«Das Publikum bei Live-Auftritten lässt sich nicht online simulieren»

Am 16. März 2020 erklärte der Bundesrat die «ausserordentliche Lage», und der erste Lockdown war Tatsache. Kulturelle Veranstaltungen waren ab sofort gestrichen, Pflegepersonal hingegen sehr gefragt. Marcel von Arx aus Winterthur ist Balletttänzer, Gesangspädagoge, Chorleiter – und Pflegefachmann HF. Wie er dieses Jahr erlebt hat, schildert er im Gespräch mit Nicole Soland.

 

Wie haben Sie den Tag vor ziemlich genau einem Jahr in Erinnerung, als der Bundesrat die Schliessung von Läden, Restaurants und Kulturbetrieben verkündete?

Marcel von Arx: Es war extrem: Ich hatte im Februar 2020 ein neues Tanz- und Gesangsstudio in Winterthur eröffnet, in einem grossen Raum, den ich eben erst gemietet hatte. Ich hatte mir gleichzeitig einen grossen Flügel angeschafft, Platz und Kapazität für neue SchülerInnen waren vorhanden, ich leitete Choreographieproben und unterrichtete GesangsschülerInnen, kurz: es herrschte Aufbruchstimmung. Und dann, zwei Monate später, war von einem Tag auf den anderen weder Tanzen noch Singen möglich. Der Raum kostete 800 Franken Miete pro Monat, ich musste ihn sofort aufgeben. Ich habe zwar nach wie vor einen Teil eines Studios in Zürich gemietet, doch ohne die zusätzlichen Einnahmen am neuen Ort, mit denen ich gerechnet hatte, reicht das Geld nicht, um beides zu halten. Auch den Flügel musste ich abstossen, um mir einen kleineren für in die Wohnung zu kaufen.

 

Vielleicht ergibt sich ja eine neue Möglichkeit für ein eigenes Studio?

Der Raum, den ich für zwei Monate nutzte, ist definitiv weg. Und ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie ist immer noch offen, wann und in welcher Form ich wieder mehr als eine Person aufs Mal unterrichten kann. Ich weiss auch nicht, ob beziehungsweise wann es wieder möglich sein wird, einen Chor zu leiten. Beim gemeinsamen Singen wie auch beim Tanzen ist Abstandhalten schwierig: Man muss einander anschauen, einander nahe sein können.

 

Das dürfte in Zukunft aber alles wieder möglich sein, oder?

Ich hoffe es. Eine Zeitlang war es etwas besser, nach dem ersten Lockdown wurden die Einschränkungen gelockert, und ich durfte wieder mehrere SchülerInnen gleichzeitig unterrichten. Jede und jeder bekam ein eigenes Feld auf den Boden markiert und durfte sich nur innerhalb dessen Grenzen bewegen. Zudem durften sich in einem Raum, in dem ich normalerweise zwölf SchülerInnen unterrichte, nur deren fünf aufhalten. Ich war froh, überhaupt wieder arbeiten zu dürfen – doch mit der Hälfte der Einnahmen rentiert es einfach nicht. In Uster, wo ich an einer Bewegungsschule unterrichte, mussten wir für eine kurze Zeit nur die halbe Miete bezahlen, aber unterdessen ist längst wieder der volle Betrag fällig. Zudem war die Stimmung seltsam: Ich musste ständig unterbrechen – um die SchülerInnern zu ermahnen, ihr Feld nicht zu verlassen, aber auch, um zu lüften. Ich habe mich eingeengt gefühlt, und die Reduktion auf enge Grenzen widerspricht auch dem Wesen des Tanzens. Seit Mitte Dezember darf ich wieder gar nicht mehr in geschlossenen Räumen unterrichten.

 

Sie wünschen sich demnach eine Öffnung per 22. März?

Die Hoffnung auf eine baldige Öffnung habe ich natürlich schon, obwohl es wegen der Mutationen zurzeit wieder schlechter aussieht. Was mir vor allem Sorgen macht, ist, dass ich nicht weiss, wie es weitergeht. Das lähmt einen. Vor einem Jahr war ich ziemlich lange damit beschäftigt, Termine zu verschieben oder abzusagen und Verträge neu auszuhandeln. Unterdessen ist es obsolet geworden, Pläne zu machen.

 

Immerhin gab und gibt es Unterstützungsbeiträge für freischaffende Künstlerinnen und Musiker: Wie gut hat das Verteilen dieser Gelder aus Ihrer Sicht funktioniert?

Ich habe keine Unterstützungsgelder bekommen – aus einem einfachen Grund: Ich habe immer auch in der Pflege gearbeitet und gelte somit als Angestellter. Ich hätte mich längst als freischaffender Tänzer und Sänger anmelden können, habe das aber nie gemacht, und deshalb habe ich nun auch kein Anrecht auf Gelder zur Abfederung meines Einnahmenausfalls.

