«Das ist eine moralische und keine politische Entscheidung»

Als einziger Kanton hielt Zürich lange an einem Arbeitsverbot für Sexarbeiter­Innen fest. Jetzt hat der Regierungsrat entschieden, es per Anfang Juni aufzuheben. Im Gespräch mit Natalia Widla erklärt Lelia Hunziker von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ die Folgen des Verbots für die Betroffenen. 

 

In allen Kantonen ausser Zürich ist Sexarbeit unter Einhaltung der Schutzmassnahmen wieder erlaubt. Hier gilt weiterhin ein Arbeitsverbot. Wie geht es den Betroffenen damit?

Lelia Hunziker: Die SexarbeiterInnen sind verunsichert und noch stärker prekarisiert als zuvor. Ausbeutungsmechanismen greifen noch mehr als sonst schon im stark regulierten Bereich der Sexarbeit. Das Verbot als weitere Einschränkung drängt sie nun in die Illegalität und schafft Abhängigkeiten und Raum für Missbrauch. Viele Sexarbeiter­Innen sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, sie brauchen oft Hilfe, um diese einzufordern. Wer in Zürich unterwegs ist, stellt gleichzeitig fest, dass offensichtlich so oder so gearbeitet wird, die Frage bleibt also, wem das Verbot eigentlich nützt.

 

Galt das Verbot in Zürich durchgehend?

Nein, bis im Juni 2020 gab es ein nationales Verbot. Danach wurde gelockert und mit dem zweiten Shutdown, als die Verantwortung den Kantonen zugeschoben wurde, führte Zürich ein zweites Verbot ein.

 

Wie ist es zu erklären, dass der Kanton Zürich im Vergleich mit den anderen Kantonen diesen Sonderweg geht?

Weil es politisch – oder in dieser Frage eher moralisch – so gewollt ist. Alle kantonalen Regierungen kamen offenkundig zu einem anderen Schluss als Zürich, einige haben im zweiten Lockdown gar kein Verbot ausgesprochen, andere sprachen nur kurzfristig eines aus, etwa Bern. Es gab ein Chaos mit den unterschiedlichen kantonalen Regelungen, aber es zeigte sich schnell, dass die allermeisten Kantone, egal wie politisch die Regierungen gefärbt sind, probierten, einen Weg zu finden – ausser Zürich. Für einmal ist das keine Links-rechts-Frage, sondern eine wertebasierte, möglicherweise auch moralische Entscheidung.

 

Was bedeutet das konkret?

Banal ausgedrückt: Man will keine Sexarbeit. Es geht nicht um die Gesundheit, den Schutz der Bevölkerung oder den Schutz der SexarbeiterInnen, sondern um ein anderes Konstrukt, welches der Sexarbeit den Status Arbeit abspricht und stattdessen moralisch argumentiert.

Leider scheint die Zürcher Kantonsregierung immun gegen Fakten zu sein, liegt doch ein nationaler Bericht von proCore vor, der aufzeigt, wie kontraproduktiv das Arbeitsverbot für SexarbeiterInnen ist. Denn es verschlechtert die Arbeitsbedingungen massiv, erschwert den Zugang von Fachstellen zu SexarbeiterInnen, in gewissen Kantonen stiegen während des Verbots gar die Raten an sexuell übertragbaren Krankheiten, ungewollten Schwangerschaften und Gewalt. Mit einem Verbot können die Sexarbeiter­Innen sich weniger gut schützen, weniger selbstbestimmt arbeiten und sind den Freiern mehr ausgeliefert.

 

Das momentane Arbeitsverbot gilt, nach mehrfacher Verlängerung, vorläufig bis Ende Mai. Wie lange kann der Kanton dieses Verbot noch aufrechterhalten?

Es gibt gewisse Anzeichen dafür, dass auf Anfang Juni nun endgültig gelockert werden soll. Es gibt mittlerweile eine breite Allianz von ParlamentarierInnen, die auf eine Lockerung pochen. Sollte das Verbot Ende Mai wieder verlängert werden, wird es auf kantonaler Ebene sicherlich Vorstösse und Diskussionen mit VertreterInnen der Regierung geben. Die Stadt Zürich, wo ein grosser Teil der Sexarbeit stattfindet, hatte den Kanton aufgerufen, das Verbot fallen zu lassen, und auch die Nachbarkantone haben ein grosses Interesse an einem Ende des Verbotes, welches sie direkt negativ tangiert. Übersteuern kann man die Regierung jedoch nicht, auch nicht vonseiten des Bundes.

 

Wie ist das zu verstehen, dass auch andere Kantone vom Arbeitsverbot in Zürich betroffen sind?

Viele SexarbeiterInnen wollen und müssen arbeiten, und die allermeisten möchten das lieber legal tun, was dazu führt, dass sie in anderen Kantonen, meist den Nachbarkantonen, arbeiten. Auf der anderen Seite nutzen auch KundInnen die Möglichkeit, in anderen Kantonen Dienstleistungen einzukaufen. Generell ist das Geschäft in der Pandemie aber zurückgegangen, was auch die Konkurrenz unter den Anbietenden erhöht, und wenn plötzlich viele SexarbeiterInnen aus dem Nachbarkanton ankommen, sorgt das für Verunsicherung, Verdrängung und Streit.

 

Wie sieht es denn mit finanziellen Entschädigungen für Sexarbeiter­Innen im Kanton Zürich aus?

