Das Kielwasser des Selnau-Schiffs

Der Bahnhof Selnau war einst ein zentraler Tourismusstandort, später ein «Jahrhundertbauwerk». Heute ist er ein kurioses Überbleibsel neuzeitlicher Stadtplanung ohne grosse Relevanz für den städtischen öV: zweiter Teil unserer Bahnhofsporträt-Serie.

 

Sergio Scagliola

 

Auf der Höhe Stauffacher, parallel zur Gessnerallee, steht das wohl einzige Schiff, das es mit dem schnellen Wasser der Sihl immer problemlos aufnehmen kann. Der Eingang zum Bahnhof Selnau an der Sihlbrücke führt die PassagierInnen der Sihltal- und Üetlibergbahn seit Ende der 1980er-Jahre in einen Untergrund zu zwei Perrons, die etwas aus der Reihe tanzen. Der Bahnhof Selnau sieht nicht wie die meisten anderen städtischen Bahnhöfe aus. Der Grund? In seinem bald 150-jährigen Bestehen musste er bereis diverse Identitätskrisen bewältigen.

 

Ein kleiner Kopfbahnhof

Mehr als hundert Jahre lang war der Bahnhof Selnau ein überirdischer. Vis-à-vis der Neuen Börse Zürich steht heute ein Wohnblock mit einer langen Rampe, die zu einem kleinen Rondell über den Gleisen führt. Wo diese Gleise quasi aus dem Kellergeschoss des Wohnblocks herausragen, war einmal ein Kopfbahnhof – die Endhaltestelle der Sihltahl- und Üetlibergbahnen. Nichts lässt heute auf den damaligen zentralen Orientierungspunkt in der Nähe des Stauffachers schliessen, nur mit dem Wissen, was hier einmal war, lässt sich die kleine Brücke zum Rondell wie eine Überführung interpretieren.

 

1875 hatte die Stadt am ehemaligen Holzlagerplatz die bereits bestehenden Pläne für einen Bahnhof vollendet. Die Üetlibergbahn-Gesellschaft hatte organisatorisch turbulente Jahre hinter sich. Die NZZ schrieb von Bauterminen, die von den privaten Bauunternehmen nicht eingehalten wurden, wodurch die Gesellschaft aufgrund der «flüchtig gewordenen Unternehmer» die Fertigstellung des Bahnhofs selbst realisieren musste. Dieser hätte zunächst nur ein Provisorium sein sollen, blieb nach Bauschluss aber abgesehen von einem später noch zugebauten Bahnhofsbuffet unverändert. So betrieb die Gesellschaft noch im 19. Jahrhundert einen Fuhrpark mit sechs Personenwagen, mehrere Güterwagen sowie Lokomotiven, die die Stadtbevölkerung auf den Hausberg kutschieren konnten. 

 

Fünfzehn Jahre später sollte schliesslich auch das Sihltal erschlossen werden. Der Sihlkanal wurde eingewölbt, die neuen Gleise verlegt und die Bahn am 3. August 1892 eröffnet. In den 1890er-Jahren war am Bahnhof Selnau ein turbulentes Treiben zu beobachten, das auch zu Unmut in der Stadtbevölkerung über die Organisation der neusten Attraktion führte. So gab es ein Jahr später Beschwerden über chaotische Zustände auf der Sihlpromenade, die vor dem Bahnhof durchführte – insbesondere am Sonntag, wenn alle zum Flanieren ins Sihlhölzli wollten, sei das Trottoir der Selnaustrasse völlig überladen gewesen. Ein Einsender bei der NZZ wünschte sich zudem eine Tafel am Billetschalter, die darauf hinweisen solle, wenn die Billete am jeweiligen Tag ausverkauft waren – was scheinbar keine Seltenheit war beim grossen Andrang, ins Sihltal zu fahren.

 

Umstrukturierungen

Das Naherholungsgebiet im Südwesten der Stadt genoss grosse Beliebtheit, der Bahnhof Selnau war zu einem Angelpunkt des Zürcher Tourismus geworden. Was aber schon kurz nach Eröffnung der Üetlibergbahn bemängelt und nun mit dem Andrang bei der neuen Sihltahlbahn immer klarer wurde, war die fehlende Anbindung an den sonstigen städtischen Verkehr. Dem damaligen «Bahnhof am Stadtrand» fehlte insbesondere eine Verbindung zum Hauptbahnhof. Das war angesichts des Flusslaufs der Sihl aber damals unmöglich zu bewerkstelligen, ohne die gesamte Infrastruktur zwischen Selnau und Bahnhof grundlegend umzubauen. 

 

Stimmen, die das forderten, gab es viele – und zwar über eine Zeitspanne von hundert Jahren. 1947 wurde dem Gemeinderat eine konkrete Forderung vorgelegt: Das Netz solle über den Bahnhof Giesshübel mit dem Hauptbahnhof verbunden werden. Grund dafür war eine bereits bestehende teilweise Verbindung zwischen Giesshübel und Wiedikon – Selnau hätte im Falle einer Realisierung dieser Verbindung vom Netz genommen werden müssen. Doch der Plan fiel ins Wasser – die Stadt war zu stolz auf ihren kleinen Kopfbahnhof. 

