe im Saal, 1980 wurde die Liegenschaft gekauft. 

Wie konnte sich eine Gruppe Studierender ein Haus an der Goldküste leisten?

Um die Liegenschaft zu kaufen und das Rössli finanziell abzusichern, gründeten wir die Hausgenossenschaft als übergeordnetes Gebilde. Wer Haus-Genossenschafter:in werden wollte, musste 30 Stunden pro Woche im Gastro-Kollektiv Rössli arbeiten. Im sogenannten «Haber-Club» wurde, wie der Name erahnen lässt, das Geld von Unterstützer:innen gesammelt, ohne ihnen aber ein Mitspracherecht in der Genossenschaft geben zu müssen. Der Kanton stellte uns strenge Auflagen, was die Hygiene und Sicherheit des alten Gebäudes anging. Der Kauf und die notwendigen Renovierungen waren teuer, und es war klar, dass wir ohne Kapital nicht weitermachen konnten. Es war ein Balanceakt: Einerseits brauchten wir dringend 3,5 Millionen Franken, andererseits wollten wir unsere Selbstverwaltung nicht gefährden. 

Der Balanceakt ging lange gut – bis 2002 der Restaurantbetrieb in Schräglage geriet und Konkurs anmelden musste. Und dann?

Dann wurde klar, dass diese Form der Selbstverwaltung auf der Ebene des Hausbesitzes nicht mehr tragfähig war. In einem breiten, öffentlichen Prozess schwebte die Idee im Raum, die Hausgenossenschaft-Rössli in eine Stiftung zu verwandeln, dies war für mich aber nicht akzeptabel. Ich hatte Angst, dass die Dynamik und das kreative Chaos des Kollektivs verloren gehen würde. Eine Stiftung hätte bedeutet, dass ein Stiftungsrat, der keinen oder wenig Bezug zum Kollektivgedanken hat, die Entscheidungen fällt. Damit wäre die Seele des Rössli, in dem junge, unerfahrene Menschen die Möglichkeit haben, zu gestalten und mitzubestimmen, verloren gegangen. Stattdessen entstand aus der Hausgenossenschaft eine Publikumsgenossenschaft.

Und aus der Beiz-Genossenschaft eine GmbH. Wieso?

Beim Konkurs standen die Gläubiger:innen einer selbstverwalteten Genossenschaft gegenüber, die für die Schäden mit ihrem Eigenkapital haftete. Alle Genoss:innen hatten den gleichen Anteil am Eigentum, kapitalneutral, nämlich Franken Null. Die Gläubiger:innen, darunter auch die anderen Kollektive im Haus, hatten das Nachsehen. Diese antikapitalistische, clevere Lösung, die es einst allen auch ohne Geld ermöglichte, ihren «Arbeitsplatz» mitzubesitzen, hat sich für die gelackmeierten Lieferanten und die Hausgenossenschaft als fatal erwiesen. Nachdem das Handelsregisteramt bei der Wahl der Nachmieterin der konkursiten Beiz-Genossenschaft diese Geschäftsform nicht mehr akzeptierte, wurde aus der Beiz eine GmbH. Diese wirtet seit 23 Jahren erfolgreich, seit 13 Jahren leiten Madlaina Weber und Simon Senn die Rössli-Beiz

Wollten – oder konnten – sich auch die Genossenschafter:innen an diese Realität anpassen?

Nicht alle. Es gab Konflikte, weil nicht jede:r bereit war, die Veränderungen zu akzeptieren. Einige ‹Fundis› waren der Meinung, dass die ursprüngliche Idee der Kommune verraten wurde.

Sie waren ja auch eine treibende Kraft in der Umstrukturierung.