Es gibt Erwerbsersatz und es gäbe Kurzarbeitsentschädigung, aber nicht alle Sexarbei­terInnen haben Anrecht darauf. Sozialhilfe ist noch einmal schwieriger – zum einen, weil Personen, die hier arbeiten, nicht sozialhilfeberechtigt sind oder aber Angst vor den ausländerrechtlichen Konsequenzen haben. Auf den entsprechenden Stellen werden die Frauen zusätzlich oftmals mit Diskriminierung und Stigmatisierung konfrontiert. Die Löcher, durch die SexarbeiterInnen im Netz der Unterstützungsmassnahmen fallen können, sind gross, sehr gross. Die Einkünfte sind notwendig – lebensnotwendig. Die Basishilfe, welche Raphael Golta kürzlich für die Stadt Zürich präsentiert hatte, ist hingegen ein Schritt in die richtige Richtung. Basishilfe, die im Gegensatz zur Sozialhilfe von ausländerrechtlichen Konsequenzen entkoppelt ist, ist gerade für SexarbeiterInnen, bei denen der Anteil an PendelmigrantInnen vergleichsweise hoch ist, sehr wichtig. Leider ist dies aber keine kantonale Lösung und schon gar keine nationale.

 

In den letzten Monaten waren SexarbeiterInnen in der Schweiz generell sehr stark von den Massnahmen betroffen und mussten schneller Einschränkungen hinnehmen als andere im direkten Kontakt vergleichbare Gewerbesparten. Wie ist das zu erklären?

In Verfügungen und Erklärungen zu diesem Thema stand immer wieder, dass man dem Sexgewerbe nicht zutraue, die Massnahmen einzuhalten. Das ist erstaunlich, da SexarbeiterInnen seit jeher Hygienemassnahmen einhalten müssen und dies ganz selbstverständlich tun. Zudem haben wir mit anderen Stellen zusammen ein Covid-19-Schutzkonzept für die Sexarbeit entwickelt.

 

Dennoch wurde hier, statt Massnahmen einzuführen, erst einmal dichtgemacht.

SexarbeiterInnen zahlen Steuern und Sozialversicherungen, sie müssen unglaublich viel Bürokratie bewältigen, was man ihnen offensichtlich zutraut und von ihnen auch klar gemeistert wird. Aber sobald es um Gesundheitsprävention geht, sieht das anders aus und man traut ihnen nicht zu, dass sie sich und die KundInnen schützen können. Von der Polizei wissen wir, dass bei den Kontrollen festgestellt werden kann, dass die Massnahmen des Schutzkonzepts gut eingehalten werden. Natürlich ist es nicht in allen Bereichen gleich gut, es gibt ja nicht ‹die› Sexarbeit. Je prekarisierter und abhängiger eine Person ist, desto schlechter werden die Massnahmen umgesetzt und desto weniger gut erreichbar sind die Betroffenen, was wiederum zeigt: Ein Verbot schützt sie nicht.

 

Die Politik hört nicht auf die SexarbeiterInnen?

SexarbeiterInnen und deren Anliegen finden in der Politik nur wenig Gehör. Die Sexarbeit hat eine schwache Lobby und die Lobby, die sie hat, wird oft auch verunglimpft.

 

Inwiefern?

Das hängt wohl mit der Grundsatzdiskussion um ein generelles Sexarbeits- beziehungsweise Sexkaufverbot zusammen. Wir stellen zudem oft fest, dass gerade wir Fachstellen als Lobbygruppen hingestellt werden, obwohl wir fachlich argumentieren und arbeiten. Ich würde auch soweit gehen, zu sagen, dass dem Ganzen auch ein gewisser Gender­aspekt zugrunde liegt. Wir sind alles Frauen, die sich hauptsächlich für Frauen einsetzen. Und wenn Frauen pointiert und klar etwas darlegen, wird es oft als Lobbyieren oder gar als ‹hysterisch› und kämpferisch wahrgenommen und ausgelegt. Hinzu kommt, dass es einen riesigen Mythos darüber gibt, was Sexarbeit eigentlich ist. Das hat schlichtweg mit dem Tabu Sex per se zu tun. Wir argumentieren fachlich, mit Erfahrung und zusammen mit den SexarbeiterInnen.

 

Gerade für AbolitionistInnen, welche generell für ein Verbot der Sexarbeit einstehen, schienen die Massnahmen im Kanton Zürich ja eine Möglichkeit zu sein, zu sagen: «Schaut, es geht auch ohne Sexarbeit, die Gesellschaft macht weiter.» Ist das bestehende Arbeitsverbot ein Fuss in der Tür für sie?

Heute sage ich: Nein. Es gab letztes Jahr eine Phase, als auch verschiedene Vorstösse aus der abolitionistischen Ecke platziert wurden und viel darüber gesprochen wurde, die Chance zu nutzen und das Verbot doch gleich beizubehalten. In den letzten Monaten stellte ich aber fest, dass die Solidarität in der Bevölkerung riesig ist, die Fachstellen erhielten so viele Spenden und in den Medien wurde von Sexarbeit als Arbeit gesprochen. Im Diskurs um die Massnahmen wurde die Branche neben anderen Branchen als ein gleichwertiger und von den Massnahmen stark betroffener Sektor genannt. Das ist sowohl für die Gesellschaft als Ganzes als auch insbesondere für die SexarbeiterInnen selbst im Bezug auf die Entstigmatisierung und ihr Selbstverständnis enorm wichtig. Deswegen glaube ich, dass wir heute weiter weg sind von einem Sexkaufverbot als vor einem Jahr, weil sich gerade durch die Pandemie und die damit einhergehenden Massnahmen gezeigt hat, dass Sexarbeit Arbeit ist.

 

Dieses Interview ist zuerst im Online-Magazin ‹Das Lamm› erschienen.

 

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