Das Elend hinter den Statistiken

von Florin Schütz

 

Überfüllte Lager, menschenunwürdige Zustände und systematische Gewalt der Grenzpolizei: Während sich Europa an der sinkenden Anzahl ankommender Flüchtenden erfreut, werden in Bosnien-Herzegowina die Auswirkungen der europäischen Migrationspolitik sichtbar.

 

Fast schon idyllisch scheint die Abendsonne auf eine ehemalige Mülldeponie in der kleinen bosnischen Ortschaft Vucjak bei Bihac, nur wenige Kilometer entfernt von der kroatischen Grenze. Schuhe, Plastikteile und Stoffreste liegen auf dem kargen, teils aufgeweichten Boden. In den Ästen der umliegenden Bäume werden Kleiderfetzen von den leuchtenden Farben des Himmels in Szene gesetzt. Es sind die Überreste eines dunklen Kapitels der europäischen Migrationsgeschichte: Auf dem inzwischen verlassenen Gelände fristeten bis zu 800 Flüchtende ein menschenunwürdiges Dasein. Sie wohnten in Zelten auf dem gefrorenen Boden, Heizungen gab es kaum, dafür Schnee in grossen Mengen. Viele Flüchtende besassen keine brauchbaren Schuhe gegen die Kälte. Um nicht zu erfrieren, entfachten sie sogar Lagerfeuer in ihren eigenen Zelten. Sanitäre Anlagen, Strom oder ähnliches standen nicht zur Verfügung, die miserablen hygienischen Zustände führten dazu, dass sich Krankheiten wie die Krätze oder Tuberkulose im ganzen Lager ausbreiteten. Vucjak wurde von den Medien wahlweise als «Elendslager», «Hölle» oder «schlimmstes Lager Europas» bezeichnet.

Am 10. Dezember wurde dann ein Schlussstrich gezogen: Die Flüchtenden wurden mit Bussen in die Hauptstadt Sarajevo gebracht. Nach fünf Monaten, grossem internationalem Medienecho, zahlreicher Kritik und einem Hungerstreik von rund 600 BewohnerInnen fand dieser humanitäre Schandfleck im Norden Bosniens sein – zumindest vorübergehendes – Ende.

 

Politische Machtspiele

 

Vucjak ist ein Extrembeispiel, steht aber dennoch sinnbildlich für die Auswüchse der europäischen Migrationspolitik und die Überforderung derjenigen Staaten, die deren Folgen auszubaden haben. In Auftrag gegeben wurde das Lager in Vucjak vom Bürgermeister Bihacs, da die offiziellen Lager überfüllt waren. Die Organisation wurde allerdings an das Rote Kreuz der Stadt Bihac abgegeben, eine äusserst undankbare Aufgabe: Unterstützung von offizieller Seite gab es kaum, lediglich 5000 Euro der Stadt. So musste sich die kleine Organisation, bestehend aus fünf Personen, um hunderte Flüchtende kümmern, über fünf Monate hinweg insgesamt 300 000 Mahlzeiten zubereiten, sich um Kranke kümmern, etc. Der bosnische Sicherheitsminister hatte schon früher eine Schliessung des Lagers gefordert, der Bürgermeister von Bihac hielt allerdings dagegen: Die offiziellen Lager seien voll, eine Verlegung der Bevölkerung Bihacs nicht zuzumuten. Er liess sogar die Eingänge der offiziellen Lager von der Polizei bewachen, um die Ankunft zusätzlicher Flüchtenden zu verhindern. Hilfstransporte mit Decken und Kleidern wurden abgelehnt. Das Ziel dieses Machtspiels: Druck auf die Zentralregierung aufzubauen, damit die Flüchtenden nach Sarajevo und nicht in die Lager von Bihac gebracht werden. Für den Bürgermeister letztlich ein Erfolg, für die betroffenen Menschen eine Tragödie.

 

Gestrandet vor den Toren der EU

 

Die sogenannte Balkanroute – ein Überbegriff für die Routen zwischen dem Nahen Osten und Europa – galt ab 2016 offiziell als geschlossen. Zuvor waren zehntausende Menschen über diesen Weg nach Europa gereist. Der Begriff der Schliessung wurde der Realität allerdings nur bedingt gerecht. Alle Zäune, verschärften Repressionen und Kontrollen konnten nicht verhindern, dass der Fluchtweg über den Westbalkan weiter genutzt wurde. Insbesondere der intensivierte Kampf Europas gegen die Mittelmeer-Überfahrten sorgte für zunehmende Personenströme auf dem Landweg entlang der Balkanroute. Durch die Grenzschliessung in Ungarn konzentrierte sich die Route auf Bosnien-Herzegowina, rund 50 000 Flüchtende erreichten das Land 2018, im letzten Jahr stiegen die Zahlen noch einmal deutlich an.

