«Das Ökonomische durchdringt heute alle Gefässe»

 

In seinem neusten Buch befasst sich der Soziologe Ueli Mäder mit dem Thema «Geld und Macht in der Schweiz». Was er dabei an Denkwürdigem – und Überraschendem – herausgefunden hat, erklärt er im Gespräch mit P.S.

 

Wer über Macht und Geld schreiben will, hat ein weites Feld vor sich: Wie haben Sie die Fülle an Material gebändigt, das es zu diesen Themen bereits gibt?

Ueli Mäder: Von Anfang an war klar, dass der Finanz- und Unternehmensbereich Teil der Untersuchung sein musste – und damit die Bankiersvereinigung ebenso wie Economiesuisse. Ebenfalls berücksichtigt haben wir das Gewerbe, womit der Gewerbeverband und die Gewerkschaften in den Fokus rückten. Politik, Verwaltung und Lobbies bildeten einen weiteren Schwerpunkt, ergänzt um Netzwerke, Denkfabriken, die Wissenschaft und  die Medien. Hinzu kam der ganze Bereich von Recht, Polizei und Militär.

 

Also doch: Es geht um alles aufs Mal. Wie ist das zu bewältigen?

Ich befasse mich seit über 40 Jahren mit Verteilungsfragen und der sozialen Ungleichheit. Mit viel Herzblut für sozial Benachteiligte. Nach vielen Armutsstudien untersuchten wir dann vor fünf Jahren schon im Buch «Wie Reiche denken und lenken», wie Begüterte auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagieren. Nun fokussieren wir mehr die Machtfrage. Im Sinne einer Annäherung.

Wir richten einen soziologischen Blick auf die Schweiz und versuchen ein Bild zu skizzieren. Mit einfachen Konturen, die gleichwohl die Komplexität berücksichtigen. Das ist also eine Übersichtsstudie. Mit Diskurs- und Inhaltsanalysen, teilnehmenden Beobachtungen und Auszügen aus Interviews, die verschiedene Sichtweisen dokumentieren. Da fliessen auch viele Erfahrungen von Studierenden ein, die als Butler arbeiten oder Kinder von Reichen hüten. Wichtig sind zudem die vertiefenden Fallstudien.

 

In unserer Demokratie haben kaum nur die Reichen das Sagen.

Ja, es gibt schon Machtzentren, aber auch ideologische Strömungen, die wir im Buch prominent behandeln. Der Liberalismus von einst wird immer stärker von einer Ökonomisierung überlagert: Das finanzgetriebene Verständnis verdrängt das politisch liberale. Das gilt nicht nur für Gesellschaft und Politik, sondern selbst für Bereiche des Rechts: Einerseits werden Verfahren ‹ökonomisch› verkürzt, und anderseits fallen bei Prozessen oft Kosten an, die sich nicht jede und jeder leisten kann.

 

Sie gingen somit von der These aus, heutzutage würden alle abgehängt, die nicht reich sind?

Uns interessierte, wer seinen Einfluss wie wahrnimmt. Das untersuchten wir schon im letzten Jahr im öffentlichen Raum. Ein Fazit lautete, dass es zwar viele Player gibt, aber  finanzkräftige Investoren obenauf schwimmen: Politische, gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Kooperationen fallen oft angesichts des wachsenden Einflusses des konzentrierten Kapitals zurück.

 

Eine der Grundlagen von «macht.ch» bilden Interviews mit Reichen und/oder Mächtigen: Wie haben Sie entschieden, wer befragt wird?

Wir interviewten über 200 Personen aus Finanzinstituten, grossen Unternehmen, Verbänden, Politik und Verwaltung, Justiz, Militär und Polizei, Denkfabriken, Stiftungen, Medien. Aus allen Bereichen wählten wir je fünf Personen aus, die wir bereits für das Buch «Wie Reiche denken und lenken» befragt hatten, sowie mindestens fünf weitere Fachleute. Das Hauptaugenmerk legten wir auf das persönliche Erleben und Reflektieren von Macht.

 

Dass unter den Interviewten auch Christoph Blocher sein muss, leuchtet ein, doch dass er ein weiteres Mal dasselbe erzählen darf wie sonst überall, irritert mich.

Wir haben die Interviews grundsätzlich nur sehr zurückhaltend kommentiert. Die Lesenden können sich so ein eigenes Bild machen.

Dass Christoph Blocher dasselbe erzählt wie überall, finde ich aber nicht. Wenn er sagt, «wie bei allem Guten lauert auch hinter der Macht der Missbrauch. Damit habe ich keine Mühe, hingegen ist Ohn-macht Unrecht», nennt er Aspekte, die ich noch nie so von ihm gehört hatte. Umgekehrt frage ich mich natürlich auch, ob er bloss ein Player mit Kalkül ist. Mich irritierte zum Beispiel, wie er sich bei einem Vortrag in der Basler Mustermesse über die Leute erhob und ihnen sagte, «gehen wir doch in die EU! Ich kann es ja bezahlen, aber ihr nicht». Worauf alle frenetisch klatschten und lachten.