Ich habe aber nicht den Grundgedanken verraten, sondern höchstens die Lebenslüge aufgezeigt, die einige Schlafmützen im Kollektiv sich vorgegaukelt haben. Sie sind ja nicht geblieben, sie haben ja die Utopie nicht gelebt. Die 68er-Menschen, die damals protestiert haben, sind heute zum Teil freisinnige Parlamentarier, Unternehmenschefs oder Millionäre geworden. Das zeigt, dass sich viele von den ursprünglichen Idealen verabschieden mussten. Viele aber haben neue Kollektive gegründet. Aber das ist auch ein Teil des Erwachsenwerdens – zu erkennen, dass Ideale oft nicht so umsetzbar sind, wie man es sich damals vorgestellt hat. Die Zeiten, in denen eine Genossenschaft ohne Kapital existieren konnte, sind vorbei. Das Rössli musste erwachsen werden. Auch wegen der rechtlichen Rahmenbedingungen: Aufgrund des neuen Bankengesetzes dürfen wir keine Darlehen mehr in die Genossenschaft einbinden, das Eigenkapital muss heute Sicherheiten decken. Viele der Genossenschaften, die ich mitgegründet habe, existieren heute nicht mehr, weil sie nicht genügend Eigenkapital hatten, um zu überleben. Und ich wusste, dass wir uns weiterentwickeln, einen Schritt voraus sein mussten – mit Erfolg: Das Rössli war und ist pumpenvoll, ob im Restaurant oder bei Veranstaltungen im Saal.

Ist die ursprüngliche Vision der Selbstverwaltung mit den neuen Strukturen gestorben?

Die Dachgenossenschaft, die Genossenschaft Kulturhaus Rössli Stäfa, existiert weiterhin und verwaltet das Gebäude. Sie stellt die Infrastruktur für das Restaurant und das Kulturkarussell zur Verfügung. Diese Organisationsform gibt uns die Stabilität, die wir brauchen, um wirtschaftlich zu überleben, aber die Grundidee der Gemeinschaft und des gemeinschaftlichen Eigentums bleibt bestehen. Es gibt immer noch die Überzeugung, dass das Rössli mehr ist als nur ein Restaurant. Es ist ein Ort, an dem alternative Wirtschaftsformen möglich sind, auch wenn sie sich den realen Bedingungen anpassen müssen. Die Selbstverwaltung in ihrer ursprünglichen Form mag nicht mehr existieren, aber die Prinzipien von Mitbestimmung, Gleichheit und Transparenz sind weiterhin präsent. Aus Kollektiven die im Rössli geboren wurden sind attraktive, konventionelle Mieter:innen entstanden. Der Verein Kulturkarussell, Pastiamo, die Genossenschaft Cavino, die Impuls Tanzwerkstatt, viele unabhängige Kulturgrüppchen füllen das Haus. Die Publikumsgenossenschaft garantiert den Fortbestand, die Nutzer:innen des Rössli engagieren sich für ihr Stäfner Juwel  

Was bedeutet das 50-jährige Jubiläum des Rössli für Sie persönlich?

Das 50-jährige Jubiläum ist für mich ein Meilenstein, der zeigt, dass das Rössli trotz aller Veränderungen und Herausforderungen seinen Kern bewahrt hat. Es ist schön zu sehen, wie ein Projekt, das viele Höhen und Tiefen erlebt hat, ein fester Bestandteil der Gemeinde ist. Es zeigt, dass man sich zwar von bestimmten Idealen verabschieden muss, um in der Realität zu bestehen, aber gleichzeitig neue Wege finden kann, diese Ideale anders zu leben. Das Rössli hat sich immer wieder neu erfunden und bleibt trotzdem ein Ort der Gemeinschaft und der Kultur, der für alle offen ist. 

50 Jahre Rössli

Das Kulturhaus Rössli in Stäfa feiert – zusammen mit dem Kulturkarussell – sein 50-jähriges Jubiläum. Seit 1974 ist das Rössli ein Ort der Begegnung, der Kultur und der Gemeinschaft. Das Huusfäscht von 15.00 Uhr bis 2.00 Uhr mit Hausführungen, Speis & Trank, Kinderschminken, Siebdruck und einer Plakatausstellung läutet das Jubiläumsjahr ein. Neben dem Programm aus Konzerten, Theater und kulturellen Veranstaltungen steht dieses Jahr ein besonderes Projekt im Mittelpunkt: Die barrierefreie Erschliessung des Hauses. Mit einem Crowdfunding sammelt die Genossenschaft Geld für den Einbau eines Treppenlifts. Dieser soll Menschen mit eingeschränkter Mobilität den Zugang zur Beiz und zum Veranstaltungssaal ermöglichen. Spender:innen können das Projekt direkt auf der Website oder per Twint unterstützen. Weitere Infos: roesslistaefa.ch