«Das Bild des familiären Bauernbetriebs ist überholt»

Das Netzwerk Widerstand am Tellerrand fordert in einer Petition bessere Arbeitsbedingungen für LandarbeiterInnen. Wieso das nötig ist und was ihre Vision einer sozialen und ökologischen Landwirtschaft ist, erklärt Mitinitiantin Jelena Filipovic im Gespräch mit Roxane Steiger.

 

Jelena Filipovic, Sie sind Mitgründerin des Vereins Landwirtschaft mit Zukunft. Landwirtschaft mit Zukunft ist Teil des Netzwerks «Widerstand am Tellerrand». Weshalb?

Jelena Filipovic: Landwirtschaft mit Zukunft ist als eine kleine Gruppe von Klimastreikenden entstanden. Wir sind der Ansicht, dass die Landwirtschaft nicht nur als Pro­blem des Klimawandels, sondern als Teil der Lösung betrachtet werden sollte. Wir haben letztes Jahr an einer Tagung zur sozial-ökologischen Transformation der Landwirtschaft teilgenommen. Für uns war klar, dass der soziale Aspekt ein grosser Teil unserer Identität als Verein sein muss. Durch persönliche Kontakte sind wir schlussendlich zu diesem Netzwerk gekommen und arbeiten sehr gerne punktuell an Projekten zusammen. 

 

Widerstand am Tellerrand fordert in einer Petition eine 45-Stunden-Woche und einen Mindestlohn von 4000 Franken für LandarbeiterInnen. Wieso ist das nötig?

Unserer Meinung nach gibt es in der Landwirtschaft keine grosse Lobby, die dem Bauernverband die Stirn bietet. Insbesondere die LandarbeiterInnen, die oftmals als GastarbeiterInnen in die Schweiz kommen, haben keine Lobby im Parlament. Die Diskussion um Arbeitsrechte und Mindestlöhne ist nicht nur in der Landwirtschaft ein grosser Kampf. Das sehen wir beispielsweise aktuell bei der Care-Arbeit. Wir fordern deshalb auch für die LandarbeiterInnen, die für uns in der Hitze und im Regen schuften, eine arbeitsrechtliche Absicherung, einen fairen Lohn und tragbare Arbeitszeiten.

 

Es scheint also wenig Wertschätzung für diese Arbeit da zu sein. Weshalb? 

Ich glaube, dass wir ein falsches Bild von der Landwirtschaft haben. Selber habe ich keinen landwirtschaftlichen Hintergrund, bin aber auf einem Bauernhof in Serbien aufgewachsen. Meine Grosseltern leben immer noch dort und versorgen sich bis heute selbst. Das war für mich als Kind selbstverständlich. In der Schweiz ist die Produktion vom Konsum losgelöst. Die KonsumentInnen in der Stadt und die Wertschätzung für die ProduzentInnen und das was es braucht, um das Produkt in den Laden zu bringen, scheinen weit voneinander entfernt. Das muss sich ändern. Mit der Klimadiskussion ist auch die Diskussion über unser Landwirtschafts- und Ernährungssystem aufgekommen. Das Bild des familiären Bauernbetriebs ist überholt. Es ist eine Tatsache, dass wir auf externe Arbeitskräfte angewiesen sind. Ich finde es zudem erschreckend, dass unsere Landwirtschaft vor nicht allzu langer Zeit noch anders organisiert war. Im Zuge der Industrialisierung sollte die Produktion plötzlich schneller, einfacher und effizienter sein. Wir hatten viel zu lange das Gefühl, dass wir unendliche Ressourcen zur Verfügung haben. Einen Schritt zurückzugehen und nochmals über die Bücher wird nicht einfach, aber mit dem Klimawandel haben wir keine andere Wahl. 

 

Die Petition wurde am 1. Mai 2021 lanciert. Was ist bisher geschehen?

Wir haben für die Petition verschiedene TrägerInnen sowie städtische und kantonale Parteien angefragt. Nun sind wir mit GrossrätInnen in Kontakt, die in der Herbstsession Vorstösse einreichen werden. Grundsätzlich sind Petitionen aber nicht hier, um einen grossen Umschwung in der Agrarpolitik zu bewirken, sondern um Agenda-Setting zu betreiben – auf politischer sowie auf gesellschaftlicher Ebene. Es wird bestimmt nicht einfach, diese Vorstösse in den bürgerlichen Kantonen durchzubringen.

 

Ihr bezieht euch auf die prekären Arbeitsbedingungen von LandarbeiterInnen. Wie sieht es mit der Arbeitsrealität von BäuerInnen und LandwirtInnen aus? 