 

Überheblich wirken auch andere Interviewte, zum Beispiel Heinz Karrer, der Präsident von Economiesuisse.

Er hat immerhin offen eingestanden, dass es ungeschickt war, sich im Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative vornehmlich auf den wirtschaftlichen Eigennutz zu konzentrieren. Das half wohl jenen, die der ehemalige Nationalrat der Zuger Alternativen, Jo Lang, die «Nationalkonservativen» nennt.

Ich frage mich allerdings, ob das für die SVP so zutrifft: Jedenfalls stellen wir im Buch eine Kombination von «nationalkonservativ» und «finanzkapitalistisch» fest, was die SVP geschickt kaschiert. Und damit punktete sie bei der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative. Das wirkte: Leute wie Christoph Blocher erwecken den Anschein, sie würden selbst dann gegen die Masseneinwanderung kämpfen, «wenn wir drauflegen müssten».

 

Dadurch, dass Sie teils sehr unterschiedliche Charaktere ‹ungefiltert› zu Wort kommen lassen, sind Widersprüche unvermeidlich. Wie sind Sie damit umgegangen?

Orte, an denen sich Widersprüche auftun, interessieren mich. Sie dokumentieren, was die Schweiz prägt. Nehmen wir das Interview mit Ivo Muri als Beispiel: Er ist ein Freund Blochers und kämpft mit ihm gegen die EU, aber er macht gleichzeitig beim linken Thinktank «Denknetz» mit sowie beim Verein Monetäre Modernisierung, der letzte Woche die Vollgeldinitiative eingereicht hat. Er bezeichnet sich als «antikapitalistischen Unternehmer». Das finde ich spannend.

 

Ab und zu ein Promi scheint Sie aber auch nicht zu stören.

Zum Teil kommt Prominenz vor, Roger Köppel etwa oder Markus Somm bei den Medien, doch die Auswahl solcher Köpfe haben wir bewusst beschränkt, damit noch ein paar andere, weniger bekannte zu Wort kommen konnten. Beispielsweise Kathrin Amacker, Leiterin Kommunikation der SBB. Sie ist auch in sportlichen, wissenschaftlichen, politischen, privatwirtschaftlichen und öffentlich rechtlichen Gremien erfahren.

 

Oder die Kioskfrau und die Coiffeuse – die allerdings weder reich noch mächtig sind.

Ja, die eine Coiffeuse ist sehr engagiert. Sie stört sich daran, dass der Gewerbeverband so rechtslastig politisiert und die politische Doktrin quasi von der Spitze zur Basis durchsickert. Dabei müssten die Kleingewerbler eher näher bei den Gewerkschaften sein, findet sie.

 

Warum sind sie es nicht?

Der frühere Direktor der Volksbank, Dagobert Kuster, hat mich das an der Medienkonferenz auch gefragt… Ein Grund dafür liegt im Gewerbeverband: Er bietet viele Dienstleistungen an und wirkt über publizistische Organe, darunter die ‹KMU-News›. Diese ideologisch aufwiegelnde Publikation liegt in vielen Betrieben auf, auch die Lehrlinge lesen sie – und erfahren so vor Urnengängen gleich noch, wie ‹man› abstimmt.

 

Ganz ohne Einfluss ist auch die Linke nicht – sagt jedenfalls Andreas Herczog in «macht.ch».

Ja, zu recht. Aber er tendiert dazu, den Einfluss der bürgerlichen Verbände und Denkfabriken zu unterschätzen: die Bankiervereinigung, Economiesuisse, Avenir Suisse und den Gewerbeverband. Sie verfügen über erhebliche finanzielle Mittel, PR-Kanäle und soziale Netzwerke. Sie gehen auch aktiv auf die Jungen zu, und sie machen das geschickt. Die Gefahr, dass Lehrlinge neue Marktideologien verinnerlichen, bevor sie sich über ihre politischen Vorlieben klar geworden sind, ist real.

 

Es bleibt also dabei: Das Geld hat die Macht?

Das Ökonomische durchdringt heute alle Gefässe. Ein Beispiel: Eine Studentin sah kürzlich, wie ein alter Mann stürzte und sich dabei verletzte. Sie kümmerte sich um ihn und rief auch das Altersheim an, in dem der Mann wohnt, um auszurichten, dass er im Spital abgeholt werden müsse. Das erste, was die Person am andern Ende der Leitung sagte, war, «oh je, das kostet wieder Geld!»

 

Wie sicher waren Sie sich angesichts der offensichtlichen Differenzen, dass sich all die Reichen und Mächtigen bereit erklären würden, sich für «macht.ch» interviewen zu lassen? 