 

Bosnien-Herzegowina wäre eigentlich ein Transitstaat. Zwar gilt das Land als sicherer Herkunftsstaat, bleiben will dort aber praktisch niemand. Fragt man die Flüchtenden nach ihrem Zielort, so erhält man meist Italien oder Deutschland als Antwort. Vielfach aufgrund von Familienangehörigen im Land, oftmals aber auch wegen idealisierten Wunschvorstellungen, die sich bei einer erfolgreichen Niederlassung im entsprechenden Land kaum erfüllen dürften. Bei vielen kommt es aber gar nicht erst so weit: Die EU-Aussengrenzen sind streng bewacht, tausende Menschen stranden vor den verschlossenen Toren der EU. Das ist nicht nur für die Flüchtenden ein Problem, sondern auch für Staaten wie Bosnien-Herzegowina, die sich dann mit der Aufgabe konfrontiert sehen, zehntausenden Menschen eine vorübergehende Heimat anzubieten.

 

Ein Auftrag, dem Bosnien nicht gewachsen ist. Viele Flüchtende haben keine Unterkunft und leben auf der Strasse. Aufgrund der fehlenden staatlichen Unterstützung sind sie auf freiwillige HelferInnen und NGO angewiesen, die sie mit lebensnotwendigen Gütern ausstatten oder ihnen eine Unterkunft organisieren. Der Winter macht die Situation zusätzlich gefährlich – es mangelt an warmer Kleidung, Schlafsäcken und Decken.

 

Trostloser Alltag und menschenunwürdige Bedingungen

 

Finanzielle Unterstützung der EU fliesst hauptsächlich über deren Partnerorganisationen, wie der Internationalen Organisation für Migration (IOM), in die betroffenen Länder. Nach dem Flüchtlingsanstieg 2018 begann die IOM Zentren für die Flüchtenden in Bosnien zu errichten, um dem Mangel an Unterkünften entgegenzuwirken. Die Qualität der Zentren unterscheidet sich stark, die finanziellen Mittel sind alles andere als gleichmässig verteilt. Generell gilt: Lager für Frauen und Kinder sind in aller Regel am besten ausgestattet. So beispielsweise die Unterkunft Borici, von der IOM 2018 in äusserst prekärem Zustand übernommen, heute über weite Teile ein Vorzeigeprojekt. Ärztliche Betreuung ist vorhanden, es gibt einen ausgewogenen Ernährungsplan, Heizungen in jedem Raum, Hygieneartikel sowie Safe-Spaces für Mädchen und Frauen.

 

Anders zeigt sich die Situation im Lager Miral in der Nähe von Velika Kladuša. 700 Männer leben dort auf engstem Raum im auf 400 Personen ausgelegten Lager. Die Luft ist enorm stickig, viele Flüchtende teilen sich eine Matratze und leben zusammengepfercht wie in einer Sardinenbüchse. Doch das ist für die LagerbewohnerInnen nicht das Hauptproblem: «Schlafen ist irgendwie möglich», erzählt ein junger Mann aus Afghanistan, «aber wir haben Hunger und brauchen Essen». Für die Essensausgabe wird eine Camp-ID benötigt, die allerdings nur an Personen innerhalb der offiziellen Kapazität ausgestellt wird. Beinahe die Hälfte der Personen hat dadurch keinen Zugang zu Essen. Eine Regel der EU, erklärt ein IOM-Mitarbeiter, der seine Ablehnung gegenüber seinem Arbeitgeber nicht zu verbergen versucht. Das Geld sei nicht das Problem, genug Essen für alle wäre vorhanden. Aufgrund der Vorschriften gelange das übrige Essen aber nicht zu den hungrigen LagerbewohnerInnen, sondern werde entsorgt.