Ihre Arbeitsrealität sieht nicht rosig aus. Mit dem Bauernverband haben sie aber eine starke Lobby. Die Frage ist, wen der Bauernverband wirklich vertritt – die Grossbetriebe und Wirtschaftsverbände oder die Bauern und Bäuerinnen. Die Kleinbauernvereinigung, die sich für die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen einsetzt, gilt als Gegenspielerin des Bauernverbandes. Es ist schockierend, wenn man realisiert, wie prekär die Arbeitssituation von Bäuerinnen in der Schweiz ist. In der Landwirtschaft besteht zum Beispiel eine enge Verbindung zwischen den Themen Klima und Feminismus. So sind lediglich 30 Prozent der Bäuerinnen als Angestellte in den Betrieben gemeldet. Die restlichen 70 Prozent sind dies nicht, obwohl sie ihr ganzes Leben lang auf dem Hof mitarbeiten. Dementsprechend verfügen sie weder über eine Mutterschaftsversicherung und -entschädigung noch über eine eigene Rente oder soziale Absicherung, falls es zu einer Scheidung kommen sollte. Die Agrarreform AP22 wäre der erste grosse Schritt bei der sozialen Absicherung gewesen. Sie wurde nun aber vom Parlament sistiert.

 

Wenn die Löhne steigen und weniger Arbeitsstunden anfallen, bedeutet das mehr Kosten für die ArbeitgeberInnen. Würden darunter nicht insbesondere die kleinen Betriebe leiden?

Erstens sollten wir uns die Grundsatzfrage stellen, ob die aktuelle Diskussion über unsere Nahrungsmittelproduktion haltbar ist. Wie kann es sein, dass wir darüber sprechen, dass wir uns nur Produkte leisten können, die auf Ausbeutung basieren? Zweitens sind es vor allem industrielle Grossbetriebe, die bei der Gemüseernte auf FeldarbeiterInnen zurückgreifen müssen. Es sind nicht die Kleinbetriebe, die massenhaft ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz holen. Selbstverständlich ist es auch für Kleinbetriebe schwierig, ihre Arbeitskräfte angemessen zu zahlen. Aber genau weil das System so komplex ist, können wir an diesem Punkt nicht aufhören. Die Politik ist hier in der grossen Pflicht, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass eine gerechte Entlohnung für alle möglich ist. Unsere Petition macht auf das allgemeine Problem aufmerksam, dass eine 66-Woche für 3300 Franken Lohn und Abzüge in Höhe von 900 Franken für Logis nicht in Ordnung sind.

 

Ein beliebtes Gegenargument ist, dass GastarbeiterInnen in der Schweiz für ihre Verhältnisse viel verdienen und keine Steuern zahlen müssen. Auch die Schweizer Landwirtschaft profitiert, indem sie Kosten spart. Insgesamt also eine Win-Win-Situation. Was antwortet ihr darauf?

Dieses Argument ist schwierig. In der Corona-Pandemie gab es aufgrund der Grenzschliessungen zeitweise einen Mangel an LandarbeiterInnen für die Gemüse- und Früchteernten. Wie kann es sein, dass wenige SchweizerInnen bei uns als FeldarbeiterInnen arbeiten wollen? Die Antwort ist einfach: Weil man sich in der Schweiz mit diesem Lohn das Leben nicht leisten kann. Das heisst, dass wir auf Menschen angewiesen sind, die von anderen Ländern kommen und hier in der Schweiz ein halbes Jahr lang Geld verdienen, um die Familie in ihren Heimatländern zu ernähren.

 

Was wäre ein Lösungsansatz? Müssten weniger GastarbeiterInnen in die Schweiz kommen und mehr SchweizerInnen diese Arbeit ausführen?

Die Hauptforderung ist, dass alle, egal ob SchweizerInnen oder GastarbeiterInnen, eine soziale Absicherung haben und für die Arbeit, die sie leisten, angemessen bezahlt werden. Grundsätzlich widerstrebt mir aber die Idee, dass Menschen für eine Saison in die Schweiz kommen und dann nicht in der Schweiz bleiben dürfen. Als Schweiz müssten wir ehrlich sein: Wir sind auf sehr viele mi­grantische Arbeitskräfte angewiesen. Wenn eine Person sich entscheidet, in der Schweiz zu arbeiten und dann nach Hause zurückzukehren, sollten wir sie für ihre Arbeit angemessen entlohnen. Es sollte aber auch eine Option sein, dass sie in der Schweiz bleiben kann, wenn das der Wunsch ist.

 

Bereits heute werden arbeitsrechtliche Kontrollen durchgeführt, doch es werden immer wieder Verstösse gegen die Arbeitsrechte aufgedeckt. Daran ändert sich auch bei der Heraufsetzung eines Mindestlohns nicht viel. Wie könnten die Arbeitsrechte besser gewährleistet werden? 