 

Konkreter wurden die Vorstellungen einer Verbindung mit den Renovationsplänen um den Bahnhof ab den 1970er-Jahren. Die Stadt hatte sich 1970 für ein 25-stöckiges Hotelgebäude ausgesprochen, das über dem Bahnhof hochgezogen werden sollte. Damit war auch die Frage nach einer Verbindung wieder auf dem Tisch. 1975 hatte die Stadt schliesslich eine Studie angelegt, ob eine Verbindung machbar wäre. Der Entscheid, wie fortzufahren sei, lag lange beim Gemeinderat, bis die sehr knapp angenommene Volksinitiative über den Ausbau des öffentlichen Verkehrs 1977 – mit einem Fokus auf der Investition ins Tramnetz – das Projekt wieder in den Hintergrund rücken liess. Neuen Wind erhielt das Verbindungsprojekt SZU-HB aber schon wenige Jahre später in Reaktion auf einen nicht unumstrittenen Neubau – die Börse. Die neue Nachbarin durfte sich ab Baustart 1987 nach ganz knapp angenommener Abstimmung auf dem Areal des ehemaligen Scharfrichterhauses, auch Henkerhaus genannt, breitmachen. Daran hatte die Quartierbevölkerung keine Freude. Angesichts des knappen Wohnungsangebots hatte man sich erhofft, dass die Quote des einzuführenden Wohnanteilplans von 33 Prozent Wohnungen auch erfüllt werden würde. Dem war nicht so – 1981 waren nur zwei Wohnungen vorgesehen, so die ‹Neuen Zürcher Nachrichten›. An der Realisierung änderte auch die fünfstündige Besetzung am Tag vor dem Baubeginn nichts. Die Börse wurde hochgezogen und der Bahnhof Selnau so auch ein wenig zentraler. Fast ironisch, wenn man die Bedeutung des Wortes  Selnau als «Wohnung» oder «Herberge am Wasser», bedenkt.

 

Selnauer Untergrund

Auch das versenkte U-Bahn-Projekt der 1970er-Jahre steht mit der SZU-Verlängerung in Verbindung. Die Zürcher Metro ist heute vor allem eine Anekdote, Bauvorleistungen wurden aber bereits vor der Ablehnung des U-Bahn-Projekts durch das Stimmvolk teilweise fertiggestellt – so auch die heutige SZU-Station im Shopville. Im Zuge aller Neuerungen im Stadtbild drohte das Sihltal aber, etwas aus der Mode zu fallen. Auf jeden Fall wünschte man sich vom Areal um den Bahnhof Selnau eine bedeutende Attraktivitätssteigerung. Praktisch also, hatte man noch die fünfzehn Jahre nicht genutzte Infrastruktur im Keller des HB. Dennoch: Der Tunnel für die Weiterführung der Linie zum Hauptbahnhof und der alte Kopfbahnhof neben der Börse – das passte nicht ganz. So musste das oberirdische Bahnhofsgebäude den besser angebundenen SZU-Linien und der Verlegung in den Untergrund weichen. Deshalb ankert heute auch das Schiff unter der Sihlbrücke. 

 

Weil das zentrale Merkmal des Bahnhofs Selnau – das Bahnhofsgebäude – verschwinden sollte, war die Funktion als Tourismushotspot eher schwierig zu realisieren. Ein Blickfang musste her. Doch das alte Areal war inzwischen nicht mehr optimal platziert. Ein nördlicher gelegenes Betonschiff erfüllte den Zweck als besser angebundene Station und Verbindung zugleich sehr zufriedenstellend. Das Architektenpaar Rudolf und Esther Guyer entwarfen den neuen Eingang etwas näher am Stadtzentrum mit den damals längsten Rolltreppen der Welt (!), die in den Schiffsbauch führen, und dem kleinen Aussichtsdeck. 1990 war gar von einem «Jahrhundert-Bauwerk» die Rede.

 

Heute: Ein charmantes Wrack

Der Charme der Station auf der Sihlbrücke ist nicht zu leugnen. Ein Hauptort des städtischen Tourismus ist sie aber lange nicht mehr. Der Bahnhof Selnau hat sich sozusagen zur Ruhe gesetzt. Was früher ein zentraler Orientierungspunkt und ein wichtiger Angelpunkt im Personenverkehr war, ist heute ein Nischenbahnhof auf der Durchreise in die lokalen Naherholungsgebiete. Das Erbe wird durch das Schiff aber bewahrt. Denn Selnau tanzt als Bahnhof noch immer aus der Reihe – aus einem Kopfbahnhof, bei dem man nie genau wusste, wie man ihn an das restliche Netz anbinden sollte, ist die wohl kurioseste Zugstation der Stadt geworden. Denn Relevanz misst sich nicht nur daran, wie viele Leute an einem Ort verkehren.

 

Spenden

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte. Jetzt spenden!

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.