Die Schweiz bietet den Vorteil der kurzen Wege, und man kommt an fast alle Mächtigen relativ gut heran: Eine unserer Studentinnen hat zehn Topmanager der Schweiz angeschrieben, und alle haben ihr ausführlich geantwortet. Gut, vielleicht war auch Kalkül dahinter, vielleicht dachten einzelne, wenn sie sich kooperativ zeigten, setze es weniger Kritik ab…

Trotzdem: Ich habe mit einer Reihe von Leuten geredet, die das Heu auf einer anderen Bühne lagern, aber sie waren ansprechbar und daran interessiert, sich auseinanderzusetzen. Das hat mich immer wieder überrascht und auch gefreut. Dennoch würde ich nie auf  den Goodwill von Mächtigen setzen, um soziale Existenzen zu sichern: Das Engagement dafür muss von unten kommen und gesellschaftlich garantiert werden.

 

Grundsätzlich sind die Reichen und Mächtigen also so, wie Sie sie sich vorgestellt haben?

Nur beschränkt. Ich dachte zum Beispiel, den Reichen wird viel Selbstwertgefühl in den Schoss gelegt, und das stimmt zu einem Teil auch, aber es gibt in diesen Kreisen auch viel Schwieriges, Kaltes, Krankes und Gestörtes.

Aufgefallen ist mir auch eine grosse Distanz zum Staat, die problematisch und zwiespältig ist: Ich habe mit Leuten geredet, die es als eins ihrer Hobbies betrachten, möglichst viel Geld am Fiskus vorbei zu schmuggeln – aber gleichzeitig hat einer den Autonomen ein Haus zur Verfügung gestellt, mit der Begründung:  «Hauptsache, sie sind gegen den Staat»… Oder nehmen wir einen Reichen aus der Ostschweiz: Er ist stolz, dass er es geschafft hat, den ungeliebten Staat die Ausbildung seiner Tochter bezahlen zu lassen. Er meinte auch, wer arbeite, habe keine Zeit zum Geld verdienen.

 

Das hätten Sie nicht erwartet?

Jedenfalls nicht in diesem Ausmass. Überrascht hat mich auch, wie die Selbsteinschätzung mit der Realität kontrastieren kann: Ein reicher Patron hält sich für konfliktfähig, weil er ab und zu auf den Tisch haut, wenn sich zu viel Wut aufstaut. Und die ‹Produktivität› scheinen einzelne Mächtige speziell zu definieren. Wer z.B. als CEO einer Fluggesellschaft 143 Verwaltungsratssitzungen pro Jahr besucht, kann doch kaum noch produktiv arbeiten. Oder nehmen wir das stets wiederkehrende Argument, immerhin zahle das eine Prozent der Reichsten 90 Prozent der Steuern: Wäre das Geld besser verteilt, kämen nicht weniger Steuern zusammen; sie würden bloss besser abgestützt. Ebenfalls recht erstaunlich fand ich, wie ein ehemaliger Bankdirektor  erzählte, wie er einst 2000 Leute entlassen konnte, ohne dass es öffentlichen Ärger gegeben habe; das wäre heute nicht mehr möglich, schloss er – eher bedauernd.

 

Sie haben demnach einiges erfahren, was Sie trotz Ihrer jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema ins Staunen brachte?

Ja, schon. Wie Daniel Vasella beispielsweise das finanzkapitalistische Denken rechtfertigt und erklärt, soziale Unterschiede dynamisierten die Gesellschaft; die Fleissigen kämen so motiviert voran. Und er fragte mich: «Wo ist das Problem?». Oder ein Basler Unternehmer fragt mich immer wieder: «Wie können Sie sich nur so für Sozialhilfebezüger einsetzen?  Sie helfen ihnen nur, weiterhin die hohle Hand zu machen…» Dieser Mann hat sein Unternehmen geerbt und bis heute wohl kaum gemerkt, was ihm alles in den Schoss gelegt wurde.

 

Was ist Ihnen bei der Arbeit an «macht.ch» geglückt, was weniger?

Ich hätte gern noch präziser ausgearbeitet, wer die Schweiz wie dominiert,  wer mit wem verwoben ist und wie sich die Macht hierzulande konstituiert und reproduziert. Der ehemalige Bankdirektor und FDP-Kantonalpräsident Patrice J. Baumann hat mir allerdings versichert, er habe «noch nie jemanden von den Medien getroffen, der gecheckt hat, wie die Kommunikation zwischen Politik und Wirtschaft wirklich läuft»… Wir sind also in guter Gesellschaft (lacht). Und immerhin war die erste Auflage von «macht.ch» innert einer Woche verkauft; das Buch scheint doch einigermassen zu interessieren.

Ueli Mäder: macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz. Rotpunktverlag, Zürich 2015, 512 Seiten, 39.90 Franken. 1. Auflage ausverkauft, wird zurzeit nachgedruckt.

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