Das ist ein Problem

Ich trinke ja auch nicht mehr so viel wie früher, aber wenigstens versuche ich, etwas dagegen zu unternehmen. Das tun längst nicht alle und das ist ein Problem.

In Tägerwilen im Kanton Thurgau und dadurch keine fünf Minuten Fussmarsch von mir daheim schliesst das Restaurant und Hotel Jucker’s Ende März. Ein stolzes Gebäude mitten im Dorf, die erhellten Fenster aus der Gaststube geben einem abends beim Heimlaufen ein wohliges Gefühl und immer steht dort auch irgendwer mit irgendwem schwatzend draussen. Dass dieses Haus nun schliessen muss, hat durchaus verschiedene Gründe, ich will es nicht auf den Alkohol alleine schieben, aber doch. «Die Zeiten, in denen die Gäste um 18 Uhr in die Beiz kamen und erst nach Mitternacht wieder gingen, sind längst vorbei, es wird viel weniger Alkohol getrunken», sagte vor einigen Jahren Ruedi Stöckli vom Restaurant Strauss in Meierskappel anlässlich eines Interviews zu seiner Pensionierung und der Schwierigkeiten seiner Nachfolger:innen, einigermassen gewinnbringend zu wirten. Und obwohl ich weder den Ruedi noch den Strauss persönlich kenne, beobachte ich das genauso. Sagt übrigens auch der Experte in Form eines Gastrojournalisten: «Die Leute trinken weniger, die Umsätze sinken.» Das ist ein Problem. 

Wenn man isst und trinkt in der Beiz, ist der nächste Tag manchmal nicht so besonders attraktiv und produktiv, das gebe ich offen zu. Das passt nun erst einmal schlecht in Zeiten, in denen Arbeit und Effizienz über allem stehen und man sich gerne mit besonderer Schaffenskraft, definiert durch Anzahl Arbeitsstunden, brüstet (wie der Bundesratskandidat Ritter, der im Amt bis zu 80 Stunden pro Woche präsent wäre, also rund 11,4 Stunden pro Tag, was er sich im Übrigen gewohnt sei, da er schon immer ununterbrochen gearbeitet habe, und ja, da wäre mir dann halt auch nicht mehr nach Beiz am Abend oder gar am Mittag). Auf der anderen Seite passt es nicht zu jenen vor allem jungen Menschen, die ganz besonders darauf achten, was gesund ist und nach totaler körperlicher Perfektion streben, da gebe ich ihnen ausdrücklich recht, opulent essen und trinken ist dann eher nicht ideal. 

Dabei wäre es so schön. 

Aber man macht es nicht mehr, und das ist ein Problem. In verschiedener Hinsicht. Einerseits finde ich, die ich ja eben auch nachgelassen habe in Sachen unvernünftig über die Sperrstunde hinaus sitzen bleiben, dass das früher längst nicht nur unproduktiv war. Ich erinnere mich an einige auf Papiertischtücher skizzierte politische Ideen, eine davon eine Initiative, äusserst erfolgreich, muss man sagen. Durch den ungezwungenen Austausch in einer Beiz, den einen oder anderen Schluck Alkohol, kamen mutige Geschichten dabei raus. Zu Ungunsten des nächsten offiziellen Arbeitstages, das gebe ich durchaus zu, aber wenn man die Welt dafür politisch ein Stück besser machen kann, finde ich Katerkopfschmerzen einen eher bescheidenen Preis dafür.

Jetzt geht es aber nicht nur um meine persönlichen Erinnerungen an meine versoffen verklärte Jugendzeit oder das Beizensterben, sondern um harte Fakten betreffend Rückzug in die eigenen vier Wände. 

«Die Kehrseite des weniger auswärts Essens ist mehr allein essen», schreibt ‹The Atlantic› im Artikel «Die Bar ist zu» zu diesem Phänomen. Und das ist ein Problem. Denn im Grunde genommen sind wir soziale Wesen. Wir werden so geboren, weshalb wir schon als Kinder nichts lieber tun, als mit anderen Kindern zu spielen. Studien mit jungen Ratten und Affen zeigen, dass sich diese sozial und emotional beeinträchtigt entwickeln, wenn sie nicht mit anderen zusammen sein können. Rückzug tut uns nicht gut. Das Alleinsein während der Pandemie war ebenso gefährlich wie jetzt die Auswirkungen des selbstgewählten Alleinseins. Gerade junge Menschen fühlen sich deswegen überdurchschnittlich oft traurig und hoffnungslos, wie Ergebnisse aus einer aktuellen Studie zeigen. Die Sozialen Medien sind kein Ersatz für echte zwischenmenschliche Kontakte, ein Abend mit Netflix ersetzt nicht das Kino, in dem man mit anderen Menschen gemeinsam einen Film schaut. Und noch schlimmer als gar nicht trinken ist allein trinken. 

Das alles ist ein Problem.