Neben der Sensibilisierungsarbeit und einer öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion des Problems braucht es Ressourcen, um diese Kontrollen durchzuführen. Fehlt das Bewusstsein, sind meistens auch keine Ressourcen vorhanden. So kann man die Lage definitiv nicht verbessern.

 

Diese Forderungen beziehen sich auf die Normalarbeitsverträge in den Kantonen Zürich und Bern. Wieso genau in diesen zwei Kantonen?

Einerseits sind es zwei Kantone, die eine ziemlich grosse Obstlandwirtschaft und Gemüselandbau haben. In diesen Bereichen ist man stark auf LandarbeiterInnen angewiesen. Andererseits ist in beiden Kantonen – insbesondere in den Städten – das Bewusstsein für fairen und nachhaltigen Konsum gestiegen. Gleichzeitig sind die beiden Kantone eher bürgerlich eingestellt. In der Deutschschweiz hat es nur der Kanton St. Gallen geschafft, die Arbeitswoche im Normalarbeitsvertrag für landwirtschaftliche Arbeitnehmende von 55 Arbeitsstunden auf 49,5 Stunden zu reduzieren. Ein Vorbild für unser Netzwerk waren die Kantone in der Westschweiz. In Genf gibt es bereits einen Mindestlohn sowie eine geregelte Arbeitszeit von 45 Stunden pro Woche. 

 

Aktuell läuft bei Reformen, die die Landwirtschaft betreffen, einiges schief. Die AP22 ist sistiert, die Pestizid-Initiativen wurden deutlich und das CO2-Gesetz knapp abgelehnt. Wie stimmt euch das? 

Der Abstimmungssonntag war für mich persönlich sehr schlimm. Ich hatte das Gefühl, dass wir so viel geben und gleichzeitig wenig zurückkommt. Es kam aber schnell wieder Hoffnung auf, als wir angefangen haben zu evaluieren, wo wir Erfolg hatten und wo wir noch Verbesserungspotenzial sehen. Wir stellen fest, dass die Diskrepanz zwischen den städtischen und der ländlichen Bevölkerung ziemlich gross ist. Mit der Kampa­gne «Gemeinsam Gehen» von Landwirtschaft mit Zukunft wollten wir aufzeigen, dass das Problem nicht bei den Bauern und Bäuerinnen liegt. Es geht darum, dass das aktuelle System langfristig keine Zukunft hat. Nach den Pestizid-Initiativen ist der Kampf noch lange nicht vorbei. Um das Problem anzugehen, müssen wir beim Arbeitsrecht, der Lebensmittelindustrie und den Grossverteilern gleichzeitig ansetzen. Nur so können wir gemeinsam Lösungsansätze finden.

 

Also ist eine grundlegende Transformation des landwirtschaftlichen Betriebs nötig, um wirklich etwas verändern zu können? 

Ganz pessimistisch würde ich sagen, dass ein rascher grundlegender Wandel in der Schweiz aufgrund unseres politischen Systems nur schwer möglich ist. Landwirtschaft mit Zukunft ist aber definitiv der Meinung, dass es einen grundlegenden Wandel braucht. Wir müssen dazu aber an verschiedenen Schrauben drehen. Momentan sind wir daran einen BürgerInnenrat und ein Ernährungsparlament bestehend aus Menschen mit verschiedenen Hintergründen einzuberufen. Dort soll diskutiert werden, wie ein anderes Landwirtschafts- und Ernährungssystem gestaltet werden soll. Weil das Thema so komplex ist und viele Lebensbereiche betrifft, braucht es ein System ausserhalb des bestehenden politischen Systems, das diesen Fragen nachgeht. Momentan denken wir in Silos – Landwirtschaft, Ernährung und Gesundheit. Wir brauchen aber einen ganzheitlichen Ansatz, der alles zusammendenkt.

 

Was ist eure Vision einer solidarischen und ökologischen Landwirtschaft?

Zu unserer Vision gehört eine soziale Produktion. Es kann nicht sein, dass unsere Lebensmittelproduktion auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht. Wenn wir nicht versuchen, in Einklang mit der Natur zu wirtschaften, werden wir nicht lange auf dieser Welt überleben können. Zudem stellen wir uns eine kleinbäuerliche Landwirtschaft vor – also viele kleinere Betriebe, die alle standortangepasst Verschiedenes produzieren. Dieser Wandel muss mit einem Pestizid-Ausstieg einhergehen. Deshalb lautet unser Motto: sozial, bäuerlich und agrar-ökologisch.

 

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