 

So ein Pech …

Ich sehe es auch als eine Form von Solidarität mit anderen KünstlerInnen, denen es viel schlechter geht als mir. Als Pflegefachmann habe ich nach wie vor Arbeit, gar mehr als früher. Und die staatliche Unterstützung, die mir entgeht, kommt ja anderen zugute: Es hat mich aufgeschreckt, als mir in Gesprächen aufging, wie viele meiner Kolleginnen und Freunde in ein Loch gefallen sind und nicht wussten, wovon sie leben würden und was sie jetzt anfangen sollten mit ihrer Zeit – und das, obwohl sie in Eigenregie und -disziplin weiter trainiert haben.

 

Das ist doch besser als gar nichts?

Dieses Trainig ist naturgemäss begrenzt, es mangelt an Inputs von Kolleginnen und Schülern. KünstlerInnen, die nicht auftreten dürfen, erleben zudem von einem Tag auf den anderen keine Wertschätzung ihrer Arbeit mehr. Ich habe zum Glück kein Problem damit, die nötige Disziplin aufzubringen: Ich nehme mir jeden Morgen Zeit und starte mit Tanztraining und Gesangsübungen in den Tag. Doch auch ich finde es frustrierend, immer allein zu üben: Wenn man gemeinsam trainiert, mit dem Chor übt oder eine Vorstellung gibt, spürt man, wie die eigene Darbietung beim Gegenüber, bei den SängerInnen oder beim Publikum ankommt. Man merkt, was funktioniert und was weniger, man kommt auf neue Ideen.

 

Als Pflegefachmann hingegen haben Sie heute mehr Arbeit als vor der Pandemie: Wieviel mehr?

Ich arbeite im Pflegeheim St. Urban in Winterthur mit demenzkranken Menschen. Wegen den Präventions- und Isolationsmassnahmen braucht es mehr Personal: Kehrt jemand beispielsweise aus dem Spital zurück, muss er oder sie in Isolation, was einen immensen Aufwand bedeutet. Ich war früher zu 50 Prozent angestellt, jetzt sind es 80 Prozent. Ich leide keine wirtschaftliche Not – auch so gesehen ist es gerecht, wenn ich nichts aus den Unterstützungstöpfen bekomme. Ich erhalte pünktlich meinen Lohn, während viele meiner KünstlerkollegInnen lange warteten, bis nur schon klar war, ob sie überhaupt Unterstützungsgelder bekommen würden und, wenn ja, welchen Betrag. Einige erzählten mir, auf ihrem Konto sei noch nie so regelmässig Geld eingegangen wie während der Zeit, als sie Unterstützungsgelder erhielten, während andere bei ihren Eltern, Freundinnen und Bekannten anfragen mussten, ob ihnen jemand kurzfristig aushelfen könne.

 

Sie sprechen von Solidarität und Gerechtigkeit und davon, dass Sie keine wirtschaftliche Not leiden: Wie sieht die andere Seite der Medaille aus?

Die Situation ist für mich trotz allem schwierig. Ich habe bisher bewusst als Pflegefachmann, aber auch als Bewegungslehrer, Gesangslehrer und Chorleiter gearbeitet. Jetzt werde ich auf einen Beruf reduziert, und die selbst gewählte Diversität leidet. Aber ich bin froh, dass ich Erfahrungen aus meinem anderen Berufsfeld in die Pflege einfliessen lassen kann. Ich habe zum Beispiel mit DemenzpatientInnen gesungen, wenn sie Angst hatten, und festgestellt, dass die Musik sie immer wieder beruhigt. Auch Bewegung und Berührung sind sehr wichtig, nicht nur im Tanz, sondern auch in der Pflege. Umgekehrt kann ich die Führungsqualitäten, die ich in der Pflege entwickelt habe, gebrauchen, wenn es um Klarheit und Sicherheit des Ausdrucks geht, ob beim Tanzen oder beim Singen. Auch zur Haltung bekomme ich einen anderen Zugang. Es geht dabei nicht nur um Technik oder um den künstlerischen Ausdruck: Wer Menschen pflegt, die Schmerzen haben, kann Schmerz besser künstlerisch ausdrücken als jemand, der sich diese Schmerzen nur vorstellt.

 

Als Pflegefachmann wurden Sie mit dem Lockdown plötzlich «systemrelevant», als Künstler hingegen «irrelevant»: Wie haben Sie diesen Spagat erlebt und gemeistert?