 

Ein weiteres Zentrum der IOM wurde in einer alten Kühlschrankfabrik bei Bihac eingerichtet. Bira nennt sich das Lager, das eine Kapazität für ca. 1500 Personen aufweist, die derzeit um rund 700 Personen überschritten ist. Ein beissender Geruch ist ständiger Begleiter in den unbeheizten Fabrikhallen, die ungenügenden hygienischen Zustände machen sich bemerkbar. In einer Ecke liegen dünne, teils zerrissene Schaumstoffmatten und Zelte aneinandergereiht auf dem kühlen Betonboden. Zwar stehen zahlreiche Wohncontainer mit jeweils ca. zehn Betten in dem Lager, durch die Überkapazität reichen diese aber nur für einen Teil der BewohnerInnen aus. Der Alltag der Flüchtenden im Lager ist trostlos: Abgesehen von drei spärlichen Mahlzeiten am Tag gibt es keine Routine, die Menschen vertreiben sich die Zeit mit dem Handy oder versuchen die Stunden schlafend hinter sich zu bringen.

 

Einer der Bewohner ist Abdul aus Pakistan. Der rund 25-Jährige ist über die Türkei nach Bosnien geflüchtet. Es sei kalt, berichtet er. Viele Flüchtende würden ärztliche Hilfe benötigen. Zwar existiert ein ärztlicher Dienst im Lager, laut Abdul reicht dieses Angebot allerdings nicht aus. Unabhängig von den Beschwerden würde man lediglich mit Schmerzmitteln abgespeist. Eine Aussage, die auch von anderen Flüchtenden in verschiedenen Lagern der IOM so bestätigt wird. Neben Abdul sitzt ein Mann zusammengekauert und zitternd auf einer Mauer. Die Arme um die Knie geschlungen versucht er sich Wärme zu spenden. Seine nackten Füsse stecken in Flipflops – viele der Flüchtenden laufen so herum, trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt. Am Oberkörper trägt er ein Shirt der kroatischen Fussballnationalmannschaft im bekannten rot-weiss-karierten Muster. Es ist ein absurdes Bild. Ist es doch gerade Kroatien, das mit aussergewöhnlicher Brutalität dafür sorgt, dass die Flüchtenden EU-Territorium fernbleiben.

 

Rechtsfreier Raum an der kroatischen Grenze

 

«The Game» nennen die Flüchtenden den Versuch, die Grenze zwischen Bosnien und Kroatien zu überqueren. Eine zynische Bezeichnung für ein Unterfangen, das für die Flüchtenden lebensgefährlich enden kann. Das noch junge EU-Land Kroatien wartet derzeit darauf, in den Schengen-Raum aufgenommen zu werden. Mit der strikten Durchsetzung der EU-Migrationspolitik versucht man sich den Schengen-Status zu erarbeiten, auf Kosten der Menschenrechte und der Menschen auf der Flucht. Die Berichte der Flüchtenden ähneln sich und sind inzwischen auch mehrfach dokumentiert worden: Die Polizei geht mit aller Härte gegen jene vor, die beim Grenzübertritt erwischt werden: Knochenbrüche, innere Blutungen und andere schwere Verletzungen sind nicht selten die Folge. Kleider, Schuhe, Geld, Smartphones etc. werden von der Polizei eingesteckt oder vor den Augen der Flüchtenden verbrannt. Es gibt Berichte von Flüchtenden, die mit Elektroschocks oder durch stundenlanges Stehen in der prallen Sonne gezwungen wurden, die Namen ihrer Schlepper herauszugeben. Auch Jugendliche und Kleinkinder werden von der Polizei nicht verschont.

 

Die inzwischen abgewählte kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic hatte die Gewaltexzesse gegenüber SRF mit den Worten «etwas Gewalt ist bei Abschiebungen nötig» kommentiert. Zahlreiche Organisationen wie die Human Rights Watch oder Amnesty werfen Kroatien vor, systematisch gegen internationales Recht zu verstossen. Die EU hielt sich bisher mit Sanktionen zurück.

 

Die Angst vor dem Frühling

 

Eine Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Die europäischen Staaten fahren einen migrationspolitischen Abschottungskurs ohne Rücksicht auf dessen humanitären Auswirkungen. Regierungen und PolitikerInnen brüsten sich mit sinkenden Flüchtlingszahlen und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Das Leid und Elend jenseits der EU-Aussengrenzen werden zur wahlwirksamen Statistik verarbeitet. Das Schicksal einzelner Menschen ignoriert. Sobald die Temperaturen steigen, ist ein zusätzlicher Anstieg der Flüchtenden zu erwarten. Viele von ihnen werden in Bosnien stranden. Einem finanziell schwachen, vom Krieg tief gespaltenen und mit der Situation hoffnungslos überforderten Staat, der vom Rest Europas über weite Strecken allein gelassen wird.

 

* Florin Schütz, SP-Gemeinderat Uster und Vorstandsmitglied Juso Kanton Zürich

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