Es war grotesk: Im Austausch mit meinen KünstlerkollegInnen nahm ich wahr, wie mutlos viele wurden, welche Angst sie hatten – und wie abgewertet sie sich fühlten, wenn sie überall nur noch hörten und lasen, dass die Pflege systemrelevant sei und dass man unbedingt die Beizen rasch öffnen müsse, weil sonst viele für immer geschlossen würden. Von ihren Existenzängsten jedoch war in der Öffentlichkeit wenig die Rede, davon hörte man nichts in den Nachrichten. Besonders beängstigend fand und finde ich den Gedanken, was passieren würde, wenn sich die Kultur nicht irgendwann wieder aufrappeln kann. Was passiert mit den Menschen, für die das Theater oder die Bühne die Welt bedeuten? Was passiert mit ihrem Publikum? Was geschieht mit einer Gesellschaft, wenn der Spiegel der Kultur verloren geht?

 

Und wie hat sich das «systemrelevant sein» angefühlt?

Als Pflegefachmann wurde ich tatsächlich mit offenen Armen empfangen. Unterdessen hat sich das wieder gelegt. Ich habe meine KünstlerkollegInnen trotzdem ermutigt, sich ein zweites Standbein zu suchen. Dies, obwohl ich gut verstehen kann, dass manche KünstlerInnen kein zweites Standbein haben und sich auch keines erarbeiten wollen oder können: Wer findet, ein Aushilfsjob für den Rest des Lebens sei nichts für einen Gesangspädagogen, dem sollte man keinen Strick da­raus drehen. Umgekehrt ist es keine Schande, mit Zeitungsaustragen oder Putzen über die Runden kommen zu müssen. Klar ist für mich, dass KünstlerInnen früher oder später Alternativen brauchen, die über Hilfsjobs hinausgehen. Das hat Corona uns gelehrt.

 

Nach Corona wird es also noch schwieriger sein, als KünstlerIn zu leben?

Musizieren via Zoom ist nur sehr begrenzt möglich, und vor allem: Wer zahlt für ein Zoom-Konzert? Wofür sich Online-Treffen anbieten, ist die Bewältigung des Alltags: Wer Mühe hat, am Morgen aus dem Bett zu kommen und sich aus eigenem Antrieb zum Gesangstraining aufzuraffen, kann sich jeden Morgen um neun Uhr via Einsingen-um-9.ch auf Youtube mit anderen SängerInnen treffen. Die Idee des täglichen Live-Einsingens hatten die Sängerinnen Barbara Böhi und Julia Schiwowa, als wegen Corona plötzlich keine Chorproben mehr erlaubt waren. Man sieht den Chorleiter oder die Chorleiterin am Bildschirm, man kann die Noten herunterladen und im Chat die Nachrichten der anderen lesen oder selbst etwas schreiben, und natürlich kann man mitsingen. Es ist eine super Sache.

 

Wie optimistisch beziehungsweise pessimistisch blicken Sie nach einem Jahr Pandemie in die Zukunft?

Ich weiss zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, ob ich je wieder grosse Chöre leiten kann: Chorgesang, aber auch Operetten oder Live-Auftritte mit einer Band sind für mich nur direkt möglich. Das Publikum bei Live-Auftritten lässt sich weder online simulieren, noch kann man so mit ihm interagieren. Musik für ein Publikum lebt vom Moment, von Nähe und Direktheit. Ich könnte mir Konzerte draussen und mit einer gewissen Distanz vorstellen, da würde man sich sehen und spüren. Doch auch das ist nichts für immer, dafür ist es in der Schweiz zu kalt, und akustisch sind solche Konzerte sehr schwierig. LaiensängerInnen benötigen einen Raum, um genau intonieren zu können, und auch, um nicht ständig gestört zu werden.

 

Heisst das im Umkehrschluss, dass Sie sich überlegen müssen, künftig ausschliesslich als Pflegefachmann zu arbeiten?

Ich bleibe vorderhand mit erhöhtem Pensum fix angestellt, so habe ich eine gewisse, nicht zuletzt finanzielle, Sicherheit. Aber mir ist die Pflege gleich wichtig wie das Tanzen beziehungsweise Singen. Ich hoffe deshalb sehr, dass künftig wieder beides möglich ist. Und ich hoffe, dass wir KünstlerInnen, indem wir trotz allem regelmässig trainieren und üben, weiterentwickeln und dann bereit sind, wenn es wieder losgeht. Ich freue mich jedenfalls schon wahnsinnig darauf, wieder mit «Helvetia on tour» proben zu dürfen, nachdem diese Proben x-mal verschoben worden sind. Kurz: Ich bin trotz allem zuversichtlich, dass ich irgendwann wieder alle meine Berufe ausüben kann.

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